ich, ohne viel auszupacken, sofort wieder in Richtung Innenstadt und finde schnell eine Tapas-Bar.
Beim Eintreten sieht sie mit den bunten Fliesen und den dunklen Barhockern noch ganz ansprechend aus. Mein Blick wandert durch den Raum. Auf dem Fußboden, direkt am Tresen, liegt alles voller Papierschnipsel - und was ist das andere? Ein Mann am Tresen schiebt sich eine Olive mit Hilfe eines Zahnstochers in den Mund und spukt den Kern auf den Boden. Olivenkerne - alles liegt voller Kerne! Ein Qualitätsmerkmal für die Bar, wie ich später erfahre, daran erkennt man eine Lokalität, die nicht nur Touristen, sondern auch viele Einheimische besuchen.
Mein Abendessen, ein Sandwich mit Rührei sowie einige Oliven kostet 3,20 Euro. Das Sandwich ist so groß, dass ich nach der Hälfte satt bin. Ich packe den Rest als Wegzehrung für den nächsten Tag ein.
Zurück im Hotel ziehe ich als Schlafanzugersatz meine lange Unterhose und das langärmeliges Unterziehshirt an. Beim Betrachten der Füße finde ich sogar schon die erste Blase am großen Zeh rechts. Lächelnd klebe ich ein kleines Blasenpflaster aus meiner Reiseapotheke darüber. Ist das nicht blöd, dass ich mich jetzt über eine Blase freue? Aber irgendwie bin ich zufrieden. Eine ist nicht schlimm - sie schmerzt schließlich kaum. Viel wichtiger finde ich, dass ich jetzt auf meinem persönlichen Jakobsweg bin.
Tag 2 - 26. März 2012: Burgos
Im Frühstücksraum ist es so kalt, dass ich rasch zwei Scheiben Brot in den Toaster schiebe und dann meine graue Fleecejacke aus dem Zimmer hole. Toast mit Marmelade, ein Glas Organgensaft, ein Joghurt, das ist heute mein Frühstück. Ich bin der einzige Gast. Auch in diesem Raum gibt es keine Fenster, ich vermute, es ist bewölkt - vielleicht kommt mir der Gedanke, weil es in dem Raum so dunkel ist. Es wird bald schon 10 Uhr.
Eine Stunde später breche ich auf. Draußen strahlt die Sonne am wolkenlosen Himmel. Ich tausche meine Brille gegen meine Sonnenbrille. Schnell stelle ich fest, dass der Jakobsweg direkt am Hotel Jacobeo vorbei läuft. Das hätte ich mir bei diesem Hotelnamen denken können! Der Weg ist gut ausgeschildert. Es gibt an den Häusern Kacheln mit der Jakobsmuschel und einem Pfeil darauf. Oft ist auch ein gelber Pfeil auf dem Weg oder an den Hauswänden aufgemalt. Jeder Schritt mit dem rechten Fuß schmerzt. Ich frage mich, ob ich das jetzt die ganzen fünfhundert Kilometer aushalten muss, schiebe den Gedanken aber wieder beiseite.
Um halb zwölf mache ich einen Stopp an der Kathedrale. Zwei Störche bauen auf einem der gotischen Türmchen ein Nest. Ich höre sie klappern. Vor der Kathedrale steht ein kleiner Informationscontainer. Dort hole ich mir den allerersten Stempel für meinen Pilgerpass und betrachte diesen mit Stolz. Den Pass habe ich mir übers Internet von der Sankt-Jakobus Gesellschaft in Würzburg bestellt. Er ist quasi meine Eintrittskarte in die Pilgerherbergen. Außerdem soll er mit mindestens einem Stempel pro Tag dokumentieren, dass ich tatsächlich die gesamte Strecke zu Fuß gegangen bin.
Als Pilger kostet der Eintritt für die Besichtigung der Kathedrale zwei Euro. Beim Verlassen des Containers entnehme ich dem Schild „no aseos“, dass es dort keine Toiletten gibt. Das hätte ich ohnehin nicht vermutet. Bei der Besichtigung überfällt mich allerdings bald ein dringendes Bedürfnis, weshalb dieser kulturelle Programmpunkt etwas kurz gerät.
Nach dem Toilettenbesuch studiere ich die Auslagen des Souvenirshops. Ein gelber Pfeil als Kettenanhänger gefällt mir besonders gut. Ach da kommen ja noch hunderte Souvenirläden, denke ich und verlasse den Laden wieder.
Zum Mittagessen kaufe ich mir zwei Kilometer weiter in einem Supermarkt Brot, ein Säckchen Mini-Babybels, eine Packung Cherrytomaten, eine Dose Limonade und Frischkäse, der wie diese Stadt „Burgos“ heißt. Ich setze mich einige hundert Meter weiter auf die Wiese an einem kleinen Fluss auf meine blaue Sitzunterlage und streiche mir den Frischkäse mit meinem Taschenmesser aufs Brot. Auch von den kleinen Käsestücken genehmige ich mir zwei.
Ein Dackel kommt angelaufen, er drängt mit seiner Schnauze zu meiner Frischkäsepackung hin, die ich eilig wieder einpacke. Ich drehe mich um. Sein Herrchen sitzt auf einer Treppe und sieht zu. Erst als der Hund ohnehin schon von selbst wegläuft, pfeift er ihn heran.
