Birgit Davidian

Mord beim Gloriasingen


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Platzes war Tradition und sollte die absolute Konzentration auf den Chorgesang unterstützen. In der Eiseskälte leuchtete nun neben dem Sternenhimmel nur die Kirchturmspitze: Auf der barocken Balustrade unterhalb des Zwiebelturms hatten sich vier Bläser und zahlreiche Chorkinder versammelt, jedes zweite hielt eine Laterne. Die Spannung stieg, als endlich der erste Schlag der Kirchenglocke ertönte. Nach sieben Schlägen erklangen die Posaunen. Dann endlich sang der Kinderchor "Gloria in excelsis Deo“ in Anlehnung an das Weihnachtsevangelium von Lukas und danach "Dies ist der Tag, den Gott gemacht" von Christian Fürchtegott Gellert. Nach jeder Strophe kehrte wiederum Stille ein, da Bläser und Sänger jeweils auf die andere Seite des Turms rückten, damit der weihnachtliche Lobpreis in alle vier Himmelsrichtungen gesungen würde.

      Nick stand am Rande der Menschenmenge. Weit und breit kein bekanntes Gesicht. Er hatte vergeblich gehofft, Clarissa zu treffen, es war sogar derart dunkel, dass er selbst seine eigene Mutter nicht erkannt hätte. Was tat er hier überhaupt? Eigentlich mochte er keine Chormusik. Der kleine Junge neben ihm schien sich auch zu langweilen, löste sich von der Hand seiner Mutter und machte Anstalten, wegzulaufen. Dabei rempelte er Nick an, worauf er von seiner Mutter streng ermahnt und eingefangen wurde. Eine Gruppe chinesischer Touristen hielt ihre Selfie-Sticks in die Höhe.

      Nun begann endlich die zweite Strophe. Alle starrten wieder andächtig empor. Der sonst so harmonische Gesang klang plötzlich holprig und die getragenen Kerzen auf dem Turm wackelten unruhig im Geschiebe auf der engen Turmbrüstung. Nick versuchte genauer hinzuschauen, aber die Turmspitze war zu weit entfernt und zu dunkel. Plötzlich erschall ein hektisches Rufen vom Turm. Ein Schatten schob sich durch die Streben der Brüstung, fiel vor dem Turm hinunter, prallte am Vordach ab und stürzte weiter. Wie in Zeitlupe sah die Gemeinde mit angehaltenem Atem, wie die Gestalt mit einem dumpfen Geräusch am Boden aufschlug. Nur wenige Fassungslose erkannten im Dunkel die Umrisse der zartgliedrigen, alten Frau. Ihre verdrehten Gliedmaßen waren zerschmettert. Langsam sickerte ihr dunkelrotes Blut auf das Kopfsteinpflaster. Einer der Zuschauer in vorderster Reihe, ein Lehrer vom Archigymnasium, neigte sich über den auf dem Bauch liegenden Leichnam, machte die Lampe seines Handys an und rief: „Das ist doch Herta Schneider, oh mein Gott! Die Chorleiterin!“

      Das hysterische Schreien und Weinen der Chorkinder und Zuschauer übertönte den Klang der zerberstenden Posaune, die einem der Bläser aus der Hand gefallen war.

      Dann setzte das ohrenbetäubende Glockengeläut des Doms ein, gefolgt von allen anderen Soester Kirchen.

      Nick schob sich durch die Menschenmenge, hin zum Ort des Geschehens. Solange die Polizei nicht alles absperrte, würde er wachsam sein. Wer wusste schon, wozu es nützlich sein konnte. Immerhin war er als Privatdetektiv sicher ein besonders aufmerksamer Zeuge. Er prägte sich den ersten Eindruck ein, den das Opfer auf ihn machte. Sie musste sofort tot gewesen sein, bei der Höhe. In der Dunkelheit konnte er aber kaum etwas erkennen, zumal die Dame einen dicken Mantel trug. Dann bezog Nick Position zwischen Opfer und Kircheneingang und beobachtete die Reaktionen der Passanten. Bis der Chor vom Turm herunterkam, würde es noch dauern, zu steil war der Abstieg. Menschen liefen kreuz und quer über den Platz, vor allem Familien mit kleinen Kindern wollten diesen Ort des Schreckens so schnell wie möglich verlassen. Andere jedoch, insbesondere Jugendliche und Touristen, brannten darauf, dieses Spektakel für die Nachwelt festzuhalten und filmten mit ihren Handykameras die Panik und die Tote. Das öffentliche WLAN-Netz brach fast zusammen, als die Anwesenden ihre Facebook-Accounts mit Fotos und Statusmeldungen über ihre persönliche Sicherheit und einen vermeintlichen Terroranschlag aktualisierten. Dann hörte man das Herannahen der Polizeisirenen.

