Hubert Schem

Verrückt in Bonn


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das übliche Fallenlassen aus der Hand. Ein unvertrautes Bild. Busch versuchte einige der Zeichen zu entziffern. Wie erwartet, konnte er kein System in der Lage der Stäbe und Stabteile erkennen. Ob das Spiel in dieser Umgestaltung mit dem Computer zu simulieren und genauer zu analysieren war? Ob der Mann aus dem Osten das schaffte? Eine Marotte oder eine wirkliche Chance? Nachdem er den Beutel wieder in seinem Schreibtisch verstaut hatte, verließ Busch gedankenverloren sein Zimmer und ging gewohnheitsmäßig die Treppen hinunter. Zwischen dem zweiten und dem ersten Stock, verzögerte er seinen Schritt. Im ersten Stock blieb er schließlich stehen, fuhr dann kurzentschlossen mit dem Aufzug wieder hinauf und holte das zerstückelte Mikadospiel aus seinem Schreibtisch. Diesmal benutzte er den Aufzug auch abwärts.

      6

      Anita Busch hatte es sich längst abgewöhnt, abends auf ihren Mann zu warten. Ihr Bitten und Drängen um Angabe eines Zeitrahmens oder um einen kurzen Anruf, wenn abzusehen war, dass er wesentlich später kommen werde, war wieder und wieder mit freundlicher Bestimmtheit von ihm zurückgewiesen worden. Ein Beamter in seiner Position könne diese Bedingung einfach nicht erfüllen. Ihre Erwartung und seine Ablehnung hatten sich jedoch im Laufe der Jahre nicht zu einem jener emotionslosen Rituale entwickelt, die es in langjährigen Ehen gibt. Im Gegenteil: Anita hatte bemerkt, wie sie die unerschütterliche Einstellung ihres Mannes zunehmend in einem Maße als kränkend empfand, das weit über den Anlass hinausging. Als sie sich schließlich eingestand, dass sie die Arbeitsteilung und die herausgebildeten Gewohnheiten in ihrer Ehe nicht mehr als vernünftig, als "der Natur der Sache" gemäß akzeptierte, dass vielmehr ein Gefühl der Beklemmung die Oberhand zu gewinnen drohte, hatte sie mit großer Energie ihren eigenen Tagesablauf weitgehend von dem ihres Mannes abgekoppelt, um sich aus dieser Art von Ehefalle zu befreien, bevor sie endgültig zuschnappte.

      Es war ihr gelungen, bei der Bonner Volkshochschule zwei Kurse zu platzieren, die inzwischen seit fünf Jahren in jedem Semester angeboten wurden. Als Dozentin bediente sie sich ihres Geburtsnamens Dreyer ohne Bindestrich-Zusatz. Vielleicht um das Wiedereintauchen in eine durch Ehe und Familie weggedrängte Sphäre auch äußerlich zu demonstrieren, vielleicht um Reibungen mit der Berufssphäre ihres Mannes zu vermeiden. Die Hörerzahl hatte zwar nie ihre hohen Erwartungen erfüllt, aber bisher in jedem Semester ausgereicht, um die Kurse bis zum Ende durchzuführen. Die von ihr vorgeschlagenen nüchternen Kursbezeichnungen - Einführung in die Philosophie I und II - waren genauso wie die kurzen unspektakulären Inhaltsangaben im Programmheft von der für den Fachbereich zuständigen hauptberuflichen VHS-Mitarbeiterin akzeptiert worden und Semester für Semester unverändert geblieben.

      Nach Abschluss des zweiten Kurses wurde Anita Dreyer regelmäßig von den Hörerinnen und Hörern bedrängt, zusätzliche Kurse zur Erweiterung und Vertiefung anzubieten. Sie hatte diesem Drängen stets widerstanden. Zum einen wollte sie ihre Freiheit nicht weiter durch regelmäßige Verpflichtungen einschränken. Hinzu kam - oder es war sogar ausschlaggebend für Anita -, dass sich ihre Einstellung zur Philosophie im Laufe ihres Studiums, der langjährigen Arbeit an ihrer Dissertation und an der dann aus familiären Gründen nicht beendeten Habilitationsschrift grundlegend geändert hatte. Beim Beginn des Studiums und in den ersten Semestern hatte sie geglaubt, durch systematisches Hören, Lesen und Nachdenken schließlich einen Wissens- und Bewusstseins stand zu erreichen, der ihr ein gehöriges Maß von Sicherheit garantierte. Sicherheit nicht nur bei der Einordnung von Phänomenen in der Landschaft des Geistes, sondern auch bei der Bewältigung von aktuellen Problemen des Individuums Anita Busch, geborene Dreyer - Problemen in Zeit und Raum mit ihrer konkreten sozialen Umwelt ebenso wie Problemen mit sich selbst. Etwa ab dem fünften Semester hatte sich jedoch ein vages Gefühl von Enttäuschung und Frustration eingeschlichen, das sich auch im Verlauf der weiteren zehn Semester nicht ganz verloren hatte. Obwohl sie andererseits zunehmend die geistige Erfahrung genoss, selbst komplizierteste und aberwitzige Gedankenkonstruktionen nachvollziehen und erklären zu können, ohne sich voll damit zu identifizieren, genügte ihr diese Art der Beschäftigung mit Philosophie nicht ein für allemal. Ihre alten Erwartungen und diffusen Sehnsüchte tauchten immer mal wieder in ihren Gefühlen und Gedanken auf. Schattenhafte Phantome, die wie vertriebene böse Geister nicht abließen, mit List und Tücke zu versuchen, sich wieder in ihrer alten Wohnstätte einzunisten: Totalerkenntnis, Endgültigkeit, Ausschließlichkeit, Ganzheitlichkeit, Wahrheit - Wörter, deren Anspruch sie im Laufe ihres Studiums von Semester zu Semester zunehmend als unerfüllbar und deshalb gefährlich erkannt zu haben glaubte, hatten ihre magische Wirkung nie ganz verloren. Und nun saßen da ihre Hörerinnen und Hörer und brachten ganz unbefangen gerade diese Erwartungen mit in den Hörsaal.

