George Tenner

Insel der Vergänglichkeit


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getrennt war, rief Thun seinen Cousin an. Er sagte ihm, dass er leider die vereinbarte Zeit nicht einhalten könne und deshalb den Termin um zwei Stunden verschieben müsse. Dann begab er sich wieder auf die Autobahn, um die restlichen Kilometer nach Dresden zu bewältigen.

      Da an der Dresdner Autobahn gebaut wurde, zog es sich endlos hin, bis er endlich die Ausfahrt nach Dresden Neustadt nehmen konnte. Nach einigen Kilometern musste er feststellen, dass die früher genutzte Einfahrt in die Stadt über den Neustädter Bahnhof so nicht mehr nutzbar für den Durchgangsverkehr war. Sicher ein Gewinn für die Stadt. Vorbei ging es am Elbschloss Albrechtsberg, hinauf in Richtung zum Weißen Hirsch. Nur einige Kilometer weiter würde er die Grundstraße nach Loschwitz hinunterfahren können. Als er rechtsseitig über die kleine Brücke fuhr, die mitten in der S-Kurve gelegen war, erinnerte er sich daran, dass er, führe er geradeaus weiter, direkt an dem auf dem Berg gelegenen Wohnhaus des Bassbaritons Theo Adam vorbeifahren würde. Er erinnerte sich an die Zeit, in der er oft in Dresden war, um seine Großmutter zu besuchen. Vor dem Haus auf dem Berg, direkt an der Straße, lag die Garage der Adams. An diese hatte Thun eine besondere Erinnerung an ein amouröses Abenteuer. Er beschloss, diese Straße hinunter nach Loschwitz zu fahren. Er fuhr die enge, kurvige abwärts, bis vor ihm die imposante Brücke Das blaue Wunder auftauchte, die er überquerte. Auf dem Schillerplatz reihte er sich nach links ein. Eigentlich wollte er in der Tolkewitzer Straße parken, fand aber keinen Platz für sein Auto. Doch hatte er ein Restaurant mit dem Namen Mikado entdeckt, von dem aus eine kleine Straße bis zur Elbe hinunterging. Er war schon an dem Restaurant vorbei, musste zurückfahren. Er hatte Glück, denn genau dort fand er, ziemlich am Fluss, den letzten freien Parkplatz, der seinen Wagen aufnahm.

      Er ging zurück zum Mikado, las am Eingang die Speisekarte durch. Offensichtlich wurde hier japanisch gekocht. Aber er fand für sich einen Lachs, der seinem Wunsch der Zubereitung entsprach. Also ging er hinein, setzte sich ans Fenster und bestellte sich, was er vor dem Eingang schon ausgesucht hatte. Plötzlich machte sich sein Handy bemerkbar. Er meldete sich.

      »Hier ist die Polizei in Stralsund. Herr Thun?«

      »Ja. Was kann ich für Sie tun?«

      »Wir haben eine Nachricht für Sie, dass Sie sich für eine Befragung zur Verfügung stellen müssen.«

      Thun tat so, als wisse er nicht, worum es ging. »Was habe ich denn verbrochen?«

      »Verbrochen? Ich denke mal, gar nichts. Man will ihnen etwas mitteilen«, sagte der Mann am anderen Ende.

      »Na schön, dann kann man mit mir reden, wenn ich wieder zu Hause bin.«

      »Ich gebe Ihnen jetzt eine Telefonnummer. Sie werden gebeten, dort anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren.«

      Thun schrieb sich die Nummer auf. »Sie wollen mir nicht sagen, worum es sich handelt?«

      »Soviel ich weiß, geht es um einen Todesfall.«

      »Man hat meine Tochter ermordet«, kam es aus Thun heraus.

      »Oh, dann wissen Sie mehr als wir hier. Seien Sie so freundlich und rufen bei der Kripo an, um einen Termin zu vereinbaren, oder sagen Sie mir, wie Sie zu erreichen sein werden.«

      Thun versicherte, sich am kommenden Tag mit der Kriminalpolizei in Stralsund in Verbindung zu setzen, und beendete das Gespräch.

      Kurz darauf kam der Lachs, den er sich bestellt hatte. Obwohl er nach dem ersten Bissen feststellen musste, dass der Fisch exzellent schmeckte, stocherte er unlustig in dem Essen herum. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Es war ein Glück, dass Lillian ihn angerufen und aufgeklärt hatte, was in Stralsund passiert war. Er fragte sich, ob der Polizist, der ihn so unbedarft angerufen hatte, tatsächlich so unwissend über den Todesfall war, wie er getan hatte.

      Kurze Zeit später zahlte er, rief seinen Cousin Egon an, dem er sagte, dass er in etwa zehn Minuten bei ihm in der Heinrich-Schütz-Straße ankommen würde.

