George Tenner

Insel der Vergänglichkeit


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      Er konnte mit dieser verstümmelten Nachricht nichts anfangen. Vielleicht hatte sie ja wieder getrunken, wie manchmal, wenn sie nachts bei ihm das Telefon klingeln ließ. Doch das war, wie sich erst später feststellen ließ, die letzte Nachricht, die er von ihr erhalten hatte.

      Also schrieb er um 6:32 Uhr »Guten Morgen, mein Kind. Hast du versucht, hier anzurufen? Ich stehe gerade erst auf. Endlich habe ich mal eine Nacht richtig geschlafen. Ich habe versucht, zurückzurufen. Es funktioniert nicht. Du musst dich hier mit mir auf WhatsApp verabreden, und dann versuchen wir es noch einmal. Euch beiden einen schönen Tag nach Stralsund.«

      »Ben, bist du noch dran?«

      »Natürlich.«

      »Ich glaube, ich habe mich völlig falsch verhalten.«

      »Verstehe wirklich nicht, Vater, was du damit sagen willst.«

      Gerd Thun berichtete seinem Sohn, dass alle weiteren Versuche, Suzanne nach dem 8. Mai zu erreichen, ins Leere gelaufen waren.

      »Du glaubst, dass sie nicht mehr lebt?«

      »Vielleicht hat sie sich ja ...«

      Einen Augenblick schwiegen beide Männer.

      »Ich kann unmöglich bei den Eltern anrufen«, sagte Thun. »Manuel würde durch den Draht hindurchkommen und auf mich losgehen.«

      »Auf dich vielleicht, Vater. Ich kann ja anrufen.«

      »Das würdest du machen?«

      »Es ist ja schließlich meine Halbschwester.«

      Thun gab Ben die Nummer durch. Dann fuhr er weiter auf der Autobahn in Richtung Dresden.

      Zwanzig Minuten später, er hatte gerade die Ausfahrt nach Groß Köris passiert, rief Ben ihn wieder an.

      »Ich habe mit dem Mann telefoniert«, sagte er. »Nachdem ich ihm sagte, wer ich bin, hat er kurz mit mir geredet.«

      »Er ist nicht auf dich losgegangen?«

      »Er war sehr, sehr ruhig.«

      Thun merkte, dass sich seine Herzfrequenz erhöhte. »Was hat er gesagt?«, drängte er.

      »Ich habe ihm gesagt, dass die Polizei hier war, um mit dir zu sprechen. Als ich ihn fragte, ob etwas mit Suzanne sei, sagte er nur, dass sie tot sei.«

      Ben hatte eine Pause gemacht, um zu hören, wie sein Vater reagierte. Aber als Thun nichts sagte, fuhr er fort: »Als ich ihn fragte, wie sie ums Leben gekommen sei, fragte er, ob er das beantworten müsse. Ich habe das verneint, habe mich bedankt für die Auskunft, und damit war das Gespräch für uns beide beendet ... Vater, bist du noch dran?«

      »Ich frage mich immer wieder, warum ich ihren offensichtlichen Hilferuf so beiseitegeschoben habe.«

      »Du solltest dir keine Vorwürfe machen, schließlich war sie immer sehr widersprüchlich in ihren Aussagen.«

      Gerd Thun wusste, dass Ben recht hatte. Dennoch hatte er genau bei diesem letzten Hilferuf das Gefühl gehabt, dass etwas dran sein musste. Doch er hatte das Gefühl negiert.

      An der Ausfahrt Großräschen verließ er die Autobahn und bog rechts ab. Nach wenigen Kilometern kam der Ort Saalhausen, wo er vor dem örtlichen Friedhof hielt. Er stieg aus, um das Grab eines Ehepaars zu besuchen, mit dem er mehr als sechs Jahre befreundet gewesen war. Die beiden hatten ein glückliches Leben hinter sich gebracht, zwei Kinder großgezogen, beide Kinder hatten studiert, aus beiden war etwas geworden. Das war ohne Zweifel eine Erfolgsstory.

      Vor zwei Jahren war der Mann gestorben. Nur einige Monate später folgte ihm seine Frau. Nun waren ihre Urnen vereint unter dieser Steinplatte mit der einfachen, schnörkellosen Aufschrift.

