Birgit Davidian

Mord beim Gloriasingen


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gewesen. Aber nachdem Herta…“

      Tränen stiegen ihm in die Augen.

      „So ein tragisches Ende.“ flüsterte er kopfschüttelnd. „Ein Schock für die gesamte Gemeinde. Haben Sie die Blumenkränze und Grablichter am Südportal gesehen? Ich hatte noch überlegt, meine Christnacht-Predigt zu ändern, gewissermaßen an die Situation anzupassen, aber die zwölf Mitglieder des Presbyterium hatten in einer sofort einberufenen Sondersitzung beschlossen, die Christnacht abzusagen. Einen solchen Vorfall hatten wir noch nie in unserer tausendjährigen Geschichte. Abgesehen von 1945, als zwischen St. Patrokli und St. Petri die Luftmine niederging. Und 1702, da zerstörte ja ein Blitzschlag den Turm und mit ihm die Glocken. Wissen Sie, wir haben eine äußerst reiche Geschichte, 1152 hat sogar Kaiser Barbarossa unsere Kirche besucht.“

      Schulte schwirrte der Kopf.

      „Entschuldigen Sie, ich gerate ins Plappern, wissen Sie, das macht mich doch alles sehr nervös.“

      „Ach ja?“ fragte Schulte und überlegte, ob die Nervosität noch eine andere Ursache hatte.

      „Kommen Sie, wir setzen uns, Sie haben sicher einige Fragen an mich.“ sagte Matthei und leitete ihn zurück in Richtung Eingang. Am Säulengang bog er nach links ab und wies auf eine einladende, aber extrem exponierte Sitzgelegenheit: Die gepolsterte Sitzbank hatte einen hohen Baldachin aus dunklem Holz und stand leicht angewinkelt in den Raum hinein, auf den Altar blickend. Davor leuchtete ein vielarmiger Kerzenständer in Form eines Dornbuschs.

      „Danke.“ sagte Schulte und setzte sich, ohne sich anzulehnen. „Es tut mir leid, ich habe gehört, Sie und das Opfer standen sich nah?“

      „Ja, Herta war jahrzehntelang ein sehr aktives Gemeinde-Mitglied. Sie hat ja neben der Chorleitung auch an unserer Konzertreihe mitgewirkt und in unseren Kinderkreisen die musikalische Früherziehung angeleitet. Auch bei unserem internationalen Frauentreff war sie fast jeden Mittwoch dabei. Eine sehr engagierte Frau. Unersetzlich ehrlich gesagt. Sie wird eine große Lücke hinterlassen.“ berichtete der Pfarrer.

      „Interessant. Und privat? Da haben Sie sich doch sicher auch gut verstanden?“

      „Wie meinen Sie das? Es fällt mir etwas schwer, die Gemeindearbeit von meinem Leben als solchem zu trennen, das ist sicher bei anderen Berufen etwas anderes, aber ich lebe ja meine Berufung, Sie verstehen? Und viele Aktivitäten laufen bis in die Abendstunden. Herta ist jedoch schon mehrfach auf unsere diakonischen Exkursionen mitgefahren. Wir sammeln Spenden für verschiedene Entwicklungshilfe-Projekte in Afrika. Einmal im Jahr besuche ich die Projektpartner vor Ort, um die Spenden zu übergeben. Herta war eine weitsichtige und großherzige Person, der das Elend in der dritten Welt sehr zugesetzt hat. Sie wollte tun, was sie konnte, um die Welt gerechter zu machen.“ erläuterte Matthei.

      „Und da sind Sie sich dann auch persönlich näher gekommen?“ fragte Schulte.

      „Ja, sicher. Wenn man die Dankbarkeit und Freude der Ärmsten der Armen erlebt, das berührt einen tiefer als alles andere. Bei allem Leid spüren sie doch solche Lebenslust und ja, auch Großzügigkeit, in ihren Möglichkeiten. Solche Erlebnisse der Menschlichkeit, über alle sprachlichen und kulturellen Grenzen hinweg, schaffen ein starkes Band zwischen den Beteiligten.“

      „Äh, ja, und war da auch Liebe im Spiel?“ presste Schulte verunsichert von der kryptischen Ausdrucksweise des Pfarrers hervor.

