Hubert Schem

Verrückt in Bonn


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hinübersah, trafen sich ihre Blicke sofort wieder und hielten sich fest. Gleichzeitig ein vielsagendes Lächeln: freundlich, interessiert, verständnisvoll bis verschwörerisch, keine Spur einer spöttischen Beigabe. Es entging ihm nicht, dass er jetzt hellwach war – zum ersten Mal seit vielen Stunden – und dass er bereits beschlossen hatte, es nicht bei diesen Blickkontakten bewenden zu lassen. Bevor sein interner Computer ihm auch nur den Hauch einer Idee für sein weiteres Vorgehen geliefert hatte, veränderte sich die Situation in seinem Blickfeld: Die Frauen schoben ihre Stühle zurück, standen auf, nahmen ihre Handtaschen in den Griff und kamen die Terrassenstufen herunter. Seine Blickpartnerin war hinter den anderen verschwunden. In einen Anfall von Panik hielt Jürgen die Luft an und versuchte dann, ruhig einige tiefe Atemzüge zu machen.

      Als er sie wieder entdeckte, ging sie zwei Schritte hinter den drei anderen Frauen her und sah ihn wieder freundlich-interessiert an. Ihm fiel keine Strategie ein, ihr Fortgehen zu verhindern. Bevor er sich zwischen der blasierten Attitüde des klugen Verzichts und irgendeinem Trick mit hohem Lächerlichkeitsrisiko entscheiden konnte, stand sie plötzlich auf der anderen Seite seines Tisches und setzte sich wortlos ihm gegenüber. Wieder eine leichte Panik-Attacke, die er mit neutralem Gesichtsausdruck zu kaschieren suchte.

      "Sieht dieser Koloss nicht aus wie ein Golem für Bildungsbürger?" Ihre Stimme war nur leicht rheinisch getönt.

      Jürgen straffte sich innerlich und äußerlich und spielte den Ball zurück: „Welcher Golem, der elektronische Superintelligenzler auf dem Lehrstuhl in Krakau?"

      Nach kurzer Verblüffung lachte sie hell auf. "Nein, der eigenhändig aus Lehm gemachte stumme Gehilfe des aus Worms gekommenen Rabbi in Prag."

      "Der möge atomisiert auf dem Dachboden der Altneusynagoge ruhen."

      "Atomisiert? - Du hast wohl verpasst, dass er längst in neuer Gestalt auferstanden ist. Walle, walle manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe ... – Dank unseres Dichterzaren muss keine magische Formel mehr unter der Zunge des Golem liegen, wenn er leben soll. Er lebt weiter in den Köpfen von Millionen angebildeter Deutscher. Grobe Materie wurde reiner Geist."

      Dass sie ihn duzte, irritierte ihn nicht. In dieser spannend verrückten Situation waren bürgerliche Gewohnheiten belanglos. Inzwischen hatte der Pianist wieder mit Vivaldi begonnen, und Jürgen hatte seine behagliche Sicherheit zurückgewonnen. Seine Stimme war ruhig und fest: "Ich lasse dir deinen Besen des Zauberlehrlings. Mein Motto heißt: Schafft viele Golems in Bonn - Lem-Golems natürlich".

      "Du musst noch viel üben. Das klingt nicht gerade mitreißend. Und außerdem - Hände weg von meinem niedlichen Bonn!"

      Er fand keine Antwort darauf und schwieg. Als er plötzlich einen Impuls spürte, sich streng zur Ordnung zu rufen und sich so zu verhalten, wie es für einen zweiundsechzigjährigen Staatsangestellten in einer solchen Situation angemessen war, reagierte er etwas hastig: "Sie sind anscheinend eine Eingeborene. Können Sie mir ein preislich moderates kleines Hotel oder eine Privatpension empfehlen, wo man sich halbwegs wohlfühlt, mindestens für drei Tage, wahrscheinlich aber eher für einige Wochen?“ Staunend hörte er sich sprechen.

      "Da kommt nur meine eigene Pension in Frage. Schon beschlossen: Du logierst bei mir."

      Während ihm das Blut zu Kopf stieg, hoffte er wütend wegen des Verlustes seiner Sicherheit, sie möge es nicht bemerken.

      "Pension Petula - wer nie dort schlief, hat Bonn verschlafen!" Ihre jetzt raue und dunklere Stimme wollte er nicht als ein laszives Versprechen, sondern als dessen ironische Imitation verstehen. Trotzdem war er irritiert durch die Art, wie sie ihre Pension anpries. Er versuchte einen Schuss Ernüchterung in dieses Spiel zu bringen und hoffte gleichzeitig, dass es nichts fruchten werde: "Du betreibst also eine Privatpension und akquirierst auf diese Weise Gäste?"

      "Das klingt nach Spielverderberei. Ein ziemlich grobes Foul! Dafür bist du mir schadensersatzpflichtig."

      "Tut mir leid! Also einen Gespritzten?"

