George Tenner

Insel der Vergänglichkeit


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antwortete die Angesprochene.

      »Die Frau kam aus Berlin«, sagte die Frau mit der noch vollen Mülltüte.

      »Da hätte sie bleiben sollen, dann würde sie noch leben.«

      »Immer wieder gab es lauten Streit in der Wohnung«, sinnierte die Müllfrau.

      »Aber die waren doch ein Paar?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

      »Gewiss. Doch die Frau hatte nichts zu lachen.«

      »Die haben immer gesoffen. Manchmal stank das Gelumpe bis ins Treppenhaus«, stellte ein älterer Mann fest, der den beiden Frauen zugehört hatte.

      »Glaubst du noch an die Macht des Guten, Liesbeth?«

      »Wenn ich das sehe ... Eher wohl nicht. Ich werde mir eine zweite Kette an meiner Eingangstür anbringen lassen.«

      »Es ist einfach nur grausam.«

      Inzwischen hatten die beiden Polizisten Remy Günner in den Funkwagen verfrachtet, der sich nun langsam in Bewegung setzte.

      »Das warʼs für uns«, sagte einer der beiden Halbstarken und stupste den anderen in die Seite. »Lass uns abhauen.«

      Langsam zerstreuten sich die Menschen, die plötzlich über ungeahnte Zeitreserven verfügt hatten.

      Während Polizeihauptmeister Funke mit seinem Kollegen Jörn Schulz Remy Günner zum Wagen brachten, begannen die weiß gekleideten Männer ihre Arbeit in der Wohnung. Stück für Stück suchten sie die Räume nach Blutspuren ab, die sie allerdings ausschließlich im Küchenbereich auf und unter dem Tisch feststellten. Dafür fanden sie andere Dinge, Medikamente gegen Epilepsie … Antikonvulsiva, diverse Antiepileptika, dazu Zolpidem, Zopiclon und andere Schlafmittel.

      Jürgen Reiniger wiederum benachrichtigte kurz Verstappen über die aufgefundene Situation, und der wiederum verständigte den zuständigen Leiter der Kriminalpolizei in Neubrandenburg. Kurze Zeit später waren die Beamten der Sonderkommission für Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit auf dem Wege nach Stralsund.

      *

      3. Kapitel

      Donnerstag, 10. Juli 2008

      Gerd Thun kannte die Polizeidirektion in Anklam. Das Gebäude in der Friedländerstraße 13 war nach der Wende neu entstanden. Um die Region hier nicht ganz von der Entwicklung abzuhängen, hatte man die Polizeidirektion nicht nach Greifswald oder Stralsund gegeben, sondern hier, nahe des Zugangs zur Insel Usedom, angesiedelt.

      Es hatte der Stadt zwar nur wenig Auftrieb gebracht, kamen doch die meisten Beamten aus anderen Städten angefahren, aus Lubmin, aus Stralsund, aus Greifswald und Umgebung, doch erfüllte diese Institution auch eine Aufgabe, Sicherheit zu verbreiten, denn Anklam war eine Neonazi-Hochburg.

      Thun ging zum Schalter der Anmeldung. Hinter dem Glas befanden sich zwei Beamte.

      »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte einer der beiden.

      »Ich bin mit einem Ihrer Kollegen hier verabredet, der von der Abteilung Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit aus Neubrandenburg kommt.«

      Der Beamte sah eine Liste durch, fand aber offensichtlich keine Notiz zu diesem Vorgang. Deshalb befragte er seinen Kollegen. Kurze Zeit darauf meldete er sich wieder.

      »Der Kommissar aus Neubrandenburg ist noch nicht da, Sie müssen sich einen kleinen Augenblick gedulden.«

      Thun schäumte innerlich. Verabredung war Verabredung. Er würde niemals jemanden warten lassen, denn er würde andere Menschen nicht um ihre kostbare Lebenszeit betrügen.

      Wenige Minuten später ging die Tür auf. Eine sehr forsch eintretende, gut aussehende junge Frau in Begleitung eines Mannes kam auf ihn zu.