Auf der anderen Seite der Wiese sehe ich etwas, was ich nur Männerspielplatz nennen kann. Viele Sportgeräte, Reckstangen, Vorrichtungen zum Bauchmuskeltraining und Kreisel stehen auf dem Rasen. Einige ältere Herren, sitzen entweder auf der Bank oder machen Übungen. Einer winkt mich heran. Ich zögere etwas, denke aber an mein neues Motto. „Zeit zu tun, wozu ich Lust habe.“ Ich könnte den Jakobsweg auch nutzen, um meine Schüchternheit zu überwinden. Ich steige zu ihm auf eine Konstruktion, die man am ehesten als Wippe bezeichnen kann. Wir sitzen uns gegenüber, es geht darum, den Körper seitwärts zu neigen, sodass das Gerät pendelt. Nach einigen Minuten verabschiede ich mich mit einem lächelnden Nicken.
Schwungvoll gehe ich weiter. An mehreren Straßenkreuzungen laufe ich geradeaus, ohne einen Wegweiser zu entdecken und steige die hohen Bordsteine runter und wieder hoch.
Schnell befürchte ich allerdings, dass ich vom Jakobsweg abgekommen bin. Eine viertel Stunde irre ich nervös durch die Stadt, halte vergebens nach gelben Pfeilen Ausschau, bis ich auf zwei freundliche Passanten treffe. Der Rucksack lässt sie mich eindeutig als Pilgerin identifizieren, weshalb die beiden mir ungefragt den Weg weisen.
Zurück auf dem Camino laufe ich am Universitätscampus entlang, die Stadt ist immer dünner besiedelt, stattdessen säumen Bäume die Straße. Einige Jogger kommen mir entgegen, aber keinem einzigen Pilger bin ich bisher begegnet. Ein Geistlicher in schwarzem Gewand überquert vor mir die Straße. „Buen Camino“, grüßt er. Das bedeutet so viel wie „Guten Pilgerweg“. Ich wiederhole den Gruß und freue mich, dass ich mit dieser besonderen Formel nun zum ersten Mal angeredet werde.
Gegen 14 Uhr verlasse ich auch die letzten Ausläufer von Burgos. Ein Stück des Weges führt parallel an einer Autobahn vorbei. Ich stelle mir vor, dass dort wie in Deutschland üblich ein braunes Hinweisschild mit der Abbildung eines Weges und der Aufschrift „Kulturhistorischer Pilgerweg: Camino de Santiago“ steht. In meiner Fantasie sagt eine Beifahrerin zum Fahrer, als sie mich sehen: „Guck mal, da läuft sogar eine!“
Daneben wird eine Straße neu gebaut. Kurz stoppe ich, um meine Jacke zusammengerollt hinter die Verschlusslasche meines Rucksacks zu stopfen. Ein Bauarbeiter überquert vor mir die staubige Schotterpiste. Plötzlich ist er vor einem LKW verschwunden, ich sehe eine riesige Sandwolke, die anfängt, sich zu bewegen - eine Windhose. Mit meinen Augen verfolge ich den Miniwirbelsturm bestimmt fünfzig Meter, bis er sich auflöst. Der Bauarbeiter ist auch weg. Ich kann ihn zumindest nirgends mehr entdecken. Ich glaube nicht wirklich, dass ihn die Windhose aufgesogen hat, aber das Ganze hat etwas Mysteriöses.
Eineinhalb Stunden später mache ich Rast im Schatten einer Autobahnbrücke. Dort hat ein Pilger seinen Lacoste-Pullover und seine rote Regenjacke vergessen oder kurzzeitig deponiert. Vielleicht war ihm auch sein Gepäck zu schwer.
Als ich weiter wandere, bemerke ich, dass sich mein Rucksack nach den mittlerweile acht Kilometern auch schwerer anfühlt. Kurz setze ich ihn ab und kreise mit den Schultern.
Einen halben Kilometer vor Tardajos, der nächsten Ortschaft nach Burgos, holen mich auf einem von Bäumen flankierten Feld zwei Pilger ein. Anja, eine große, sonnengebräunte, blonde Frau mit Kurzhaarschnitt und ihr Mann Michael kommen aus Dänemark, sie sind vor einer Woche in Pamplona gestartet.
„Ihr seid die ersten Pilger die ich auf dem Jakobsweg treffe“, stelle ich auf Englisch fest.
Sie erzählen von einem Mann aus Rumänien, den sie kürzlich trafen, und der auf einer Nebenstrecke des Jakobsweges fünf Tage lang keinen anderen Pilger traf, bis er überglücklich den beiden begegnete. Ich bin auch froh, so nette Bekanntschaft zu machen. Michael und Anja wollen heute ebenfalls nur bis Tardajos und schmunzeln, als ich berichte, dass ich heute in Burgos gestartet bin. Alles in allem bin ich elf Kilometer gelaufen. Mittlerweile ist es auch schon 17 Uhr.
In Tardajos folgen wir einem auf den Asphalt gemalten gelben Pfeil mit dem Wort „Albergue“- Herberge, bis wir vor einem roten zweistöckigem Häuschen stehen. Das ist ja einfach zu finden, stelle ich erleichtert fest.
Die