      5

       „Stille Nacht, heilige Nacht“

      Das hatte ihm gerade noch gefehlt: Heiligabend auf Einsatz! Seine Frau hatte schon den Braten in der Röhre und war stinksauer. Die Kinder würden die Bescherung dieses Jahr ohne ihn erleben. Kommissar Meik Schulte war zunächst zum Tatort gefahren, wo glücklicherweise die Kollegen bereits alles abgesperrt hatten. Viel war nicht zu tun, er überließ jetzt der Spurensicherung das Feld, um die Angehörigen zu befragen. Die Nichte des Opfers war am Tatort so aufgelöst gewesen, dass man sie erstmal nach Hause geschickt hatte. Er parkte vor einem imposanten Flachbau. Das rötliche Ziegelmauerwerk und die große Eingangsüberdachung hoben sich stark von den umstehenden Häusern ab. Nachdem er geklingelt hatte, öffnete ihm ein älterer Herr.

      „Schulte, Kripo Soest. Entschuldigen Sie die Störung, aber ich muss Sie und Ihre Familie zu dem tragischen Todesfall am Petrikirchhof befragen. Darf ich reinkommen?“

      „Aber sicher, Sie müssen ja Ihre Arbeit erledigen.“ sagte der behäbige Mann und trat zur Seite.

      „Sie sind Heinz Schneider, der Bruder der Toten?" fragte Schulte.

      „Ja, so ist es, es ist schrecklich, wir sind alle noch fassungslos über dieses Unglück. Wie konnte sie nur runterstürzen? Furchtbar. Marlies, machst du mal Kaffee für den Kommissar? Sie möchten doch Kaffee?“

      „Ja, sehr gerne, es ist zwar schon spät, aber Kaffee fördert ja bekanntermaßen das Denkvermögen, nicht wahr?“ setzte er schmunzelnd hinzu, froh über das Angebot. Wenigstens höfliche Leute, da hatte er ja meistens mit ganz anderer Klientel zu tun: Den ganzen Kleinkriminellen und Banden, die Soest im letzten Jahr einen achtzig prozentigen Anstieg der Wohnungseinbrüche beschert hatten. Sie machten sich den Umstand zunutze, dass Soest und einige umliegende Dörfer direkt an der A44 lagen. Schon im Mittelalter eine bekannte Handelsstraße und Zubringer für Pilger des Jakobswegs, diente der „westfälische Hellweg“ nun als schneller Fluchtweg nach Osteuropa.

      „Sie und Ihre Nichte waren ja Zeugen des Unfalls, deshalb habe ich einige Fragen. Ist Ihre Tochter inzwischen wieder ansprechbar?“

      „Na ja, es wird schon gehen. Marlies, hol Eva von oben und gib ihr einen Cognac, damit sie sich endlich beruhigt.“

      „Ihre Frau war nicht mit beim Gloriasingen?“

      „Nein, die hatte ja die Gans im Ofen. Normalerweise wäre ich auch nicht hingegangen, aber unsere Tochter Eva ist gerade zu Besuch und hatte sich darauf gefreut. Wir haben früher immer Weihnachten so gefeiert: Erst zum Gloriasingen, dann haben wir Tante Herta mit zu uns genommen zum Essen und zur Bescherung. Sie hatte ja sonst niemanden, wissen Sie? Keinen Mann, keine Kinder. Außer natürlich den Chor-Kindern. Sie war ja schon viele Jahre Chorleiterin.“

      „Das heißt, sie hat auf dem Turm den Chor dirigiert?“

      „Ja, sicher. Jedes Jahr zu Weihnachten war sie auf dem Petrikirchturm. Sie hatte wohl schon oft erzählt, wie schwer ihr der Treppenaufstieg fiel, sie war ja nicht mehr die Jüngste…“

      „73?“ sagte Schulte mit Blick auf sein Notizbuch.

      „Genau. Der Chor war ihr Ein und Alles, dafür hat sie gern die Strapazen in Kauf genommen: Jede Woche Chorprobe im Archigymnasium und Sonntag in der Petrikirche. Und eben die steilen Treppen einmal im Jahr. Wenn man sonst nie Treppen steigt, schafft man das halt nicht.“

      Marlies Schneider brachte den Kaffee.

      „Guten Abend, Herr Kommissar. Milch und Zucker? Entschuldigen Sie, meine Hände zittern richtig, es ist grauenvoll, was mit Herta passiert ist.“

      „Setzen Sie sich doch bitte zu uns, Frau Schneider.“ sagte Schulte.

      „Was ist denn jetzt mit Eva? Eva! Komm runter!“

      „Sie macht sich nur nochmal frisch, war ganz verweint, das arme Ding.“

      „Wie war denn Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester beziehungsweise Ihrer Schwägerin?“ fragte Schulte.

      Marlies antwortete: „Gut natürlich, sie war jeden Mittwoch bei uns zum Kaffee. Sonst hatte sie ja keine Familie.“

      „Ja, das sagte ich schon. Ich arbeite ja immer noch in unserer Apotheke, deshalb habe ich sie nur selten gesehen, also eben ganz normal zu Geburtstagen, Feiertagen. Oder natürlich in der Apotheke. Sie war ja ständig krank. Hat auch Antidepressiva genommen. Hat aber wenig genützt.“

      „Jetzt hör doch auf, Heinz.“ versuchte