      Gerd Thun wurde an die eigene Vergänglichkeit erinnert. Obwohl er sonst sorgsam vermied, ausschließlich Privatreisen zu unternehmen, hatte er diese Dresden-Fahrt als eine solche geplant, um auf den Spuren seiner Wurzeln zu wandeln. Ein kleiner Teil dieser Wurzeln lag auch hier auf diesem Friedhof. Wenn man alt wird, dachte er, kommen die Einschläge immer näher. Es ist wie bei einer Blume, die erst aufgeht, schön anzusehen ist und dann doch welk wird und schließlich umfällt. Auf diesem letzten Trail des Lebens schien er jetzt unterwegs zu sein.

      Er war erst wenige Meter von dem Friedhof entfernt, als sein Smartphone klingelte.

      »Hier ist Lilli …«

      Lillian, schoss es ihm durch den Kopf, die Tochter von Suzanne. Er vermied das Wort Enkelin. Es würde ihn nur an sein Alter erinnern. »Meine Enkel umfahre ich weiträumig«, pflegte er zu sagen. Daran hielt er sich. Er fuhr rechts in den Parkhafen eines Einfamilienhauses und stellte den Motor ab.

      »Hallo Lilli.«

      »Du weißt, was passiert ist?«, fragte sie.

      »Ben hat mit deinem Großvater telefoniert, nachdem die Polizei bei uns war, um mit mir zu sprechen. Deine Mutter ist verstorben.«

      »Verstorben?« Es war ein Aufschrei.

      »Sie hatte mir so eine kurze Mitteilung geschickt, dass sie ihr Leben nicht mehr mag«, sagte Thun. »Ich kann das gar nicht verstehen, denn ich habe mich erst am 27. April mit ihr in Stralsund getroffen. Wir haben über Gott und die Welt geredet. Sie schien mit ihrem Leben zufrieden zu sein.«

      »Das hat sie zu dir gesagt?«

      »Ja. Und sie hat es durchaus glaubhaft rübergebracht. Zwischen uns gab es kein böses Wort. Es gab einen Schriftverkehr auf WhatsApp, der am 27. Dezember letzten Jahres begann. Ich habe alle Einträge geprüft. Es gab wirklich kein böses Wort zwischen uns.«

      »Ich weiß.«

      »Hat sie dir das gesagt?«

      »Ja.«

      »Ich kann dir einige Posts vorlesen, damit du mir glaubst.« Er begann, den Schriftverkehr in rückwärtiger Reihenfolge vorzulesen. Als sie versuchte, ihn zu unterbrechen, sagte er: »Ich kann nicht verstehen, weshalb sie sich umgebracht hat, ich mache mir Vorwürfe, nicht auf sie eingegangen zu sein. »

      »Sie hat sich nicht umgebracht«, sagte Lillian, »Du bist nicht schuld an ihrem Tod.«

      Gerd Thun hatte eine Veränderung in ihrer Stimme bemerkt. Sie war noch aufgeregter als zuvor.

      »Wann ist dein Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen?«

      »Am 8. Mai«, sagte er. »Ich habe nur sehr kurz mit ihr telefoniert.«

      »Wie bei mir. Ich bekam einfach keinen Kontakt mehr zu ihr, auch nicht, wenn ich versuchte, mit ihr zu telefonieren«, sagte Lillian. »Ich war beunruhigt und wollte deshalb schon mit meinem Freund nach Stralsund fahren. Du weißt doch, ich bin schwanger. Und mein Freund meinte, ich solle das Kind nicht gefährden. Also gab ich eine Vermisstenanzeige auf. Man hat mich verständigt, dass die Polizei die angegebene Adresse überprüft hat.«

      »Und?«, fragte Thun leise.

      »Als die Beamten den Lebensgefährten meiner Mutter nach ihr fragten, zeigte er auf einen großen Koffer, der im Flur stand.«

      Thun wagte nicht, etwas zu sagen.

      »Bist du noch dran?«, fragte Lillian.

      »Ja.«

      »Die Beamten haben dann Mama in dem Koffer gefunden.«

      Gerd Thun fragte sich, wie ein Mensch von geschätzten 1,65 Metern Körpergröße in einen Koffer passen würde.

      »In einem … Koffer?«

      »Es war ein Schrankkoffer, wie ihn Artisten verwenden.«

      »Ich bin gerade auf der Fahrt nach Dresden, Lilli«, sagte er. »Kann ich dich anrufen, wenn ich wieder zu Hause bin?«

      »Ja, natürlich.«

      »Ich bin so angeschlagen von der Nachricht, dass ich das erst einmal verdauen muss«, sagte er, und: »Pass auf dich auf, Kleines. Deine Mutter hat