Birgit Davidian

Mord beim Gloriasingen


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doch niemals vergessen. Und wie sie da am Boden lag…“

      Eva kamen die Tränen. Der Kellner, peinlich berührt als er sah, dass er im falschen Augenblick zum Tisch kam, wollte schon beidrehen, da rief ihm Heike hinterher: „Zwei Cappuccino und zwei stille Wasser, bitte“. Als echte Freundinnen wussten die beiden, was die präferierten Getränke zu jeder Tages- und Nachtzeit waren.

      „Denkst Du etwa, sie ist gestoßen worden? Das wäre ja Mord! Mein Gott. Dann kann es nur ein Kind oder einer der Bläser gewesen sein und das hätte wohl jemand vom Chor mitbekommen, meinst Du nicht?“

      „Das schlimmste ist, dass dieser Kommissar den Chor und die Bläser überhaupt noch nicht befragt hat. Außerdem haben die wohl alle Urlaub. Das kann doch nicht sein, dass das jetzt wie auf ´nem Amt seinen sozialistischen Gang geht.“ erklärte Eva verzweifelt.

      In dem Moment neigte sich der leicht zerknitterte Typ mit dem Drei-Tage-Bart vom Nachbartisch zu ihnen, zog eine Augenbraue hoch und sagte mit sonorer Stimme:

      “Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber ich glaube, ich könnte Ihnen behilflich sein.“

      Mit diesen Worten reichte er Eva seine Visitenkarte.

      7

       „Morgenstund hat Gold im Mund.“

      Meik Schulte fühlte die angenehme Genugtuung des pflichtbewussten Mannes: Trotz des Feiertags war er um sechs Uhr dreißig aufgestanden, denn er wollte bereits um acht Uhr die Wohnung der Verstorbenen zu inspizieren. Um zehn Uhr würde er den Pfarrer treffen und kurz darauf die vier Bläser. Er hatte alles perfekt organisiert. Der Staatsanwalt in Dortmund wollte bis sechszehn Uhr informiert werden. Ihm graute schon vor einem anstrengenden Telefonat, aber dank seiner hervorragenden Arbeit würde er bis dahin den Fall – vor allem wenn es Selbstmord war - vielleicht schon gelöst haben und in die wohlverdiente Urlaubswoche gehen können. Seine Frau Ute wollte mit ihm und den Kindern direkt nach dem Fest ein paar Tage Urlaub in Willingen verbringen. Die Kinder würden in die Skischule gehen und er könnte mit Ute Wellness machen. So etwas Entspannung tat dem Eheleben doch richtig gut. Er hatte sich nicht lumpen lassen und ein Superior Zimmer im Hotel Sauerlandstern gebucht. Da gab es immer die besten Silvester-Partys. Ute würde begeistert sein und sich hoffentlich anerkennend und anschmiegsam zeigen.

      Er parkte an einer der großen Ausfallsstraßen außerhalb der Stadtmauer und betrat die Mietskaserne, in der Herta Schneider die letzten vierzig Jahre gelebt hatte. Hier lebten viele Aussiedler, Migranten und sozial Benachteiligte. Im Treppenhaus roch es nach Kohl. Schulte schimpfte über ein an der Wand lehnendes Kinderfahrrad, an dessen angerostetem Stützbein er mit der Hose hängenblieb.

      Die Wohnung lag im zweiten Stock. Nachdem er aufgeschlossen hatte, fand er sich in einem kleinen Flur wieder, in dem sorgfältig auf Bügel gezogen eine Strickjacke, eine Regenjacke und darüber ein kleiner schwarzer Hut an der Garderobe hingen. Er ging weiter ins Wohnzimmer. Die Einrichtung war geschmackvoll, die hellen Farben von Tapeten und Vorhängen wirkten freundlich. Ein Adventskranz schmückte den kleinen Couchtisch, daneben standen ein einladender Sessel mit einer Leselampe und ein großes Bücherregal. Er war erstaunt, keinen Fernseher in der Wohnung zu finden.

      „Viel zu vererben hat die wohl nicht.“ dachte Schulte. Er ging weiter ins Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch lag ein aufgeschlagenes Buch, das er zur Hand nahm: „Berühmte Frauen der Zwanziger Jahre“.

      „Alter Schinken, dass Frauen immer im Bett noch lesen müssen.“ dachte er kopfschüttelnd und ging weiter ins Badezimmer. Es war klein, ohne Fenster und gelb gefliest. Ein Strauß getrockneter Blumen stand neben dem Waschtisch. Darüber ein Kosmetikschrank, den er öffnete. Hier fand er einige Medikamente: Aspirin, Venendragees, Anafranil. Das letzte trug den Aufdruck „Antidepressivum“.

