Meike Scharff

Laufet, so werdet ihr finden


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ist einer kurzen Unterhaltung trotz aller Sprachbarrieren nicht abgeneigt. Ich genieße die männliche Aufmerksamkeit, die mir diesmal zweifelsfrei väterlicher Natur zu sein scheint.

      Gegen 20 Uhr wähle ich in einem Restaurant aus einer Speisekarte mit vielen Fotografien eine Gemüsepaella. Vermutlich handelt es sich um Tiefkühlkost. Sie schmeckt in etwa so, wie die Reis-Gemüse-Pfanne aus meinem Bio-Supermarkt. Ich hole einige aus dem Zeit-Magazin herausgerissene Blätter hervor und lese die Seite mit dem Interview des Harry-Potter-Darstellers Daniel Radcliffe, der über seinen Ruhm zu trinken begonnen hat. Ich staune, wie lange meine Loseblattsammlung vorhält. Zu Hause lese ich viel, hier komme ich kaum dazu. Für das Interview mit Wolfgang Niedecken, dem Sänger von BAP, der kürzlich einen Gehirnschlag erlitten hat, habe ich die letzten drei Tage gebraucht.

      Gegen 21 Uhr kehre ich in mein Zimmer zurück und freue mich darauf, früh ins Bett zu gehen. Beim Auspacken stelle ich jedoch fest, dass meine lange Unterhose, die ich als Schlafanzughose und als Unterziehhose benutze, weg ist. Ich erinnere mich daran, dass ich sie bei der Schnellumziehaktion heute Vormittag auf eine Mauer gelegt habe. Das ist hier in der Stadt gewesen, also sause ich mit meiner Taschenlampe dorthin. Leider liegt sie dort nicht mehr. Von wegen „auf dem Camino geht nichts verloren“! Wo finde ich hier Ersatz? Angeblich bekommt der Pilger ja alles, was er braucht. Soll ich darauf vertrauen? Ich beschließe, optimistisch zu sein. Eine andere Wahl bleibt mir ohnehin nicht. Diese Nacht schlafe ich in meiner Wanderhose.

       Tag 5 - 29. März 2012: Castrojeriz

      Beim Aufwachen bin ich zuversichtlich, dass ich heute eine Ersatzhose bekomme - ich werde nochmal den Herren in seinem Pilgereibedarfladen besuchen. Mein Magen knurrt. Heute soll der Generalstreik sein, wer weiß, ob ich unterwegs überhaupt eine Mahlzeit bekomme. Ich begebe mich in den Frühstücksraum und freue mich, an Tisch und Stuhl statt wie gestern am Tresen essen zu können. Das in meinen Augen üppige Frühstück besteht aus den üblichen getoasteten Baguettescheiben, zwei Sorten Marmelade, einem Joghurt und einem Glas Organgensaft. Dazu trinke ich einen Pfefferminztee. Dann fällt mir auf, dass ich dieselbe Zusammenstellung am ersten Tag noch als karg bezeichnet habe. Drei Tage ist das her - so schnell habe ich mich umgewöhnt!

      Durch die Eingangstür tritt ein älterer Mann mit einem weißen Bart und langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren. Sein Gepäck besteht nur aus einem kleinen Stoffbeutel, den er diagonal über die Schulter trägt. Der Wirt begrüßt ihn freundlich und serviert ihm einen Kaffee. Ich halte kurz beim Essen inne – das muss einer der sogenannten Dauerpilger sein. John hatte mir erzählt, dass es Menschen gibt, die der Jakobsweg nicht mehr loslässt, sodass sie ihn permanent rauf und wieder runter laufen. Vielleicht hat er selber, der sich als Jakobsweg-süchtig bezeichnet, die Befürchtung, so zu werden. In Hape Kerkelings Buch kommen diese Menschen auch vor. Hape sieht sie aber weniger romantisch – er nennt sie Bettler.

      Nach dem Frühstück besuche ich erst mal ohne Gepäck den kleinen Laden. Der ältere Herr umarmt mich zur Begrüßung. Erfreut, aber nicht überrascht, erwidere ich die Umarmung. Da alle Pilger immer nur vorbeiziehen, ist es in diesem Jahr bestimmt das erste Mal, dass eine Nicht-Einheimische ihn nun schon zum fünften Mal besucht. Ohnehin beginnt die Pilgersaison gerade erst. Hochsaison ist erst im Mai. Ich zeige auf meine Hose, worauf er mir sein Sortiment an Wanderhosen präsentiert. Eine lange Unterhose oder Leggings hat er nicht im Programm. Dann nehme ich eben eine Wanderhose als Schlafanzughose - vielleicht kann ich die noch mal anderweitig verwenden. Beim Bezahlen schenkt er mir eine Anstecknadel von Castrojeriz.

      Zurück im Hostal packe ich meine Sachen ein, begleiche meine Zimmerrechnung und mache mich auf den Weg. Es ist heute wieder heiß - der Lehmpfad geht steil bergauf. Mich überholt ein Strom von Pilgern. Ich zähle sie nicht, aber es scheint eine ganze Herberge voll zu sein. Wahrscheinlich sind sie ein oder zwei Orte vor mir gestartet.

