bis der Vater ihn mit aufs Dach nahm. Auch die Mutter und Suse, die mit ihrer Arbeit gerade fertig waren, kletterten mit hinauf.
Das Dach war ebenfalls eine Terrasse, ganz gerade und eben. Die Sonne brannte darauf.
»Worauf soll ich einstellen?« fragte der Vater, an seinem großen Fernrohr bastelnd.
»Auf Berlin, Vati. Kann man die Omama durch das Fernglas sehen?«
»Nein, Suse, das ist nicht möglich.«
»Na, wenn man sogar die Sterne am Himmel sehen kann, die sind doch noch viel weiter als Berlin«, verwunderte sich auch Herbert.
»Man sieht die Sterne doch auch mit bloßem Auge durch den Luftraum hindurch. Das Fernglas vergrößert sie nur. Berlin kann man nicht sehen. Da liegen viele Städte und Berge als Hindernis dazwischen. Das habt ihr doch auf der Reise hierher gesehen. So, nun habe ich das Fernrohr auf den Vesuv eingestellt. Erst soll die Mutti durchschauen, Herbert.«
»Ich brauche doch nicht, Vatichen, nicht wahr, ich brauche nicht?« schmeichelte Suse.
»Gerade du sollst mal durchsehen, mein Herzchen. Um aus der Entfernung zu erkennen, daß deine Furcht unbegründet ist.«
»Der Rauch sieht gar nicht feurig aus,« stellte die Mutter fest.
»Man sieht den Feuerschein nur am Abend im Dunkeln«, bestätigte der Professor.
»Bitte, bitte, liebe Mutti, laß mich mal ran.« Herbert konnte es nicht erwarten, durch das Fernrohr zu sehen.
»Das sieht man bloß so aus, als ob der Vesuv eine Zigarre raucht. Du kannst ruhig durchsehen, Suse. Es ist nicht ein bißchen graulig«, sagte Herbert bedauernd.
Na, wenn ihr Zwillingsbruder meinte! Auch Suse wagte es herzklopfend, einen Blick durch das Fernglas auf den feuerspeienden Berg zu werfen – gut, daß sie so weit davon entfernt war. Schwarze Rauchschwaden stiegen zum Himmel empor. »Wohnen wirklich Leute auf dem Vesuv?« erkundigte sie sich ängstlich. Sie konnte es sich nicht vorstellen, daß es so tollkühne Menschen geben sollte.
»Am Fuße des Vesuvs liegen blühende Ortschaften, Rebengelände zieht sich die Hänge hinauf. Es ist die fruchtbarste Gegend Italiens, da in der Asche Düngesalze enthalten sind. Der Vesuvwein ist berühmt; heute mittag sollt ihr ihn mal versuchen. Weiter hinauf allerdings ist alles schwarze Lava. Da wächst nichts mehr. Der Direktor des Vesuv-Observatoriums, das unmittelbar unter dem Gipfel an geschützter Stelle liegt, ist ein guter Bekannter von mir. Er hat ein Töchterchen, das ihr mal besuchen sollt. Da hast du gleich eine kleine Freundin, Suschen.« Liebevoll strich der Vater über das kurzgeschorene, kastanienbraune Haar des Töchterchens.
Das aber machte durchaus kein begeistertes Gesicht. Die kleine Vesuvfreundin war ihr höchst unbehaglich.
»Ich brauche gar keine Freundin, Vati. Ich habe ja den Herbert zum Spielen und Bubi und meine Schwarzwald-Lotti und vielleicht sogar noch das süße Kätzchen von der Teresina. Ein Vesuvkind soll nicht meine Freundin sein!« wehrte sich Suse mit ungewöhnlicher Heftigkeit.
»Hat sie nicht noch einen Bruder?« erkundigte sich Herbert lebhaft. Er dachte es sich herrlich, einen Freund auf dem Vesuv zu haben.
»Ja, ein Junge ist auch noch da. Aber älter als du. Die Kinder vom Observatoriumsdirektor sind für gewöhnlich unten in Neapel, da sie die Schule besuchen«, beruhigte der Vater seine beiden. »So, Fränzchen, jetzt habe ich auf die Insel Capri eingestellt, wenn du noch mal durch das Glas sehen willst. Wenn man weiß, wo die Insel liegt, kann man sie mit bloßem Auge erkennen, so klar ist die Luft.«
»Ich sehe hohe Felsen mitten aus dem Meer aufragen, auch weiße Häuser kann man unterscheiden. Muß das dort herrlich sein.«
»Meinen Sommerurlaub beabsichtige ich mit euch auf Capri zuzubringen. Dort können wir See baden und – –«
»Gibt's auch dort Muscheln, Vati?« erkundigte sich Suse, die im vorigen Jahr auf Rügen eine begeisterte Muschelsammlerin gewesen war.