      „Sieh einer an. Da hatte der Bruder also recht.“ dachte Schulte. Er steckte die Schachtel ein und ging weiter in die Küche. Neben dem Herd standen eine reich gefüllte Obstschale, in der eine Banane bereits erste braune Flecken bekam, sowie ein mit orientalischen Schnitzereien verziertes dunkles Holztablett mit unzähligen exotischen Gewürzen. Auf dem kleinen Esstisch lag DIE ZEIT vom letzten Donnerstag, aufgeschlagen war der Kulturteil. Das Volumen der Zeitung irritierte Schulte etwas. Er las täglich den Soester Anzeiger, so wie seine Frau, seine Eltern und alle seine Freunde. Da war für jeden was dabei: Er las den Sportteil, seine Frau den Lokalteil mit den neuesten Nachrichten über die Veranstaltungen der Landfrauen, der Bürgerschützen und Kleintierzuchtvereine. Erst letzte Woche war wieder ein Bild seiner Tochter darin gewesen, vom Schulfest. Das war eine richtig gute Zeitung. Oft klebten auch Rabattmarken vom Metzger auf dem Titelblatt.

      Zerstreut griff Schulte nach dem handgeschriebenen Zettel, der halb von der Zeitung verdeckt war. In krakeliger Schrift stand da: „Ich kann nicht mehr. Entschuldigt. Herta.“

      „Bingo!“ dachte Meik Schulte und konnte sich ein siegessicheres Lächeln nicht verkneifen.

      8

       „Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“

       Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper

      Er saß im Keller und betrachtete seine Preziosen. Sorgsam hatte er die Tür hinter sich verschlossen und nur die blasse Campinglampe eingeschaltet. Es würde ohnehin kein Lichtschein durch den Türspalt dringen. Dafür war das Versteck zu sorgfältig gebaut worden. Seine Hand zitterte, als er zum Schnapsglas griff und sich einschenkte. Jetzt war es also geschehen. Er hatte es kommen sehen, schon lange. Aber er hätte einen anderen Zeitpunkt wählen sollen. Andererseits hatte dieses fulminante Ende etwas zutiefst befriedigendes.

      Sie war selber schuld. Sein Vater hätte es genauso gemacht, da war er sicher. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dass er es erst so spät begreifen sollte, kam ihm immer noch rätselhaft vor. Die väterliche Seite seiner Familie hatte eben nie viele Worte gemacht. Sie taten, was getan werden musste. Im Gegensatz zu den Frauen. Wie sehr sie sich doch unterschieden. Wie konnte das möglich sein? Es war wie eine unglückliche Verkettung zweier Spezies. Über Generationen hinweg. Aber er würde sich nicht unterkriegen lassen. Dafür hatte er gesorgt.

      9

       „miserere m(e)i d(omi)ne“ (Erbarme Dich meiner, Gott)

       Inschrift auf dem wertvollsten Abendmahlskelch von St. Petri

      Meik Schulte war kein regelmäßiger Kirchgänger. Durch die zahlreichen Kindstaufen im Freundeskreis hatte er jedoch schon einige der zahlreichen Soester Kirchen von innen gesehen. Nicht aber die Petrikirche. So rüttelte er naheliegender Weise zuerst an der großen Bronze-Pforte am Petrikirchhof, bevor er den Hinweis las, dass der Eingang auf der Schmalseite hinter dem Turm lag. Stöhnend vor Ärger und Anstrengung gleichermaßen öffnete er also die richtige, massive Holz-Pforte und stürzte fast zu Boden: Nicht aus Gottesfürchtigkeit, sondern weil er die fünf steinernen Stufen hinab nicht bemerkt hatte.

      „Was zum Teufel…“ fluchte er und erschrak sogleich vom Widerhall seiner Stimme in dem gewaltigen gotischen Kirchenschiff. Nun doch etwas peinlich berührt, schlich er leise in Richtung des seltsam modernen gläsernen Altars. Die Wintersonne schien gleißend durch die blau-grünen Fenstermalereien und tauchte das Innere in ein unwirkliches Licht. Als Schulte an der reich geschmückten barocken Kanzel aus hellem Stein zu seiner rechten vorbeiging, fiel sein Blick auf die entrückten Gesichter der Mariendarstellungen. Er fühlte sich leicht unwohl.

      „Guten Morgen!“ erhallte eine angenehme Stimme. „Sie müssen Kommissar Schulte sein.“ sagte der Pfarrer und streckte milde lächelnd seine rechte Hand aus. Schulte drehte sich ruckartig um.

      „Herr Pfarrer? Äh…“

      „Matthei, Peer Matthei ist mein Name, ich bin Pfarrer der St. Petri-Pauli-Gemeinde und Vorsitzender des Presbyteriums, wir hatten telefoniert, wenn ich nicht irre?“

      Schulte war erstaunt, einen leger gekleideten Herrn vorzufinden. Er schätzte ihn auf Anfang sechzig, mit seinen Knitterfältchen