Hubert Schem

Verrückt in Bonn


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Ganzheitlichkeit oder: der Flickenteppich als Lebensmuster)

      Mehr als dreitausend Jahre haben die Philosophen nach "der Wahrheit" gesucht. - Sie haben sie nicht gefunden. Jeder noch so großartige philosophische Versuch, alle Phänomene des Seins, des Fühlens und des Denkens in einen sinnhaften Zusammenhang einzuordnen, ist schließlich gescheitert. Die "Wahrheit" des einen wurde durch die "Wahrheit" des anderen verdrängt. Oder verschiedene "Wahrheiten" blieben unvermittelt nebeneinander stehen. Die zeitgenössische Philosophie ist bescheiden geworden. Sie hat die Suche nach der Wahrheit im Sinne eines ganzheitlichen Gedankengebäudes (fast) aufgegeben. Indem sie aber das Wissen über all die kühnen oder schwerfälligen Konstruktionsversuche bewahrt, kritisch vergleicht und vorurteilsfrei vermittelt, erbringt sie eine zivilisatorische Leistung: Sie bietet jedem einzelnen die Möglichkeit an, sich aus der großartigen Vielfalt von Konstruktionen des spekulativen menschlichen Geistes Teile zu entnehmen und damit sein eigenes Erklärungsmuster - seine individuelle Wahrheit also - zusammenzusetzen.

      Im ersten Teil des Kurses soll den Hörerinnen und Hörern deutlich gemacht werden, dass der Verlust des Glaubens an d i e W a h r h e i t notwendig ist, um die unendliche Freiheit des Geistes zurückzugewinnen. In das Alltagsleben übertragen, fördert die konsequente Aufgabe des objektiven Wahrheitsanspruchs nicht nur die Toleranz, sondern führt auch zu größerer Gelassenheit. Und das Leben wird auf eine neue Weise spannend, wenn der einzelne Mensch sein individuelles Erklärungsmodell mit Versuch, Irrtum und immer wieder neuen Versuchen gestaltet.

      Im zweiten Teil des Kurses soll eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen versucht werden, das in unserer Zeit mit dem Schlagwort Esoterik umschrieben zu werden pflegt. Wo die Philosophie in weiser Selbstbeschränkung zurückgewichen ist, versucht die Esoterik Raum zu gewinnen. Zwar können auch in diesem Kurs die zahllosen Methoden der Sinnsuche nichtphilosophischer Art und die mit dem Anspruch der Ganzheitlichkeit angebotenen angeblichen Lebenshilfen nicht einmal ansatzweise behandelt werden. Jedoch soll dargestellt werden, worin die Faszination und die Problematik dieser "Angebote" besteht. Wo die philosophische Erkenntnis, dass das Leben gerade nicht "ganz" ist, sondern ein bunter Flickenteppich, den Menschen hilft, die unauflösliche Spannung zwischen dem Individuum und der Welt auszuhalten, bietet die Esoterik angeblich eine Auflösung der Spannung an. Kann die Spannung zwischen Individuum und Welt durch irrationale Vorgänge in der Art einer "Verschmelzung" aufgelöst werden oder muss jeder einzelne Mensch sie auf seine Weise bewusst aushalten und möglichst als Antrieb zu einer konstruktiven Lebensgestaltung benutzen?

      Im dritten Teil des Kurses sollen diese miteinander unvereinbaren Lebenshaltungen anhand konkreter Situationen beispielhaft dargestellt werden, wobei der Schwerpunkt auf dem Gebiete der intensivsten zwischenmenschlichen Beziehungen (Freundschaft, Liebe, Sexualität) liegen wird. Die Interessenten an dem Kurs sind aufgefordert, im dritten Teil in gesteigertem Maße durch vorbehaltslose Meinungsäußerungen und möglichst auch Mitteilung von Erfahrungen den Kurs mitzugestalten.

      Zum Abschluß soll versucht werden, mit einem in jeder Hinsicht unlimitierten öffentlichen Streitgespräch zwischen den Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern einerseits und interessierten Außenstehenden andererseits in Bonn über den Bereich der Volkshochschule hinaus einen dauerhaften Diskurs über zentrale Fragen des Menschseins in der heutigen Zeit zu eröffnen.

      Die Anmeldungen zu diesem Kurs überschritten bei weitem die höchstzulässige Teilnehmerzahl von dreißig, so dass zahlreiche Interessenten auf ein späteres Semester vertröstet werden mussten. Die sechs Teilnehmerinnen vom Stammtisch "die Konsequenten", zu deren siebten Mitglied Anita noch an jenem Abend ernannt worden war, nahmen geschlossen an dem Kurs teil und verschafften Anita von Anfang an das Echo, das jeder Dozent braucht wie das Baby die Muttermilch. Dabei beschränkte sich die Rolle der Stammtischschwestern im ersten Teil des Kurses hauptsächlich darauf, hartnäckig Fragen zu stellen. Die Mitglieder des Stammtisches zwangen Anita durch ihre Art des unbefangenen Fragens, ihre Fachkenntnisse in einem ihr ungewohnten Maße populär zu formulieren. Andere Kursteilnehmer erwiesen sich als philosophisch vorgebildet und forderten Anita ernsthaft fachlich heraus. So entstand von Anfang an ein Kursklima, das Anita als aufregend, anregend und gelegentlich sensationell empfand.

