Else Ury

Professors Zwillinge in Italien


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Dem Professor blieb das Wort in der Kehle stecken. Inzwischen verging seine arme Frau ja vor Angst. Er gab seine Adresse und Telefonnummer an, mit der Bitte, ihm sofort Nachricht zukommen zu lassen, wenn der Vermißte sich angefunden habe.

      Unterdessen hatte sich der Wagenverkehr geregelt, auch die Menschenmenge etwas zerstreut. Autos, Hotelomnibusse und Droschken ratterten davon.

      Professor Winter kehrte zu seinem Wagen zurück.

      Das war ein schlechter Anfang!

      »Unser Junge wird bestimmt auf dem deutschen Konsulat abgegeben, Fränzchen«, begann er beruhigend.

      Seine Frau hörte ihn gar nicht. Sie stand aufrecht im Wagen, über den sonnenbeschienenen Platz erregt Umschau haltend.

      »Paul, dort drüben, wo die Dienstmänner stehen, ist das nicht – ja, natürlich ist das unser Junge! – – – Herbert – Herbert – – –!« Sie rief und winkte. Das Mutterauge hatte ihn erkannt.

      Schnellen Schrittes durchquerte der Professor den Bahnhofsplatz. Mitten unter einer Gruppe Dienstmänner standen ganz gemütlich der zwei- und der vierbeinige Bubi. Der zweibeinige lebhaft in deutscher Sprache redend, der vierbeinige ebenso lebhaft blaffend. Immerhin schien sich der zweibeinige doch noch besser verständlich zu machen. Die Dienstmänner lachten über den drolligen kleinen Fremden und wiesen mit der Hand auf einen im Hintergrunde der Stadt aus dem Gebirgskranz allein aufragenden Bergkegel.

      »Vesuvio – si, piccolo – Vesuvio! Vesuv – ja, Kleiner – der Vesuv!« riefen sie dabei.

      »Aber der raucht ja gar nicht richtig – man bloß solche olle schwarze Wolke ist da drauf! Vater,« – er lief dem auf ihn zueilenden Professor entgegen –, »Vater, warum spuckt der Vesuv denn gar kein Feuer?«

      Der Vater griff erst mal nach dem Arm des kleinen Ausreißers, damit er ihm nur nicht wieder entwische. »Ja, Herbert, Junge, wo steckst du denn? Wo bist du denn bloß geblieben? Mutter sorgt sich Gott weiß wie um dich, Suse weint, und ich habe bereits die Polizei deinetwegen alarmiert.« Es tat dem Vater leid, daß er gleich in der ersten Stunde des langersehnten Wiedersehens schelten mußte.

      Der Eindruck seiner ernsten Worte auf den Sohn war ein merkwürdiger.

      »Die Polizei, Vater, italienische Polizei? Au fein!« Der Junge strahlte über das ganze Gesicht. »Schade, daß du mich schon gefunden hast!«

      »Und unsere Angst, Bubi?« Wenn die Eltern besonders zärtlich waren, gebrauchten sie immer noch den Kosenamen der Kleinkinderzeit »Bubi« oder »Mädi«.

      »Mutti ängstigt sich ja immer gleich so doll, wenn ich bloß 'nen Schnupfen kriege. Ich mußte doch erst mal fragen, wo nun eigentlich der Vesuv ist, der immer Feuer spuckt. Aber du hast uns sicher bloß aus Ulk was vorgeredet, Vater. Der Vesuv ist nicht anders als unser Berliner Kreuzberg.« Herbert schien von seinem ersten Eindruck in Neapel recht enttäuscht.

      »Warte es ab, Herr Neunmalklug«, meinte der Vater lächelnd.

      Die beiden Bubis waren inzwischen zum Wagen transportiert worden. Suse fiel ihrem wiedergefundenen Zwilling um den Hals, als ob sie ihn jahrelang nicht gesehen habe. Die Mutter schloß ihn ebenfalls in die Arme, als müsse sie ihn noch nachträglich vor allem schützen, was ihm hätte passieren können.

      Und nun saß man endlich abfahrtbereit, die Zwillinge den Eltern gegenüber auf dem Rücksitz, Herbert sein Hündchen, Suse ihre Schwarzwaldpuppe liebevoll im Arm.

      »Avanti – vorwärts!« rief der Vater. »Hü – et –«, schnalzte der Kutscher und knallte mit der Peitsche. Der Gaul zog an. Professors Zwillinge fuhren zum erstenmal durch die Straßen von Neapel, das jetzt für ein ganzes Jahr ihre Heimat werden sollte.

      »Was hättest du denn bloß hier in der fremden Stadt angefangen, wenn du uns nicht wiedergefunden hättest, Herbert?« Die Mutter konnte sich noch immer nicht beruhigen.

