mir einen Zettel mit der Nummer 16. Der Gang zu den Schlafräumen führt über den Kreuzgang und einen kleinen Innenhof voller Wäscheleinen.
Die Nummer 16 ist das obere Bett eines Doppelstockbettes, was mir ein bisschen Sorgen macht, denn diese Betten haben keine Leiter, stattdessen steht ein Stuhl als Aufstiegshilfe daneben. Außerdem fehlt ein Geländer, das mich vor einem Absturz in die Tiefe schützt. Bisher habe ich mir mein Bett immer selber aussuchen können. Soll ich fragen, ob ich tauschen darf? Ich schiebe meine Bedenken zur Seite und beschließe, erst einmal meine Kleidung zu säubern.
Im Innenhof befinden sich zwei Waschtröge, den durchgeweichten Socken darinnen lege ich mit spitzen Fingern beiseite. Mit Rei in der Tube schrubbe ich meine Unterhose und Socken, dann spüle ich heute auch mein Hemd, Unterhemd sowie meine Wanderhose aus.
Nachdem ich die Wäsche aufgehängt habe, verschwinde ich in den winzigen Duschraum. Vorsichtig gebe ich darauf Acht, dass meine Wechselkleidung an dem Haken dreißig Zentimeter neben mir trocken bleibt. Nach der Dusche trockne ich mich mit meinem kleinen Trekking-Handtuch ab und schlüpfe in Zweithose sowie Zweitbluse.
Endlich wieder sauber betrachte ich meine Füße. Unter der linken Hacke sitzt eine riesige Blase. Kein Wunder, dass der Fuß weh tut. Obwohl mir davon abgeraten wurde, pikse ich die Blase auf und klebe ein Pflaster drüber, in der Hoffnung, dass sie so weniger drückt.
Anschließend schlendere ich in das kleine Museum, das sich auf dem Klostergelände befindet. Dort sind Skulpturen und Ornamente ausgestellt. Die Innentemperatur passt zu den Steinbildhauereien. Zügig durchquere ich die kalten Räume. In einem entdecke ich verschiedene Weihnachtskrippen. Ich versuche, die deutschen Krippen darunter zu identifizieren.
Kultur mag wichtig sein, außerdem bringt das Wandern wenig Abwechslung – trotzdem weckt nichts mein Interesse. Nach etwa zwanzig Minuten verlasse ich das Kloster mit kalten Füßen.
Um mich wieder aufzuwärmen, schlage ich den Weg ins Stadtzentrum ein. Ich komme an zwei Kirchen und mehreren kleinen Läden vorbei, sogar einen Supermarkt gibt es hier. Ich freue mich, wieder den Abend in einer Kleinstadt verbringen zu können, darf ich doch hoffen, dass ich hier etwas Leckeres zum Abendessen finde. Als Vegetarierin schränkt sich die Auswahl ein – insbesondere in Spanien ist diese Ernährungsform eher selten.
Am Ufer des Flusses Río Carrión entdecke ich einen Campingplatz. Ich studiere das Tagesmenü im Campingrestaurant, da ich nichts verstehe, bleibt unklar, ob es etwas Vegetarisches gibt.
Am Fluss versuchen einige Angler ihr Glück. Ich trödle ein bisschen und setze mich auf eine Schaukel. Schließlich schlendere ich in das Zentrum zurück zu einem Imbiss. Warmes Essen wird hier erst ab 20:30 Uhr zubereitet - so warte ich ein bisschen, bis ich meine Bestellung bestehend aus Salat und Pommes Frites aufgeben kann.
Zurück in der Herberge, sind alle Betten im Raum belegt. Ich komme mit Tanja, einer Schülerin aus Süddeutschland ins Gespräch. Sie will es in den Osterferien bis nach Santiago schaffen. Glücklicherweise bleibt mir deutlich mehr als vierzehn Tage Zeit.
„Wo warst du denn gestern?“, will ich wissen und erfahre, dass Tanja heute erst angereist und in den letzten Osterferien bis eben diesem Kloster gepilgert ist.
In dem Bett unter mir liegt Maria, eine korpulente Spanierin Mitte Zwanzig. Sie bietet mir ihren Fön an - ich zeige ihr stolz meinen. Nicht jeder Pilger schleppt einen Haartrockner mit!
Aus Langeweile lege ich mich um halb zehn schlafen. Es ist auch hier kalt - ich stecke die Arme in den Schlafsack, bei jedem Umdrehen hole ich sie wieder hervor, um zu erfühlen, wie weit mein Körper vom Bettrand entfernt ist. Mit Geländer würde ich mich deutlich sicherer fühlen. Ich durchlebe eine sehr unruhige Nacht mit nur kurzen Schlafphasen.
Auf einmal knackt die Heizung laut - Maria unter mir schreit. Na, die stellt sich aber an!