      Dass der innere Druck schließlich ein originelles und gleichermaßen heikles Ventil gefunden hatte, war für Anita ein Höhe- und Wendepunkt ihrer Dozententätigkeit gewesen. Und nicht nur das.

      Für das Wintersemester 1996/97 hatte sie ihrer Spartenleiterin einen Kurs angeboten, der vollkommen aus dem Rahmen des üblichen fiel. Seit ihrer Pubertätszeit hatte sie gelegentlich eine Neigung gespürt, "etwas ganz anderes" zu machen, zu provozieren, die Ordnung auf den Kopf zu stellen oder aller Welt zu verkünden, auch die modernen Kaiser seien so nackt wie einer nur nackt sein kann. Viele Jahre hatte sie diese Neigung erfolgreich unterdrückt, weil sie wusste, dass die von ihr vorrangig erwünschte Sicherheit in einer bürgerlichen Ehe und Familie radikal in Frage gestellt würde, wenn sie sich auch nur gedanklich dem Reiz zu solchen Provokationen aussetzte. Seitdem alle drei Kinder auswärts studierten und es ihr gelungen war, ihren bis dahin durch die altgewohnte Arbeitsteilung verwöhnten Ehemann auf eine neue Qualität des Familienlebens, wie sie das nannte, einzustellen, hatte die Stärke dieser Neigung jedoch wieder zugenommen. Sie war sich dieses Drängens bewusst, wenigstens einmal in aller Öffentlichkeit ohne Rücksicht auf die Folgen alles das auf den Punkt zu bringen, was sie als Ergebnis ihres philosophischen Denkens ansah, gab ihm aber zunächst nicht nach. Dass die Idee ausgerechnet an einem Stammtisch Gestalt angenommen hatte, gab dem Projekt nach ihrem Gefühl noch einen Schuss geistiger Anrüchigkeit.

      Während einer langweiligen Phase eines Dozentinnen-Stammtisches hatte Anita ihre Aufmerksamkeit einem Nachbartisch zugewandt, an dem eine Gruppe von Frauen in den mittleren bis gehobenen Jahren in einem beiläufigen, gelegentlich allerdings durch kollektive Heiterkeitsanfälle aufgemischten Tonfall ausschließlich Erfahrungen über den Umgang mit Männern auszutauschen schienen. Dieses wenig originelle Thema hätte Anita normalerweise nicht länger als zwei Minuten interessiert, wenn ihre Witterung nicht irgendeine besondere Qualität der Situation aufgenommen hätte. So hörte sie eine ganze Weile möglichst unauffällig hin. Es war nicht der Inhalt des Gesprächs, sondern die Kombination von Inhalt und Tonfall, die sie faszinierte. Die Witze, Anekdoten und Meinungsäußerungen über Männer wurden vorgetragen wie Mitteilungen über Einkaufserlebnisse auf dem Wochenmarkt. Die plötzlichen Heiterkeitsausbrüche dazu wirkten dann eigenartig dissonant - als ob ein unsichtbarer Dirigent den falschen Instrumenten das Einsatzzeichen gegeben hätte.

      Als eine etwa Sechzigjährige, die mit ihrem markanten Gesicht zurückhaltend aber eindrucksvoll zu spielen verstand, in die Ruhe nach dem Verebben eines dieser sporadischen Kollektivgelächter mit angenehmer Altstimme bemerkte, "ja, ja, die schlechtesten Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen", begann Anita Dreyer mit dem Gedanken zu spielen, auf irgendeine Weise Kontakt zu der benachbarten Frauengruppe aufzunehmen. Zufällig oder geplant - wer will das entscheiden! - traf sie die Bürger-Kennerin danach im Waschraum und sprach sie kurzentschlossen an. Das weitere lief wie lange vorprogrammiert. Mühelos wechselte sie von dem einen zum anderen Stammtisch, ohne ihre Kolleginnen zu verprellen. Herrlich locker beteiligte sie sich an dem Spontanspiel. In dieser Stimmung hatte sie plötzlich die Idee des ganz besonderen VHS-Kurses im Kopf. Und sie war noch nicht Zuhause angekommen, als sie bereits die Grundstrukturen entworfen hatte. Bei der Realisierung ihrer Idee erlebte Anita Dreyer ein neues Hochgefühl der Mühelosigkeit, obwohl es einige Klippen zu umschiffen galt. Die gefährlichste Klippe war die Kursbeschreibung im Programm der VHS. Es galt die heikle Balance zwischen dem an der VHS Üblichen und einer hintergründigen Attraktivität zu halten. Anita kalkulierte dabei die Intelligenz und den Toleranzrahmen ihrer Spartenleiterin genau richtig ein. Der von ihr vorgeschlagene Text ging trotz seiner ungewöhnlichen Länge unverändert in Druck.

      Dr. Anita Dreyer

      Vielfalt der Philosophie - Vielfalt