      Im zweiten Teil gab es - gerade mit Mitgliedern des Stammtisches - teilweise heftige Diskussionen. Nicht jede war bereit, ihre individuelle Methode des Mitschwimmens im Gegenwartsstrom radikal der Vernunft auszusetzen. Und doch gelang es Anita zu ihrer eigenen Verwunderung, jeden beginnenden Glaubensstreit so rechtzeitig in Einzelbestandteile aufzulösen, dass niemand sich verbittert in den Winkel der Unverstandenen zurückzog.

      Eine besondere Wendung erfuhr der Kurs durch die Taxifahrerin und - wie sie selbst sich zu bezeichnen pflegte - Lebensgestaltungskünstlerin Liesel Schmitz. Die Mitdreißigerin, deren Lebensmaxime und besonderes Temperament Anita vom Stammtisch her inzwischen zu kennen glaubte, hatte sich in den ersten acht von zwölf vorgesehenen Doppelstunden nicht mit Fragen oder Diskussionsbeiträgen beteiligt. Am vorletzten Kursabend gab sie plötzlich ihre Zurückhaltung auf und überrumpelte Anita und den ganzen Kurs mit dem Vorschlag, ein von ihr ausgewählter Kursteilnehmer möge sich zu Beginn ihren Fragen, dann den Fragen der anderen zweiundzwanzig Kursteilnehmerinnen und schließlich auch den Fragen der sechs anderen männlichen Kursteilnehmer stellen. Da niemand sofort widersprach, griff sie sich einen etwa fünfzigjährigen hageren Vollbartträger, der nicht nur durch seine sanften Augen und die versonnene Zärtlichkeit, mit der er immer wieder seine dicken Brillengläser zu putzen pflegte, aufgefallen war, sondern auch durch seine wohltemperierten und wohlformulierten Sätze, mit denen er die Diskussion gelegentlich in die ihm wichtige Richtung zu lenken verstanden hatte. Überraschenderweise sträubte er sich nicht im Geringsten, sondern schien sogar begierig, an dem Experiment aktiv teilzunehmen.

      Liesel Schmitz attackierte ihn mit ihrer ersten Frage frontal: "Liebe ist wie Arbeit. Arbeit ist wie Liebe. Was hältst du davon?"

      "Nichts - oder meinst du Sex statt Liebe?"

      "Aha, Sex ist dir also wie Arbeit. Oder Arbeit wie Sex?"

      "Mal so - mal so."

      "Aha!"

      "Was meinst du mit aha?"

      "Mit aha meine ich aha."

      "Aha!"

      "Ist das hier ein Kabarett? Komm schon, erzähl uns von deinem Intimleben im Ministerium. Wann befriedigt dich deine Arbeit restlos?"

      "Wenn die Lösung der Aufgabe nach meiner Einschätzung von großer Bedeutung ist, ich möglichst viele meiner Kenntnisse und Erfahrungen verwerten kann und ein tadelloses Ergebnis nach meinem immer im Hinterkopf mitlaufenden Zeitrechner in angemessener Zeit vorliegt."

      "So etwas gibt es in deinem Ministerium?"

      "Ja, hin und wieder."

      "Und wie hältst du es mit dem Vorspiel?"

      "Vorspiel? - Gut, meinetwegen: ich streiche eine Weile um die Arbeit herum, taste mich langsam heran, lasse mich immer wieder ablenken, mache zwischendurch unwichtige Sachen, finde vermeintliche Grundsatzfragen und vertiefe mich in Fachliteratur. Mein Vorspiel dauert meistens viel länger als das eigentliche Spiel."

      "Und hinterher? Wie lässt du deine Befriedigung ausklingen? Machst du ein Nickerchen auf dem Bürostuhl? Klopfst du dir selbst auf die Schulter? Trinkst du ein Glas Sekt oder einen Kognak? Beglückst du Kolleginnen und Kollegen mit deiner euphorischen Stimmung? Stürzt du dich gleich auf die nächste Aufgabe?"

      "Wenn ich Zeit habe, klopfe ich mir eine Weile symbolisch auf die Schulter, lese mein Produkt und male mir aus, welche Wirkungen es auf die verschiedenen Empfänger haben wird und träume womöglich von größeren Herausforderungen. Über kurz oder lang holt mich das graue Einerlei auf Normalgröße zurück."

      "Du bist verdammt ehrlich! - Wo siehst du den Unterschied zum Sex?"

      "Da fühle ich mich nicht so kompetent. Eher unteres Mittelmaß. Es bleibt meistens mehr Rest."

      "Rest?"

      "Du weißt schon, die Differenz zwischen Erwartung und Erfüllung."

      "Klingt schon schön