»Freilich, ganz große, auch Bernstein und Korallen.«
»Und die Blaue Grotte, Vater, die ist doch bei Capri. Kann man sie durch das Fernglas sehen?«
»Nein, mein Sohn, das Felsentor zur Blauen Grotte ist so niedrig, daß man sich im Boot lang ausstrecken muß bei der Einfahrt. Sonst bleibt der Kopf draußen«, scherzte der Vater. Aber nun avanti – subito! Vorwärts – schnell! Sonst wird es zu spät für die Stadtbesichtigung. Das Gabelfrühstück nehmen wir unterwegs in einem Gasthaus.«
»Hurra!« rief Herbert begeistert dazwischen.
»Inzwischen bereitet uns Teresina die Mittagsmahlzeit, das pranzo, das man hier erst gegen sieben einnimmt. Wir können es ihr vollständig überlassen, mein Herz, Teresina kocht gut. Und du selbst mußt ja erst die italienische Küche kennenlernen«, bemerkte der Professor.
»Ich dachte nach deutscher Art zu kochen, Paul«, wandte seine Frau ein, die wohl kein rechtes Zutrauen zu Teresinas Kochkunst hatte.
»Es gibt hier andere Früchte, andere Gemüse, andere Fische als bei uns im Norden. Das Öl spielt bei der Zubereitung eine große Rolle. Du wirst hier umlernen müssen, Fränzchen.«
Bald darauf sah man die deutsche Professorenfamilie, Bubi allen voran, durch die Straßen von Neapel wandern.
3. Kapitel
In der neuen Heimat
Dem Professor machte es unterwegs Spaß, die innere Verschiedenheit seiner Zwillinge, die sich doch äußerlich so ähnlich waren, zu beobachten. Was wohl von all dem Neuen hier in Neapel den stärksten Eindruck auf sie machte. Herbert war von der Grotta nuova, einem großen Tunnel, in dem ein ohrenbetäubender Wagen- und Straßenbahnverkehr herrschte, restlos begeistert. Auch die Funicolare, die Drahtseilbahn, welche die untere Stadt mit den auf den Bergen liegenden Stadtteilen verbindet, interessierte ihn lebhaft. Suse war es unheimlich in der langen, den Possilip durchtunnelnden Grotta nuova, sie schmiegte sich fest an des Vaters Arm. Den Radau dort unten fand sie gräßlich. Auch die Funicolare erfreute sich nicht ihres Beifalls. Himmel, wenn das Drahtseil riß – wenn man plötzlich in die Tiefe sauste! Sie hatte für des Vaters Erklärungen der kastenartig übereinandergebauten Bahn, die durch ein Drahtseil mit einer zweiten Bahn verbunden war, gar kein Ohr.
»Suse, die beiden Bahnen gehen gleichzeitig ab, die eine oben, die andere unten. Sie ziehen und halten sich gegenseitig durch das Drahtseil. In der Mitte treffen sie sich. Hast du's verstanden?« Herbert fühlte sich stets verpflichtet, wenn er etwas gelernt hatte, sein Zwillingsschwesterchen zu belehren.
»Wenn das olle Drahtseil aber reißt?« war alles, was Suse davon begriffen hatte.
Auch die Mutter hörte nichts von den technischen Auseinandersetzungen. Sie blickte still und andächtig auf das herrliche Landschaftsbild. Der Golf, der wie ein leuchtendblauer Gürtel die weißen Häuser Neapels umschlang, rings umkränzt von zartviolettem Gebirge, den Apenninen, aus denen der Vesuv so harmlos herausragte, als ob er kein Wässerchen trüben könne – als hätte er nie blühende Städte und lebensfreudige Menschen unter seinem glühenden Aschenregen begraben. Und dann glitt ihr Blick wieder von der Landschaft da draußen zu dem sonnengebräunten Gesicht ihres Gatten, und Dankbarkeit durchströmte sie, daß man endlich wieder vereint war. Wenn ihre Zwillinge auch liebe, gutgeartete Kinder waren, der Vater hatte den beiden während des Jahres, das er allein in Neapel zugebracht, doch recht gefehlt. Das empfand sie jetzt erst aufs neue, als sie beobachtete, mit welcher Freude er den Kindern alles ihnen Fremde erklärte und ihre Kenntnisse dabei bereicherte.
Es war, trotzdem man erst im April war, recht heiß in der Mittagsstunde. In der Via Roma, der Hauptverkehrsstraße Neapels, in der das geschäftliche Treiben, der Fremdenstrom und das Volksleben sich abspielt, wurde einem ganz wüst im Kopf. Peitschenknall und Wagengerassel, unverständliches Geschrei von allerhand Waren ausbietenden Händlern. Die Zwillinge sperrten hier Augen und Ohren auf.
Besonders ein Korallen- und Mosaikschmuck verkaufender Italiener