      "Einverstanden; aber dann müssen wir gehen. Ich lebe, lerne, arbeite und liebe auf der anderen Seite des Golem."

      "Wir müssen gehen?"

      "Wer denn sonst! Keine Angst, bei mir wird nicht gebissen, wer nicht gebissen werden will."

      Endlich ein Grund sitzenzubleiben, ohne sich pausenlos unterhalten zu müssen. Während er die Frau einige Sekunden ansah, bemühte er sich, seinen Augen jenen Ausdruck freundlichen aber unaufgeregten Interesses zu geben, den sie beim zufälligen Auftauchen einer alten Bekannten haben dürfen. Erst nachdem er keine kritischen Reaktionen von ihr bemerken konnte, erlaubte er seinen Augen weitere vorsichtige Erkundungen. Jürgen Rüthberg sah sich gerne selbst als einen Mann der Abstraktionen, der Ordnungsprinzipien, der logischen Verknüpfungen – als einen Juristen eben. Beine, Hintern, Bauch Busen, Gesicht - na gut, so etwas registriert man seit unvordenklichen Zeiten wohlgefällig oder mit stiller Kritik; aber das Ergebnis muss nicht differenziert mitgeteilt werden. Über eine pauschale Beurteilung war er nie hinausgekommen. Genaueres hielt er nicht für wünschenswert. Ebenso wenig wie er erklären konnte und wollte, warum ihn ein bestimmtes Kunstwerk beeindruckte, ein anderes kalt ließ. Absurd hätte er es gefunden, sich darum zu bemühen, den Grund dafür zu finden, warum ein Lächeln ihn in fast jeder Situation positiv berührte, welche Bewegungen der Gesichtsmuskeln ihn derartig ansprachen. Umso überraschter war er jetzt, als er bemerkte, wie er sich für einen etwaigen Gesprächspartner oder Briefempfänger abmühte. Gesamteindruck: stattlich aber kein bisschen matronenhaft, gepflegt aber nicht aufgedonnert, reif mit einer altersunabhängigen Jugendlichkeit. Einzelbewertung: Haare dicht und schlohweiß, etwas länger als ein Bubikopf, weder natürliche noch künstliche Locken. Ein Gesicht, das mit seiner auffallend großen, leicht höckerigen Nase und einigen Falten als ausgesprochen ernst oder gar streng bezeichnet werden könnte, wenn nicht dieser Schimmer von freundlich-ironischem Interesse alles Strenge überlagert hätte. Für die Augenfarbe fand er keinen eindeutigen Begriff. Ein helles Grau dominierte; aber es gab auch bräunliche Einsprengsel. Eine originelle Mischung. Ihr geblümtes Sommerkleid - vermutlich viel teurer als es auf den ersten Blick aussah - ließ jeder Einschätzung ihrer Körperformen einen weiten Spielraum. Er schloss jedoch aus ihren Schultern und Oberarmen - möglicherweise auch schlicht aus seinen Wunschphantasien -, dass sie einen sportlichen Oberkörper mit den berühmten kleinen festen Brüsten haben müsse. Begutachten konnte er im Einzelnen nur noch ihre nackten Füße in dünnen Sandalen, ihre Fesseln und ihre linke Wade. Alles andere entzog sich durch Tisch und Kleid seinen taxierenden Augen. Die Zehennägel waren nicht gefärbt und die Zehen auch im übrigen unauffällig, außer dass die großen Zehen ein wenig kürzer waren als die unmittelbar benachbarten. Fesseln und Wade zeigten sich als sportlich-stabil.

      Bevor er den Versuch anstellen konnte, aus den gesammelten Daten ihr ungefähres Alter zu schätzen hatte sie ihn wieder ertappt: "Spar dir die Mühe! Sechzig plus/minus fünf - genau wie du. Das muss dir genügen. Und ich warne dich vor schnellen Festlegungen; denn ich bin anders."

      "Anders als wer oder was?"

      "Anders als du denkst oder denken kannst."

      "Verzeihung, aber das meint doch fast jede".

      "Ah, eine Spezialität der Frauen, Herr Schürzenjäger?"

      "Jede und jeder oder meinetwegen jedermann, wenn das noch neutral ist."

      "Eröffne bitte keinen Nebenkriegsschauplatz! Ich bin anders. Das wirst du schon sehen."

      "Wann und wo?"

      "Wart' es nur ab!"

      Nachdem sie ihren Gespritzten hinuntergekippt hatten, stand sie sofort auf, lächelte ihn verschwörerisch an und schien zu zitieren: „Auf zur Pension Petula, wo unsres Staates Diener findet Ruh nach Frust und Hast. Und findet mehr, wenn er es fasst."

       2

      Nichts ließ von außen oder innen auf eine Privatpension schließen. An der Klingel verblasst der Name Schillingsteg. Die Innenaufteilung so unübersichtlich wie es sich für stattliche Altbauten gehört. In seinem anhaltenden Ausnahmezustand interessierte Jürgen sich nicht dafür,