      „Eine große Liebe, so kann man es sagen. Wer Gott im Herzen trägt, so wie Herta, der verteilt die Liebe großzügig an die Bedürftigen.“

      „Verstehe.“ entgegnete Schulte. Langsam wurde es peinlich, er war wohl auf dem Holzweg, was amouröse Aktivitäten unter den beiden Alten anging. Sowieso eine absurde Vorstellung. „Erzählen Sie mir doch bitte genau, was gestern geschah. Waren Sie mit auf dem Turm, als Frau Schneider hinabstürzte?“

      „Nein, der Chor geht üblicherweise bereits während der Christvesper nach oben, so dass das Gloriasingen direkt im Anschluss an unseren Gottesdienst beginnen kann. Ich stand daher noch auf der Kanzel.“

      „Aber Sie haben Frau Schneider vor dem Unglück noch gesprochen?“

      „Sicher, Sie kam schon vor der Christvesper mit dem Chor, wir haben uns wie immer herzlich begrüßt.“

      „Und ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen an ihrem Verhalten? Wirkte sie nervös oder belastet?“

      „Nein, sie freute sich natürlich wie jedes Jahr sehr auf diesen Höhepunkt des Festes. Aber jetzt wo Sie es sagen, sie war etwas blass und hatte wohl auch Kopfweh, jedenfalls konnte ich sehen, dass sie sich die Schläfen massierte, als sie hinten mit den Kindern wartete. Ich habe gedacht, sie wird sich wohl erkältet haben, die Gute. Das ist ja nicht ungewöhnlich im Dezember.“

      Die Tür fiel quietschend ins Schloss. Vier Herren traten ein.

      „Oh, da kommen ja unsere Bläser.“ sagte der Pfarrer. Christian Stussek, Herbert Achendorf, Meinolf Deelke und Stefan Biese traten wortlos näher und umarmten nacheinander den Pfarrer. Alle wirkten erschüttert und übernächtigt.

      „Kommissar Schulte, Kreispolizeibehörde Soest“ stellte sich Schulte vor, sprang auf und schüttelte ihnen die Hände. „Es freut mich, dass Sie alle zusammen kommen konnten. Das dient der Rekonstruktion der gestrigen Geschehnisse ganz enorm. Ich möchte gerne, dass Sie mir ganz genau zeigen, wie das Gloriasingen abgelaufen ist. Sie haben sich alle zur Christvesper schon getroffen?“

      „Ja.“ antwortete Meinolf Deelke, während alle nickten. „Wir warteten während des Gottesdienstes in den hinteren Reihen, zusammen mit den Kindern, und gingen kurz vor Ende der Vesper hoch auf den Turm.“

      „Dann zeigen Sie mir doch bitte ganz genau, wer wo gestanden hat.“ forderte Schulte sie auf.

      Die Gruppe setzte sich in Bewegung, der Pfarrer schloss die Tür zur Turmtreppe auf und gemeinsam stiegen sie die ausgetretene steinerne Wendeltreppe hinauf. An der Empore mit der Orgel hielt Meik Schulte kurz inne.

      „In welcher Reihenfolge sind Sie denn hochgelaufen? Wer stand direkt beim Opfer?“

      „Frau Schneider ist immer vorneweg gelaufen mit den Kindern. Der Chor stellt sich unten schon genauso auf, wie gesungen wird: Sopran eins, Sopran zwei und als letztes der Alt. Wir Bläser sind die Nachhut.“ erklärte Deelke.

      „Das heißt, keiner von Ihnen lief unmittelbar hinter Frau Schneider?“ ärgerte sich Schulte.

      „Genau.“ erwiderte Deelke schulterzuckend.

      Sie stiegen die nächste Wendeltreppe hinauf, gefolgt von einer noch engeren, steilen Holztreppe, vorbei an den Glocken. Schulte hoffte, dass sie nicht anfingen zu läuten. Das Gehölz knarrte bei jedem Schritt und wirkte wenig vertrauenerweckend. Alles war sehr beengt und eindeutig nicht dafür gedacht, von derart vielen Leuten begangen zu werden. Oben öffnete Matthei die kleine Holztür und sie traten hinaus in die Kälte auf die Balustrade. Der Wind pfiff eisig. Schulte war außer Puste.

      „Wie kann denn eine Dreiundsiebzigjährige hier hochsteigen, ohne auf dem letzten Loch zu pfeifen?“ echauffierte er sich. Die Bläser lächelten verlegen. Peer Matthei blinzelte Schulte verschmitzt zu und brabbelte etwas von Nordic Walking.

      „Wo genau hat denn nun Frau Schneider gestanden, als es losging?“ Deelke wies auf die dem Platz seitlich abgewandte Ost-Seite.

      „Und dann gehen wir im Uhrzeigersinn nach jeder Strophe zur nächsten Seite, also nach Süden, dann Westen und schlussendlich Norden“.

      Gemeinsam schritten Sie Seite um Seite ab. Der größte Teil der Fläche wurde vom quaderförmigen Turmspitzensockel eingenommen. An den Ecken erhoben sich die Seitenwände gefährlich, so dass man die Füße anheben musste, um nicht hängenzubleiben. Der Boden war uneben und provisorisch mit winzigen Holzlatten ausgelegt. Es war unglaublich eng, um die Turmspitze herum konnte man kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Schulte war froh, dass er keine Ledersohlen anhatte. Mühsam unterdrückte er seine Höhenangst. Auf einmal peitschte der Wind ihm regelrecht um die Ohren und er klammerte sich an die Balustrade.