Tag 8 - 1. April 2012: Carrión de los Condes
Es ist Sonntag. Gegen 6 Uhr wache ich auf und will einen Schluck aus meiner Wasserflasche nehmen, die ich in die Ritze zwischen Bett und Wand gelegt habe, finde die Flasche aber nicht. Blitzartig wird mir klar, dass das Knacken heute Nacht nicht die Heizung gewesen ist, sondern die Flasche aus meinem Bett auf Marias Matratze gefallen ist oder sie womöglich getroffen hat. Das erklärt den Schrei. Obwohl mir diese Geschichte peinlich ist, fange ich an zu kichern. Ich kann mich gar nicht mehr einkriegen, gleichzeitig finde ich mich selber unmöglich. Ich tauche mit dem Kopf in den Schlafsack und halte die Hand vor dem Mund, um die anderen nicht zu wecken.
Um 7 Uhr kommt ein Mönch, zumindest vermute ich das, denn so schnell wie er „Buenos días!“ ruft, das Licht anknipst und wieder verschwindet, kann ich gar nicht den Kopf heben. Tanja räumt geübt ihre Sachen innerhalb von Minuten. Maria reicht mir meine Wasserflasche, worauf ich mich entschuldige. Sie tut so, als wäre das nicht weiter schlimm gewesen. Pünktlich um 8 Uhr verlasse auch ich die Herberge, kurze Zeit später frühstücke ich mit Maria in einer kleinen Bar. Dort sitzen einige Männer vor ihren Whiskygläsern, offenbar geht die Saturday night hier direkt in das Frühstück über. Der Fernseher läuft sehr laut. Ich mache mich nach dem Essen ohne Maria auf den Weg, leider bereitet mir das Auftreten mit dem linken Fuß wieder Schmerzen - es ist wohl ein Fehler gewesen, die Blasen anzupiken.
Vor mir liegt eine der anspruchsvollsten Strecken des Caminos: Siebzehn Kilometer lang werde ich keinen einzigen Ort passieren. Das Wetter ist umgeschlagen, es ist nun bewölkt und sehr windig. Mich beunruhigt die Überlegung, dass ich wegen meines Fußes nicht rechtzeitig in Santiago ankommen könnte. Ich rechne aus, dass ich fünfzehn Kilometer pro Tag schaffen muss. Einen Tag werde ich anschließend brauchen, um von Santiago nach Bilbao zu fahren, wo mein Rückflug startet. Verrückt, da denke ich jetzt an den Rückflug, dabei ist er noch einen Monat hin! Mein Motto: „Ich habe alle Zeit der Welt“ kommt mir wieder in den Sinn.
Um halb elf habe ich sieben Kilometer geschafft. In einer Pause auf einem kleinen Rastplatz ziehe ich fröstelnd meinen Fleece an und die Windjacke wieder drüber. Während ich Brot mit dem Rest Käse von vorgestern esse, trifft Maria ein. Sie schimpft über das Wetter, ich bin eher erleichtert, dass die Sonne nicht scheint, denn die lange Strecke vor mir bietet laut meinem Pilgerführer keinen Schatten. Maria startet vor mir, ich ruhe mich noch sitzend an einen Baum gelehnt etwas aus.
Die restlichen zehn Kilometer führen schnurgeradeaus, rechts und links liegen Getreidefelder, hin und wieder steht ein einzelner Baum am Wegesrand. Mich überholen von Zeit zu Zeit Pilger, unter ihnen eine joggende Frau. Ihr Rucksack hüpft auf und ab – sie bewegt sich nur wenig schneller als ich. Damit die Zeit schneller vorbei geht, rezitiere ich im Geist einige hundert Male mein Gebet. Damit es flüssiger und rhythmischer klingt, formuliere ich es mehrmals um.
Wo du mich haben willst, da führ mich hin.
Sorg dafür, dass ich dir nicht im Weg bin,
Menschen die ich treffen soll, die zeige mir.
Worte, die ich sprechen soll, die sage mir.
Das Gebet hat auf mich einen ähnlichen Effekt wie ein Reinigungsmantra. Mein Kopf ist vollkommen leer, die Schmerzen am Fuß spüre ich kaum noch – mühelos erreiche ich Calzadilla de la Cueza. Wie kann das sein? Ich bin total überrascht. Dies sollte eine der schwierigsten Strecken sein, stattdessen ist es eine der leichtesten gewesen. Zehn Kilometer bin ich mal so eben ohne Pause gegangen. Lag es an dem Gebet?
Nach insgesamt siebzehn Kilometern heute brauche ich nicht mal eine Pause, verordne mir gleichwohl aber eine Stunde Ruhe in einer Bar. Dort steht ein Computer mit Internetzugang. Singen unterwegs wäre schön – am besten etwas Lustiges. Ich höre auf YouTube einige deutsche Songs und notiere mir den Text von Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“ sowie Ottos „Schwamm drüber Blues“. Den ersten Song habe ich Thomas bei unserem Warnemünde-Urlaub vorgespielt, nachdem wir dort den Sanddorn entdeckt haben, der in Nina Hagens Lied so hoch am Ostseestrand steht und wie alle anderen Dinge von Nina leider nur in Schwarz-Weiß fotografiert wird. Den zweiten hat ein Kollege häufiger in unseren Betriebsratssitzungen angestimmt, irgendwie passt er zu meinem Vorsatz, die ganze Episode