      2. Kapitel

      Montag, 12. Mai 2008

      Oberkommissar Feltin schaute auf das Fernschreiben, das gerade eingegangen war. Es handelte sich um eine Vermisstenanzeige aus Berlin mit der Bitte um Amtshilfe. Er ging einige Türen weiter.

      Beim KDD war schon zu früher Stunde reichlich Betrieb. Das Stimmengewirr war beträchtlich. Es galt, die Fälle vom Vortag aufzuarbeiten. Zwei Einbrüche, in denen die Ermittlungsarbeiten am Vortag angelaufen waren. Die sexuelle Belästigung einer älteren Frau von mehreren Männern. Mehrere Einsätze wegen Schlägereien, die aus Trunkenheit und Angebereien entstanden waren. Beziehungsstreits, die über das normale Maß verbaler Beschimpfungen hinausgingen. Ein Verkehrsunfall mit Todesfolge allerdings forderte den Einsatz des Teams, weil bei der Festnahme und anschließender Durchsuchung des Fahrzeuges Drogen gefunden wurden. Der Fahrer saß nun in Gewahrsam, und Einsatzleiter Harald Verstappen war bei der Formulierung der Unterlage für den Richter, der eine U-Haft anordnen müsste.

      »Eine Vermisstenanzeige, Harald«, sagte Feltin.

      Verstappen schaute kurz auf die Nachricht aus Berlin.

      »Sie vermissen eine Frau, die in der Heilgeiststraße 5 wohnen soll. Das ist das Haus, in dem ehemals die Stralsunder Spar- und Darlehnskasse ihren Geschäften nachging, Ecke Mühlenstraße.«

      »Schick einen Streifenwagen zum Abklären hin«, beschied Verstappen kurz.

      Feltin ging zurück zu seinem Büro, in dem die Vermisstenfälle bearbeitet wurden. Meist hatten sie abgängige Jugendliche, die sie dann irgendwo wieder auffanden, oftmals zugekifft, oder die weggelaufen waren, weil sie mit den Zuständen, die sie umgeben hatten, nicht zurechtkamen.

      »Verstappen meint, der Streifendienst soll einen Wagen hinschicken.«

      »Ein typischer Montag«, stellte Mira Ludwig lakonisch und ohne sichtliche Regung fest.

      Feltin nickte. Sein Gesicht drückte Widerwillen gegen die Entscheidung Verstappens aus. Zu gerne wäre er die Aufgabe losgeworden. Er ließ sich mit der Einsatzleitung der Landespolizei im Hause verbinden und trug seine Bitte vor. Man sagte ihm, dass man einen Funkwagen zur Heilgeiststraße schicken würde.

      »Bin gespannt, wann die melden, was dort los ist. Wahrscheinlich gar nichts, wie so oft. Die Frau öffnet die Tür und fragt völlig erstaunt, ob die Polizei sich verklingelt habe.« Er schaute erwartungsvoll zu seiner Kollegin Mira Ludwig. Was denkt die sich nur, mir nicht sofort zu antworten, dachte er. Na ja, die Weiber ...

      »Ich hole mir einen Kaffee«, sagte sie. »Solle ich einen für dich mitbringen?«

      Feltin nickte. »Gerne, Mira.«

      Mira verließ das Zimmer in Richtung Teeküche.

      *

      Polizeihauptmeister Leo Funke leerte den letzten Tropfen Kaffee aus seinen Becher, als ihr Wagen von der Leitstelle gerufen wurde.

      »Strela vier … Strela vier, bitte kommen.«

      Funke nickte seinem jungen Kollegen Jörn Schulz zu.

      »Strela vier hört«, sagte Schulz.

      »Wo seid ihr gerade, Leo?«

      Leo Funke ließ sich von seinem Kollegen das Mikrofon geben und sagte: »In der Jacobiturmstraße, kurz vor der Neuapostolischen Kirche, Iris.«

      »Ich hab einen Auftrag für euch. Ihr fahrt in die Heilgeiststraße 5 und überprüft bei dem Bewohner namens Remy Günner, ob bei ihm eine Frau namens Suzanne Makowski anwesend ist. Es liegt eine Vermisstenanzeige vor.«

      »Wohnung Remy Günner«, wederholte Funke. »Heilgeiststraße 5. Wir sind unterwegs. Na da wollen wir mal«, sagte er und startete den Wagen.

      Wegen der vielen Einbahnstraßen, die teilweise durch Fußgängerstraßen verbunden waren, mussten sie den kleinen Außenring über die Seestraße und die Mühlenstraße nehmen. Nach einigen Minuten kamen sie vor der Heilgeiststraße 5 an.

      »Günner«, sagte Schulz und zeigt