ein Badezimmer mit je zwei durch einen kleinen Schieber verriegelbaren Duschkabinen und zwei Toiletten. Im Badezimmer stehen Putzmittel. Es wirkt auf mich sehr sauber und ordentlich. Als erstes dusche ich und frage mich dann, was ein Pilger mit dem Rest des Tages anstellt.
Die Sonne scheint noch immer. Mit meinem Tagebuch setze ich mich vor der Herberge an einen großen Holztisch mit zwei Bänken. Anja und Michael setzen sich dazu. Kurze Zeit später treffen John und Tom ein, Vater und Sohn aus Leeds. Ich freue mich, weitere Pilger kennen zu lernen. John packt eine Packung Zigaretten aus und beide beginnen zu rauchen. John bezeichnet sich als Jakobsweg-süchtig. Er sei den ganzen Weg schon drei Mal gegangen und wolle davon jetzt los kommen, aber einmal müsse es jetzt noch sein, denn er wolle seinem Sohn den Camino zeigen. Tom geht aufs College, vom Aussehen hätte ich ihn jünger, etwa auf fünfzehn geschätzt.
Kurz darauf stoßen Dagmar und Kirsten aus Österreich zu uns. Michael und Anja begrüßen sie mit großem Hallo. Ich denke erst, die sind die letzten zweihundert Kilometer gemeinsam gegangen, erfahre aber, dass sich die vier erst am vorherigen Tag in einer Herberge kennen gelernt haben.
In einem Mix aus Deutsch und Englisch werde ich über die wesentlichen Prinzipien des Jakobweges unterrichtet.
„Es geht nichts verloren auf dem Camino“, behauptet Kirsten. „Gestern habe ich meine Kamera verloren. In der Herberge habe ich bemerkt, dass sie sich nicht mehr in meinem Rucksack befindet. Zuletzt hatte ich sie auf einem Rastplatz. Da ist der Herbergsvater extra mit mir hin gefahren, und genau, wo ich gesessen habe, lag der Fotoapparat.“
„Ich habe fünfzig Euro gefunden“, ergänzt Dagmar, „und sie dem Besitzer wieder zurückgegeben.“
Ich lache.
„Nein, wirklich!“, bekräftigt Dagmar, „der Schein lag mitten auf dem Weg, und der musste von jemanden direkt vor uns verloren worden sein, sonst hätte ihn jemand anderes aufgehoben. Ich habe beim nächsten Stopp die Brasilianerin vor uns eingeholt und gefragt Where do you have your money? Da hat sie bemerkt, dass ihr Fünfziger aus der hinteren Hosentasche verschwunden ist. Taaaraaa! habe ich gesagt und ihr den Schein zurückgegeben. Die hat sich vielleicht gefreut.“
Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile, ich genieße die Gesellschaft.
„Wollen wir abends in der Bar an der Straße essen gehen?“, fragt Kirsten auf Englisch, alle nicken. Eine Bar bezeichnet in Spanien eine Lokalität, in der es kleine Imbisse und Getränke gibt. Meist hat sie vom Frühstück bis zum späten Abend geöffnet.
Um kurz vor acht stehen wir tatsächlich allesamt in der einzigen Kneipe von Tardajos. Abendessen gibt es noch nicht, so erfahren wir, erst ab 20:30 Uhr. Kurz setzen wir uns daher an einen Tisch im Hauptraum. Ich bemühe mich, nicht auf die zahlreichen ausgestopften Tiere an den Wänden zu sehen. Dann werden wir in einen separaten Raum geführt, an der Tür steht „Comedor“.
Die Bedienung, eine resolute Frau in den Fünfzigern nimmt unsere Bestellung auf. Ich bin froh, dass Anja etwas Spanisch spricht, denn es gibt keine Speisekarte. Stattdessen zählt die Dame für Vorspeise, Hauptgericht und Nachtisch jeweils drei Möglichkeiten auf.
Alles versteht Anja auch nicht, außerdem ist keines der Hauptgerichte vegetarisch, und Dagmar möchte nur einen Salat ohne Hauptspeise. So dauert es eine Weile, bis wir Vorspeisen und Hauptgerichte ausgewählt haben. Ich nehme einen Salat und anschließend Nudeln mit Tomatensoße, was eigentlich eine weitere Vorspeise gewesen wäre. Mit großem Seufzen verschwindet die Dame in der Küche und kehrt zurück mit einer Orange, einem Joghurt und einem Becher Vanillepudding. „Postre?“- Nachtisch?, fragt sie.
Unter großem Gelächter zeigt jeder von uns auf eine der Nachtischvarianten.
Gespannt sehe ich in die Runde, hier sitze ich also mit sechs Pilgern aus Dänemark, England und Österreich, die ich vor ein paar Stunden noch nicht kannte. Die Bedienung stellt unaufgefordert eine Flasche Wein und zwei Flaschen Wasser auf den Tisch.