      »Aber ich bin doch schon zehn Jahre alt«, begehrte der Junge auf. »Ich war doch euer männlicher Schutz unterwegs auf der Reise. Bubi hätte ganz sicher eure Fährte gefunden. Und auch sonst hätte es nichts geschadet. Dann hätte ich mir einen Wagen genommen und wäre nach Vaters Wohnung gefahren. Ich weiß doch die Adresse. Tassostraße sieben.«

      »Wenn du die Adresse nicht italienisch weißt, würde man dich kaum verstanden haben, mein Junge«, bedeutete ihm der Vater. »Via Tasso, sette, müßt ihr euch merken. Via heißt der Weg, die Straße, auf italienisch. Und sette bedeutet deutsch sieben.«

      »Natürlich – sept, sieben, auf französisch. Das haben wir schon in der Waldschule gelernt, Suse. Aber ich brauche das gar nicht. Ich zeige einfach.« Er hob sieben Finger in die Höhe. »Die Italiener machen das auch so.«

      Der Vater schmunzelte. Der Junge hatte Beobachtungsgabe. Der kam durch die Welt.

      Durch belebte Straßen, über grüne, blumenbestandene Plätze fuhr man. Der Professor machte seine Familie auf dieses oder jenes schöne öffentliche Gebäude aufmerksam.

      »Palmen, Suse, sieh nur, Palmen!« rief Herbert aufgeregt, die Schwester in die Seite puffend.

      Suse fuhr hoch. Sie hatte die Augen geschlossen. »Wo – wo? Ach, die ollen langen Fliegenwedel, das sind Palmen? Die sehen ja so grau und so verstaubt aus. Unsere Bäume sind im Frühling viel schöner.«

      »Du wirst noch deine Freude an der herrlichen Pflanzenwelt haben, Suschen«, vertröstete der Vater.

      »Unser Suschen ist müde. Das Kind ist das lange Fahren nicht gewöhnt. Es strengt ja uns Große reichlich an.« Auch die Mutter sah abgespannt aus.

      »Nee, ich bin nicht ein bißchen müde«, behauptete das Töchterchen.

      »Warum haste denn da die Augen zugeklappt?« verwunderte sich der Bruder. »Guck bloß mal, die Pferde haben hier Fischnetze um, mit Puscheln dran, nur die Ohren von den Gäulen gucken raus.« Herbert war ganz Auge. Er nahm die neuen Eindrücke lebhaft in sich auf.

      »Fliegennetze sind das«, erklärte der Vater, »gegen Stechfliegen und Moskitos. So, Suschen, nun kannst du die Augen aufmachen, gleich wirst du das Mittelländische Meer sehen.«

      »Ich will gar nicht sehen.« Suse kniff die Augen noch fester zu.

      »Nanu?« verwunderte sich der Vater. Er kannte sein früher so liebenswürdiges Töchterchen nicht wieder. Was hatte das Kind? Es war doch nicht krank? »Warum willst du denn die Schönheiten der neuen Heimat nicht sehen, Herzchen?« erkundigte sich der Professor, die Stirn der Kleinen fühlend. Sie schien kühl.

      »Nee, ich bin nicht krank! Ich will bloß nicht sehen. Ich will den gräßlichen Vesuv, der Feuer spuckt, nicht sehen.« Da war es heraus, Suses herzbeklemmende Angst vor dem feuerspeienden Berg.

      Die Eltern und Herbert lachten. »Mein dummes, kleines Mädelchen!« Der Vater strich ihr beruhigend über die Wangen.

      »Der Vesuv ist augenblicklich gar nicht in Tätigkeit. Eine Wolke liegt darüber. Wie kann man nur solch ein Angsthäschen sein!« Suse blinzelte durch die Wimpern. Dann aber riß sie die braunen Augen weit auf. Denn Herbert schrie erregt: »Das Meer – das blaue Meer!«

      Tiefblau lag der Golf von Neapel, das weite Mittelländische Meer in der Sonne. Weiße Segelboote zogen wie Riesenschwäne ihre Silberbahn. Hochmastige Schiffe grüßten vom Hafen herüber. Fischerbarken tummelten sich auf den azurblauen Wogen. »O bella Napoli«, das Heimatlied des Neapolitaners, klang vom Gestade herüber.

      »O bella Napoli – o schönes Neapel!« wiederholte Frau Professor Winter aus vollem Herzen, nach der Hand ihres Mannes greifend.

      Auch Suse dachte nicht mehr an den gefährlichen Vesuv. Die landschaftliche Schönheit, die sich ihren Blicken erschloß, nahm das empfängliche Kind ganz gefangen.

      Herbert aber wollte sogleich in den Hafen fahren, um die großen Schiffe zu sehen. Nur schwer ließ er sich auf eine geeignetere Zeit vertrösten.

      Durch Santa Lucia, dem am Meer gelegenen Stadtteil mit den herrlichen Hotelpalästen