      Bald wird mein Wasser knapp - hoffentlich kann ich meine Flaschen in absehbarer Zeit wieder auffüllen! Ich habe immer mindestens einen Liter Wasser dabei. Noch mehr Sorgen machen mir die Schmerzen im linken Unterschenkel. Wegen der Blasen habe ich gestern den linken Fuß wohl etwas schief aufgesetzt, jetzt scheinen die Bänder überreizt zu sein. Hoffentlich wird es keine Sehnenscheidenentzündung!

      Ich wandere weiter auf dem Pfad inmitten all der Felder. Wird der Generalstreik Auswirkungen für mich haben? Mein Leben kommt mir hier so einfach und unabhängig vor, dass mir das vollkommen unwahrscheinlich scheint. Nur ich und die Natur auf dem langen Weg, wer soll da streiken, etwa das Gras beim Wachsen?

      Um kurz nach eins komme ich endlich an eine Quelle, fülle meine mittlerweile leeren Wasserflaschen wieder auf und raste. Auf den Bänken liegen Werbeflyer für eine Herberge im nächsten Ort.

      Das einzige Buch, das ich neben dem Wanderführer dabei habe, ist Goethes Faust. Eine wohl überlegte Wahl, denn das Reclam-Heft wiegt kaum etwas, trotzdem ist es im anderen Sinne des Wortes so schwer, dass es Lesestoff für mehr als eine Woche bietet. Ich kann von meiner Bank an der Quelle etwa einen halben Kilometer des zurückliegenden Caminos überblicken – es kommt kein einziger Mensch. Das ist jetzt doch mal die Gelegenheit, mir als Unterhaltung den Text selber vorzulesen. Also lese ich wohlbetont den gesamten Eingangstext:

      „Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; ein Werdender wird immer dankbar sein...“ Ich merke, wie glücklich es mich gerade macht, noch nicht „fertig“ zu sein. Was wird wohl aus mir? Wie verändert mich der Pilgerweg?

      Nach der Pause schmerzt mein Unterschenkel leider noch mehr. Ich hole meinen Teleskopwanderstock aus dem Rucksack, den ich bisher noch nicht verwendet habe und versuche, ihn so einzusetzen, dass er das Bein entlastet. Nach kurzer Zeit schmerzt auch mein linker Arm von dem ungewohnten Aufstützen. Ich schleiche regelrecht. Als ich eine gemauerte Brücke überquere, überholen mich drei Pilger nacheinander freundlich grüßend. Mir ist mein Schneckentempo unangenehm, aber ich weiß nicht, wie sie mir helfen könnten. Auf einem Schild lese ich, dass Itero de la Vega nur noch zwei Kilometer entfernt liegt. Für diese Strecke brauche ich anschließend jedoch fast eine Stunde.

      Im Ort muss ich unter Schmerzen mehrere Runden drehen, um eine der dortigen Unterkünfte zu finden. Schließlich komme ich an eine private Herberge. Ich erkenne sie als die Herberge von den Werbezetteln. Am Zaun hängt ein gedrucktes Plakat mit vielen zusätzlichen handschriftlichen Bemerkungen. Ich trete durch die Pforte in den Hof. Draußen sitzen zwei Frauen mittleren Alters. Nachdem ich erst nicht verstehe, was sie mir mitteilen wollen, sagt dann eine der beiden „closed“. Also doch der Generalstreik. Bei dem Plakat handelt es sich vermutlich um den Streikaufruf. Ich hoffe sehr, dass die zweite Herberge im Ort geöffnet hat. Was tue ich, wenn hier alles geschlossen ist? Ich kann unter keinen Umständen noch einen Kilometer weiter gehen!

      Hinter der Kirche finde ich dann die städtische Herberge. Ich trete ein, niemand befindet sich in dem Zimmer, nach kurzem Zögern belege ich eines der Betten. In dieser Albergue gibt es zwölf einfache Betten, zwei Toiletten, eine Dusche und eine Küche, die über den Hof zu erreichen ist. Möglicherweise wird die Herberge noch sehr voll, weil die andere geschlossen hat, überlege ich.

      Einen Moment später treffen zwei Franzosen ein und suchen sich ihre Betten aus. Sie berichten, dass sie heute dreißig Kilometer gegangen seien und stöhnen über die Hitze. Ich staune, wie man solch eine Distanz an einem Tag bewältigen kann.

      Meine Wanderstiefel ziehe ich jetzt endlich aus, schlüpfe in die Badelatschen und mache mich auf in Richtung des Cafés am Ortseingang. Ohne feste Schuhe kann ich deutlich befreiter laufen. Trotzdem komme ich nur langsam voran und frage mich, ob ich sichtbar humple. Vor dem Café setze ich mich auf einen Plastikstuhl und halte meine Füße in die Sonne. Ich kaufe mir eine Flasche Wasser und ein Stück Kuchen.

      Nach einer Weile höre ich ein Fiepen - ich sehe auf und erblicke einen Pilger, der einen Tropenhut mit Moskitonetz auf seinem Kopf trägt. Hinter sich zieht er eine bepackte Sackkarre. Wieder höre ich diesen durchdringenden Laut. Ich gucke genauer auf seine Karre, dort befindet sich zwischen alle den Taschen und Beuteln ein Hohlraum, in dem eine kläglich miauende Katze sitzt. Wie kann man denn einer Katze so eine lange Reise antun? Ich hoffe, er macht diesen Blödsinn nicht nur, um anschließend ein Buch darüber zu schreiben. Ich habe mal von