Horst Fesseler

Das Böse wartet schon


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Sabine wissen und schaute Carmen besorgt an.

      „Nein, nein. Doch! Mir war so, als hätte ich da eben eine fremde Gestalt im Spiegel gesehen. Aber als ich mich umdrehte, war sie verschwunden“, entgegnete Carmen mit monotoner Stimme.

      Forschend suchte sie mit ihren Augen die Umgebung ab, und bemerkte, wie Sabines Blicke ihr dabei aufmerksam folgten.

      „Da ist aber niemand, der nicht hierher gehört!“, bemerkte Sabine. „Keiner, der ungewöhnlich oder erschreckend wirkt. Du musst dich getäuscht haben. Überhaupt bist du in letzter Zeit ziemlich abwesend. Der Tod von Heiko hat dich doch sehr mitgenommen. Ich denke, wir sollten mal einen kurzen Urlaub machen. In die Berge fahren, oder einfach nur zu deinem Ferienhaus im Schwarzwald. – Was hältst du davon?“

      Carmen zuckte mit den Schultern, denn sie brauchte Zeit, um sich in Ruhe mit dieser Idee vertraut zu machen. Vielleicht hatte Sabine ja Recht mit ihrer Idee, und sie sollte sich ein paar Tage Urlaub gönnen, einfach nur durchatmen, entspannen und sich erholen. Danach sah die Welt bestimmt viel besser aus. Dennoch hatte sie Zweifel, zu viel Arbeit hatte sich in der Firma angesammelt.

      „Ich weiß nicht so recht, ich kann mir jetzt keine Freizeit erlauben, habe jede Menge im Büro zu tun“, meinte Carmen.

      Sabine sagte nichts, nickte nur knapp und machte sich wieder auf die Suche nach einem geeigneten Kaffeeautomaten. Carmen schaute sich indessen weiter bei den Bücherregalen um. Den mit Spiegelglas verkleideten Pfeiler musterte sie dabei mit kritischen Blicken. So ganz geheuer kam ihr das alles nicht vor. Immer wieder wandte sie ihren Kopf beim Stöbern in den Bücherreihen dem Spiegel zu. Einmal glaubte sie, einen Schatten bemerkt zu haben, und drehte sich ruckartig um. Im gleichen Moment materialisierte sich vor ihren Augen aus dem Spiegel heraus eine männliche Gestalt, ganz glasig zwar, aber dennoch deutlich erkennbar. Für den Bruchteil von Sekunden verschwand die Erscheinung wieder, um dann wie aus dem Nichts erneut aufzutauchen.

      Verlegen blickte sich Carmen nach Sabine um. Weit und breit war nichts von ihr zu sehen. Wo steckte sie bloß? Wenn sie jetzt hier wäre, könnte sie dieses Phantom auch sehen. Wieder hasteten Carmens Augen über die Regale. Jetzt erst fiel ihr die menschenleere Kaufshausetage auf. Kein einziger Kunde war zu sehen, Carmen befand sich vollkommen alleine zwischen Regalen, Vitrinen und Kleiderständern. Verängstigt starrte sie die schemenhafte Erscheinung vor dem Spiegel an.

      „Was soll das?“, stieß sie beklommen und mit zitternder Stimme hervor. „Verschwinde endlich! Weg da! Dich gibt es nicht wirklich, du bist nur eine blöde Einbildung meiner verwirrten Fantasie.“

      Das Phantom schien von Carmens Worten unbeeindruckt zu sein und kam näher. Plötzlich ertönte eine Stimme, bei deren Klang Carmen erschrocken zusammenzuckte.

      Die Gestalt sprach: „Ich bin real und du weißt das genau, denn ich bin dir erschienen. Mit deinen Augen und mit deinem Geist nimmst du mich wahr. Doch wir sind in zwei verschiedenen Welten: du in der deinen, der materiellen, und ich im Reich der Toten und der Seelen, den feinstofflichen Dimensionen.“

      Carmen wirkte verunsichert und wusste nicht, wie sie reagieren sollte, glaubte sie doch, die Erscheinung sei nur ein Trugbild ihrer Gedanken.

      Zögernd brummte sie: „Und was willst du von mir? Du gehörst nicht in mein Leben ...“

      „Was ist mit deinem Leben? Mit wem sprichst du denn da?“

      Carmen zuckte fast zu Tode erschrocken zusammen. Sabine war unerwartet von hinten aufgetaucht und hatte sie angesprochen.

      Beschämt antwortete sie: „Ach nichts, ich habe nur mit mir gesprochen. Bin verärgert, weil ich hier rumsuche und nicht weiß, was ich eigentlich will. – Komm lass uns von hier verschwinden.“

      Sie zerrte Sabine weiter zur Rolltreppe. Nur raus hier!, ging es Carmen durch den Kopf, sonst fange ich noch an zu spinnen. Weg von diesem Ort, um abzuschalten und auf andere Gedanken zu kommen.

