Iris Schneider

Flucht in die Hoffnungslosigkeit


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einige Nächte. Fast immer um die gleiche Zeit. Sollte ich das Jugendamt informieren? Nein, ich wollte lieber selbst auf das Problem zugehen. Morgen habe ich frei und werde früh aufstehen und sie abfangen. Ich will es jetzt endlich wissen, dachte ich.

      Am nächsten Tag stand ich früher auf und ging leise runter zum gegenüberliegenden Marktplatz, der auf der anderen Straßenseite von den ersten Sonnenstrahlen erwärmt wurde. Es war Frühling und die ersten Vögel lieferten live ihr Straßenkonzert. Auch die Seitenbänke waren noch alle leer.

      Von einem Baum, der am Rande des Platzes stand, konnte ich die Fenster meiner kleinen Sorgenfamilie beobachten.

      Es tat sich aber nichts. Nein, es konnte sich ja auch nichts tun, weil es ja ein schöner, ruhiger Sonntagmorgen war.

      „Morgen Rolf…, schon auf?“, rief Willi mit ihrer rauchig, röhrenden Stimme über die Straße.

      Ich traf sie fast jeden Sonntag auf dem Platz. Sie war einst die Großschnäutzigste, aber Humorvollste Schornsteinfegerin, die ich kannte.

      Zzzzzz…, machte ich und versuchte mit einigen gestikulierenden Bewegungen ihr Temperament zu dämpfen. Ich ging zu ihr.

      „Die schlafen wohl noch alle um diese Zeit, wie?“, brummte Willi.

      „Kennst du die junge Frau, die bei uns vor kurzem erst im Haus eingezogen ist?“, fragte ich Willi.

      Na ja, nicht direkt. Die treffe ich öfter beim Bäcker. Sie kauft dem Kind immer ein Hörnchen. Warum willste denn das wissen?“

      „Ich höre die Kleine fast jede Nacht weinen und mache mir große Sorgen um sie. Ich möchte langsam wissen, was da los ist.“

      „Frage sie doch einfach. Dazu hast du ein Recht. Du bist doch der Nachbar. Also darfst du dich auch erkundigen.“

      „Sicherlich kann ich es aus meiner Sorge heraus tun. Genau, das werde ich jetzt auch machen!“

      „Sag mir, wie‘s gelaufen ist!“

      Willi ging mit ihrem Dackel weiter und nickte mir aufmunternd zu.

      Gut gelaunt klingelte ich an der Wohnungstüre in der unteren Etage. Schallende Stimmen aus leeren

      Räumen näherten sich, und jemand öffnete mir die Tür.

      „Guten Tag, sie sind bestimmt der… Kommen sie herein. Ich bin Toni und das ist meine Tochter Elena.“

      Während die junge Frau vor mir in die Küche ging, begutachtete ich das kleine, zierliche Mädchen und stellte fest, dass es nicht nach irgendeiner Misshandlung oder einem gequälten Geschöpf aussah. Aber sie hatte tiefe, dunkle Augenränder und das machte mich ein wenig stutzig.

      „Geht es euch sonst gut“, fragte ich interessiert.

      Vor mir stand eine hübsche um die Dreißigerin, mit einem zierlichen, kleinen Mädchen. In der kärglich eingerichteten Wohnung sprang mich direkt Hilflosigkeit an und in vier Augen las ich Mac Donald und italienische Pizza

      „Oh, ihr könnt ja gar nicht richtig kochen, ohne Herd“, wagte ich mich vorsichtig vor.

      „Aus diesem Grund habe ich ihnen nach einem Gespräch mit dem Hausmeister, einen Zettel in den Briefkasten geworfen“, sagte Frau Toni verschmitzt.

      „Ach ja, richtig. Ich hatte dem Hausmeister mal gesagt, wenn er meine Hilfe als Handwerker braucht, würde ich gern einspringen.“

      Wir guckten uns gemeinsam die kleine Baustelle in der Küche an und kamen ins Gespräch.

      „Wie lange dauert sowas denn?“

      „Nicht solange“, sagte ich ohne nachzudenken.