Mit seinem nicht ganz einfach zu verstehenden nordenglischen Akzent berichtet John: „Die Ankunft in Santiago ist gar nicht so sensationell. Das ist letztlich auch nur eine Großstadt mit viel Verkehr. Am schönsten finde ich immer den Punkt, an dem ich Santiago zum ersten Mal sehe.“
Unsere weitere Unterhaltung dreht sich um die Erlebnisse auf den vergangenen Kilometern und die Frage, ob Spanischkenntnisse hier notwendig sind. Hoffentlich nicht, denke ich. Aber solange immer jemand dabei ist, der Spanisch und mindestens noch Englisch spricht, brauche ich mir keine Sorgen zu machen.
Beim Bezahlen um 22 Uhr freue ich mich, dass die Getränke in den zehn Euro für das Menü schon enthalten sind. Wir brechen eilig auf, denn um diese Uhrzeit schließt die Herberge.
„Keine Panik“, sagt Michael „die müssen eh auf uns warten, außer uns gibt keine weiteren Gäste.“
Trotzdem bin ich froh, als wir eine viertel Stunde später endlich ins Gebäude kommen. Wir übernachten im Achtbettzimmer, nur die beiden Österreicherinnen schlafen im Nebenraum. Schon fünf Minuten später liegen alle in den Betten. Jeder wünscht jedem eine gute Nacht. Ich murmle mich in meinen Schlafsack ein und decke mich außerdem mit einer der ausliegenden Wolldecken zu. Ein wohliges Kindheitsgefühl aus alten Klassenfahrtzeiten sammelt sich in meinem Bauch. Zufrieden schlafe ich ein.
Tag 3 - 27. März 2012: Tardajos
Als ich die Augen öffne, packen die beiden Engländer gerade ihre Sachen ein. Michaels Bett ist bereits leer, Anja rollt ihren Schlafsack zusammen. Ich stehe auf und ziehe meine Schultern nach hinten, der Rücken fühlt sich vom ungewohnten Rucksacktragen verspannt an. Anja präsentiert mir stolz ihre Flipflops: „Die habe ich in einer Herberge gefunden, kann ich gut gebrauchen.“ Sie setzt ihren Rucksack auf, an dem eine Alu-Tasse baumelt. Unverkennbar, Anja ist eine Pilgerin. Ich auch! Sehe ich auch so aus? Ich ziehe meine pikobello saubere, beige Wanderhose und meine lila-rosa-karierte Bluse an. Ich fühle mich nicht anders als noch zu Hause, frage mich aber, wie ich aussehe, wenn ich tiefer in das Pilgerleben eintauche und ob ich dann auch irgendwann liegengelassene Badelatschen von anderen Pilgern auftrage.
Wir essen gemeinsam im Frühstücksraum. Der Herbergsvater, „Hospitalero“ genannt, heißt Paolo, ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Er hat Baguettes und ein Glas Marmelade besorgt. Alle greifen kräftig zu, ich esse an die zehn Minischeiben. Die sauersüße Himbeermarmelade kommt von der „Gamle Fabrik“, eine Marke, die mir vage aus meinem letzten Dänemarkurlaub bekannt vorkommt. Die Dänen sind über die heimische Marmelade begeistert und loben das Frühstück. Paolo berichtet in passablem Englisch, dass er diesen Herbergsdienst eine Woche lang unentgeltlich verrichtet. Den Jakobsweg ist er selber schon viele Male gegangen - oft die klassische Variante, auf der wir unterwegs sind, aber auch die Nordstrecke oder die von Madrid nach Santiago. „Der Herbergsdienst ist auch eine Form, den Jakobsweg zu begehen“, stellt Anja fest.
Nach dem Frühstück verschwinden alle auf die Toilette. Bevor wir die Herberge verlassen, bezahlen wir noch unseren Obolus. Einen festen Preis für die Unterkunft gibt es nicht. Ich werfe zwölf Euro in den dafür vorgesehenen Briefkasten.
Gegen 8:30 Uhr brechen wir nacheinander auf, die Dänen als erste.
„Wir brauchen uns nicht zu verabschieden, wir sehen uns ohnehin unterwegs“, ruft mir eine der Österreicherinnen zu. Die kennen mein Tempo nicht, denke ich. Gestern bin ich elf Kilometer gegangen. Für den zweiten Wandertag nehme ich mir ebenfalls vor, den Fußmarsch kurz zu halten. Die Sonne geht gerade auf, und die Morgenröte taucht die Landschaft in ein sanftes Licht. Eine halbe Stunde später durchquere ich das Dorf Rabé de las Calzadas. Dann wandere ich acht Kilometer weit über einen Weg mit rotem Boden quer durch die weite Landschaft aus sanften Hügeln. Links und rechts liegen Felder. Diese Hochebene heißt Mesata und ist bei Pilgern berüchtigt, denn kaum ein Baum bremst die Sonneneinstrahlung. Selbst jetzt an einem Vormittag im März ist es warm. Ich passiere einen Rastplatz mit Brunnen, ohne dort zu halten.
In Hornillos del Camino, ein Dorf mit Häusern aus groben Natursteinen, begegne ich tatsächlich den beiden Engländern und den Österreicherinnen