      „He du, warte auf mich, nicht so schnell“, rief Sabine der davonlaufenden Carmen hinterher, „wir versäumen doch nichts. Was ist denn auf einmal los mit dir?“

      Carmen blieb plötzlich stehen und drehte sich abrupt um. Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Sie sah Sabines erstaunten Blick, doch bevor sie etwas sagen konnte, wehrte sie mit einer Handbewegung ab.

      Mit bebender Stimme stammelte Carmen: „Ich habe einen Geist gesehen, gerade eben im Kaufhaus. Er starrte mich mit seinen großen Augen an. Ich weiß nicht, was er wollte. Ich kann auch nicht sagen, ob ich mir das nur eingebildet habe.

      Heiko sah früher auch immer Spukgestalten, die mit ihm redeten, die ihn um den Verstand gebracht hatten. Vielleicht waren es bei ihm auch nur Halluzinationen gewesen. Aber er ist daran zu Grunde gegangen. Es kostete ihn das Leben! Ich möchte nicht, dass mir das gleiche Schicksal widerfährt. Womöglich verfolgen mich jetzt diese komischen Monster ... lachen sich kaputt über meine Angst ...“

      Sabine hatte schweigend zugehört und entgegnete nun, wobei ihre Worte erleichternd auf Carmen wirkten: „Ich glaube dir. Manchmal sieht man aus den Augenwinkeln heraus schemenhafte Gestalten aus fremden Dimensionen oder einer selbst geschaffenen Realität vorbeihuschen. Sobald sie sich beobachtet fühlen, verschwinden sie sofort wieder, wendest du deinen Blick zur Seite, tauchen sie sofort wieder auf, ohne dass du es gewahr wirst. – Du bist abgespannt und mit den Nerven total fertig, aber nicht verrückt. Die Anstrengungen in letzter Zeit haben dich sehr mitgenommen. In dieser Stresssituation kannst du diese Schemengestalt durchaus real wahrgenommen und auch mit ihr gesprochen haben.“

      Sie versuchte, Carmen zu beruhigen, und legte ihren rechten Arm um deren Schulter.

      Doch sie wich geschickt aus und fuhr mürrisch fort: „Stress nennst du das? Einfach nur Stress. Heiko ist tot! Mir wurde ein Teil meines Lebens genommen. Du hast ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Es war die Hölle ... Und da sprichst du von Stress! Etwas Besseres ist dir nicht eingefallen? – Ich bin auch nicht abgespannt oder mit den Nerven runter. Ich habe meinen Mann verloren! Aber du siehst das anscheinend gelassen, denkst, es geht schon irgendwie weiter. Nein, meine Liebe, ich stehe vor einer dicken und hohen Mauer und weiß nicht, wie ich rüberkomme.“

      Mit funkelnden Augen starrte sie Sabine an. Dann wandte sie sich ab und ging langsam weiter. Schweigend folgte ihr Sabine. Keiner von beiden sprach ein Wort, jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Carmen wusste, wie sehr Heiko damals von einer unbekannten Macht gefangen gewesen war, einer Macht, die ihn nicht mehr losgelassen und immer tiefer in einen Sog gerissen hatte. Viele hatten gedacht, er sei verrückt gewesen, wurden dann aber durch seinen tragischen Tod eines Besseren belehrt.

      Als die beiden vor einer roten Fußgängerampel standen und warteten, wandte sich Sabine an Carmen und fragte: „Was war das für ein Kerl? Ich meine, vorhin in dem Kaufhaus ...“

      Carmen antwortete nicht, starrte stattdessen unverwandt auf die Ampel. Nachdem das Männchen auf Grün sprang, lief sie mit Sabine los.

      Im Gehen meinte sie: „Es war nicht irgendein Kerl. Ich meine, kein menschliches Wesen. Er wirkte so durchsichtig. Wie ..., nun wie milchiges Glas. Und er strahlte eine unangenehme Kälte aus, dass mir fröstelte. Und dann verschwand er plötzlich im Nichts.“

      Ihre Stimme klang jetzt bedeutend ruhiger, nicht mehr so aufgeregt und wütend wie noch vor ein paar Minuten. Carmen wirkte gelassener und ohne Emotionen. Sabine redete jetzt auch bedeutend feinfühliger mit ihr. Sie schien ihr offenbar ihren Bericht über die sonderbare Erscheinung zu glauben. Sabine war im Moment der einzige Mensch, den Carmen hatte, und mit dem sie über alle Probleme und Begebenheiten reden konnte.

      Sie machten sich beide auf den Weg zu Carmens Wohnung. Zu Hause angelangt, erzählte Carmen noch mal, was sich im Kaufhaus genau zugetragen hatte. Diesmal hörte Sabine aufmerksam zu, unterbrach die Freundin nicht bei ihrer spannenden Schilderung. Carmen sah es an deren Reaktion, denn sie nickte zustimmend und mitfühlend. Irgendwann am späten Abend verabschiedete sich Sabine von Carmen, nachdem sie ihr hoch und heilig versicherte, alleine klarzukommen.

      Als Sabine dann gegangen war, legte sich Carmen zu Bett und versuchte, Schlaf zu finden. Ein anstrengender und wirklich