      »Herr Thun?«

      »Ja.«

      »Mein Name ist Daniela Herzog.« Sie deutete auf den Mann, der sie begleitete. »Kriminaloberkommissar Weber. Wir sind in der Angelegenheit Makowski verabredet.« Sie wandte sich dem Anmeldeschalter zu, hielt ihren Dienstausweis vor die Scheibe. »Wir haben von Neubrandenburg aus ein Besprechungszimmer bei Ihnen geordert.«

      »Der Raum ist im ersten Stock, mein Kollege wird Sie gleich hochführen.«

      »Ich möchte Ihnen gleich sagen, Herr Thun, dass die Nachricht in der Bild-Zeitung falsch war. Die Frau in dem Koffer war nicht zerstückelt.« Daniela Herzog hatte ihre Stimme gesenkt.

      »Sie können sich jede Sentimentalität sparen. Ich kann mit dem Tod durchaus umgehen, denn ich beschäftige mich seit langer Zeit damit. Manchmal schreibe ich auch darüber.«

      Der Beamte, der sie hochführen würde, öffnete die Glastür, um sie hereinzubitten. Während die Kommissarin vorging, achtete ihr Begleiter darauf, dass sie Thun in die Mitte nahmen. Sie gingen hoch in den ersten Stock und fanden ein leeres Zimmer, das für sie reserviert war. Thun blieb allein mit den beiden Kommissaren aus Neubrandenburg. Nachdem sie sich gesetzt hatten, legte Daniela Herzog ein Diktiergerät vor sich hin.

      »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich das Gespräch gern aufzeichnen.«

      Thun nickte zustimmend.

      »Ich zeichne meine Frage auf, Sie antworten. Nur dass Sie sich nicht wundern, ich wiederhole dann Ihre Antwort so, dass unsere Schreibkräfte das auch verstehen können. Ist das für Sie in Ordnung?«

      »Aber sicher doch.«

      »Sie sind der leibliche Vater von Suzanne Makowski?«

      »Ja.«

      »Woher wissen Sie das so genau? Haben Sie einen Vaterschaftstest gemacht?«

      »Nein, das brauchte ich gar nicht. Zum Zeitpunkt, als ich sie kennenlernte, sah sie aus, wie meine Tante mütterlicherseits in ihrer Jugend ausgesehen hat. Außerdem habe ich an jeder ihrer Bewegungen gesehen, dass es meine Tochter war.«

      »Wie würden Sie das Verhältnis zu Ihrer Tochter beschreiben?«

      »Als äußerst fragil.«

      »Wie soll ich das verstehen?«

      »Mal meldete sie sich, mal hörte ich dann wieder ein, zwei Jahre gar nichts von ihr.«

      Satz für Satz wiederholte die Hauptkommissarin Thuns Antworten. Er konnte daran nichts aussetzen.

      »Wann hatten Sie den ersten Kontakt zu Ihrer Tochter?«

      »Kontakt? Ich sah sie einmal als Kind, aber ich hatte keinen Kontakt.«

      »Wie das?«, fragte die Kommissarin.

      »Das erste Mal sah ich sie 1973. 1972 gab es eine Amnestie in der DDR, nach der Republikflüchtlinge, die bis zu einem gewissen Stichtag abgehauen waren, wieder in die DDR einreisen durften, sofern sie einen Antrag gestellt hatten, der gebilligt wurde.«

      »Traf das auf Sie zu?«

      »Ja. 1966 im Oktober bin ich mit einem kleinen Schlauchboot von Usedom nach Øster Sømarken Bornholm geflohen.«

      »Sie trafen Ihre Tochter also 1973, da war sie bestenfalls acht Jahre alt.«

      »Exakt. Sie ist am 5. Januar 1966 geboren.«

      »War ihre Mutter dabei?«

      »Nein, ihre ältere Schwester. Mein Sohn Ben, den ich mitgenommen hatte, damit er seine Großmutter kennenlernt, und ich waren in einem Café beim Eisessen. Die Tür ging auf, und zwei kleine Mädchen kamen herein. Ich habe sie sofort erkannt.«

      »Sie hatten sie doch noch nie gesehen.«

      »Das war nicht schwer, ich wusste ja, dass sie eine ältere Schwester hatte. Und da sie zu der Zeit aussah wie meine Mutter in ihrer Jugend, wusste ich sofort, wen ich vor mir hatte.«

      »Das war 1973. Wann haben Sie sie das erste Mal als Erwachsene gesehen?«

      »2001,