      „Ich hab Hunger Mama.“

      „Wir fahren gleich zu Oma, Elena.“

      „Woher kommen sie?“, fragte ich neugierig.

      „Ich will aber jetzt essen, Mama!“

      „Wir fahren gleich zur Omaaa, Elenaaa…!

      „Und sie?“

      Aus Düsseldorf.“

      „Da habe ich auch gewohnt. Ist schon länger her.

      In Tunesien wohnen wir auch.“

      „Elenaaaa…!“

      „Mamaaaa…, ich hab Huuuungeeeeer!“

      Beinahe duckte ich mich. Welch ein Organ war solch einem netten Geschöpf doch gegeben.

      Durchdringend, bis in die Zehenspitzen. Die Kleine drei Oktaven höher. Passte irgendwie zu ihr. Sie musste sich bestimmt durchsetzen…bei Muttern.

      „Auf meinem Herd habe ich noch Spagetti von gestern stehen. Brauch ich nur warm zu machen. Es reicht für uns drei.“

      „Jaaaa…, ich will Pagettiii.“

      „Elenaaaa….!“

      Während wir die Treppen zu meiner Wohnung hochgingen, stellten wir im Hausflur fest, dass wir beide dabei waren, uns eine neue Zukunft zu kreieren. Ich hatte die Schnauze voll, von Großstädtern, samt der Firma meines Bruders, in der ich immer nur der Copilot war, und Frau Toni hatte wieder einmal die Faxen dicke, von ihrem Tunesischen Noch Ehemann.

      Nervös schloss ich meine Wohnungstüre auf.

      „Oh sie rauchen?“

      „Riecht so danach, ja?“, grinste ich.

      Elena stürzte sich gleich auf die Holzelefanten, die auf meiner Fensterbank standen.

      „Elenaaaa, lass stehen!“

      Hastig holte ich Teller aus dem Schrank und das Besteck aus Muttchens Nachlass. Es wurde mir großzügig von meiner Schwester überlassen.

      „Reicht denn das für uns alle?“

      „Selbstverständlich, ist schon gleich fertig“, sagte ich rührend.

      Es reichte tatsächlich. Mein durchtrainiertes Gehirn für Mengenabschätzungen, für Meterwahren, Laminat- und Teppichböden funktionierte also doch noch.

      Quietschend drehten wir die Gabeln auf den Löffeln. Elena aß mit den Händen. Das klappte teilweise auch.

      „Elenaaa…!! „Lalalaaa…, guck mal Mamaaaa…die Nudln...

      Elena hatte während unserer Unterhaltung den Rest Spagetti überall hin verteilt. Sie klebten hier, sie klebten dort, nur kleben sie nicht auf ihrem Teller.

      „Oh Gott…, Elena!“

      „Lassen sie nur, sieht doch lustig aus. Das ist der Farbkasten- Effekt.“

      Elena sog die letzte Nudel durch den kleinen, spitz geformten Mund schmatzend in sich hinein.

      „Wenn sie mal Hilfe brauchen, klingeln sie bei mir ruhig an“, sagte ich.

      „Meine Oma wohnt im Neben- Ort, da haben wir es beide nicht so weit.“

      Außerdem haben wir ja ein Auto.“

      „Wenn sie meinen?“

      Mit drei Tomatigen-Teller-Gebilden und Rest-Nudeln, die an allen nur erdenklichen Ecken und Winkeln des Stuhls klebten, begann ich pfeifend und gut gelaunt den Spülvorgang Stufe eins, in meiner neu erworbenen, babyblauen Plastikschüssel.

      In den kommenden Tagen stand die kleine Elena immer öfter vor meiner Tür, wenn ich nachhause kam.

      „Du sollst Tee mit uns trinken kommen“, sagte Elena.

      In den darauffolgenden Tagen trank ich dann immer öfter einen Tee bei den Beiden. Und auch bei mir in der Wohnung intensivierte sich allmählich unser freundschaftliches Verhältnis.

      Inzwischen duzten wir uns und unser Zusammensein verband sich gelassen zu einer aufflammenden Liebe mit Erklärung.

      In den