Horst Fesseler

Das Böse wartet schon


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zog sie ein paar Schritte zurück. Carmen versuchte, sich dagegen zu wehren. Sie wollte keinen Millimeter von Heikos Seite weichen. Jetzt, beim Abschied für immer, wollte sie ihm ganz nah sein.

      Lange Zeit blieb Carmen in Gedanken versunken am Grabe stehen. Die anderen waren bereits gegangen. Carmen wollte alleine sein und noch einmal mit Heiko reden, ihm all ihre Liebe offenbaren. Er sollte wissen, dass sie nur ihn geliebt hatte, ihm stets treu gewesen war und er unvergesslich seinen Platz in ihrem Herzen haben würde. Nichts würde ihre liebevollen Gedanken an ihn verdrängen.

      Nach einer Weile wandte sich Carmen gesenkten Hauptes und mit tränenunterlaufenen Augen ab und schritt dem Ausgang zu. Sabine saß im Wagen und wartete bereits auf sie. Wortlos hockte sich Carmen auf den Beifahrersitz. Sie fuhren los, zum „Dorfkrug“, wo die Trauergäste sich zum gemeinsamen Essen versammelt hatten. Trostreiche Worte des Beileids wurden ausgesprochen. Man redete pietätvoll über den toten Heiko Strewe, erinnerte sich an viele gemeinsame Ereignisse, an glückliche Momente und Situationen, die dazu beitragen sollten, eine Erklärung auf den plötzlichen Tod des Freundes zu geben. Aber es fand keiner Antworten auf die Frage nach dem Warum.

      Carmen saß fast wortlos am Tisch. Ihr war nicht nach großen und mitleidsvollen Gesprächen zumute. Zu viel ging ihr durch den Kopf, das sie alleine verarbeiten musste.

      Nachdem sich schon alle Trauergäste verabschiedet hatten, brachen auch Carmen und Sabine auf. Es herrschte Dunkelheit, als sie zum Wagen gingen und schweigend durch die Nacht zu Carmens Wohnung fuhren. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, aber die Straßen waren noch immer nass.

      Vor dem Haus angelangt, sprach Sabine: „Soll ich noch mit hochkommen? Vielleicht kann ich etwas für dich tun. Wollen wir noch einen Kaffee trinken?“

      Müde und total abgespannt antwortete Carmen fast lethargisch: „Sei mir bitte nicht böse, Sabine. Du warst mir heute eine sehr große Stütze. – Und ich bin dir sehr dankbar dafür. Aber ich möchte jetzt erst mal alleine sein, brauche unbedingt Ruhe ... viel Ruhe, damit ich über den heutigen Tag nachdenken kann ... Ich hab den ganzen Trubel noch nicht verarbeitet.“

      „Du darfst nicht anfangen zu grübeln, Carmen. Es ist besser, wenn du versuchst, abzuschalten und auf andere Gedanken zu kommen ... Es kann nicht schaden, wenn wir jetzt noch ein paar Minuten reden, bevor du schlafen gehst. Wir sollten reden ... über irgendetwas. Danach fühlst du dich bedeutend wohler.“

      Carmen schaute die Freundin an, die so besorgt wirkte, und zwang sich zu einem gequälten und krampfhaften Lächeln.

      Nach einer kleinen Pause entgegnete sie: „Also gut, für ein paar Minuten. Vielleicht hast du ja Recht. Reden, einfach nur reden. Es wird mir gut tun.“

      Sie stiegen aus und gingen ins Haus. Als Carmen die Wohnungstür öffnete und in den dunklen Flur trat, überfiel sie plötzliche furchtbare Angst. Die Furcht vor der Wirklichkeit rief eine tiefe Beklemmung hervor und würgte ihr in der Kehle. Die unleugbare Realität der Einsamkeit versetzte sie in Panik. Jetzt war sie froh, dass Sabine mitgekommen war. So fiel es ihr wesentlich leichter, die hohe Schwelle zur harten Wirklichkeit zu überwinden. Die Anwesenheit von Sabine gab Carmen Kraft und Mut.

      In Gedanken stellte sie sich vor, dass Heiko jetzt im Wohnzimmer hocken könnte, lächelnd und auf sie wartend. Die Angst vor diesem Trugbild schnürte ihr die Kehle zu, und zwar aus dem Grund, weil sie sich diese Gegebenheit so sehr herbeiwünschte. Ihre Vorstellung war so stark mit Energie gefüllt, dass sie an diese Möglichkeit wirklich glaubte und sich nicht mit der brutalen Wirklichkeit abfinden konnte. Unbewusst schielte sie bereits von der Diele ins Wohnzimmer hinein, zu dem Sessel, in dem Heiko früher oft gesessen hatte. Carmen war dennoch erleichtert, als sie ihn leer fand, sie atmete beruhigt auf. Wie in Trance hängte sie ihre Jacke an die Garderobe und ging mit Sabine in die Küche hinüber.

      „Ich koche uns ganz rasch einen starken Kaffee“, sagte Carmen und goss eine Kanne Wasser in den Automaten.

      Sabine trat vors Fenster und schaute gedankenverloren in die Dunkelheit hinaus. Es begann wieder zu regnen. Im Schein der Straßenlaterne spiegelten sich die Regentropfen in einer Pfütze.

      „Ein Sauwetter ist das“, meinte Sabine, nur um etwas zu sagen. „Aber morgen soll es ja wieder besser werden.“

      „Was soll’s. Ist doch vollkommen egal“, brummte Carmen fast teilnahmslos.

      Der Kaffee war schon durchgelaufen. Sie füllte zwei Tassen voll und reichte eine davon Sabine.

      „Zucker, Milch?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

      Sabine schüttelte den Kopf. „Danke. – Komm lass uns ins Wohnzimmer gehen. Da sitzt es sich bequemer.“

      Die beiden gingen nach nebenan. Als Carmen das Licht anknipste, überkam sie wieder dieses komische würgende Gefühl. Ein Kloß, der ihr im Halse saß, rief ein beklemmendes Unbehagen hervor. Carmen schaute sich forschend im Zimmer um, aus Angst, irgendwo könne Heiko stehen und sie, mit verschränkten Armen gegen die Wand gelehnt, hämisch angrinsen. Alleine der Gedanke daran jagte ihr Furcht ein. Doch es war alles ruhig. Und die Worte von Sabine lenkten sie von ihren Grübeleien ab. Die zwei Frauen saßen eine Weile zusammen und redeten, was ihnen gerade so einfiel. Einige Zeit später aber wollte Carmen für sich sein, und Sabine verabschiedete sich von ihr.

      Nachdem Carmen kurz darauf alleine war, goss sie sich noch einen Kaffee ein und setzte sich ins Wohnzimmer. Sie rauchte eine Zigarette und dachte an all die schönen Augenblicke der vergangenen Jahre, die in Sekundenbruchteilen an ihr vorbeizogen. Carmen spürte, wie ihr nun die Tränen an den Wangen herunterliefen. Wie sollte sie mit dieser trostlosen Einsamkeit, der Leere ihres Lebens, bloß fertig werden? Wenn doch Heiko einfach zur Tür hereinkommen würde, so als sei dieser schreckliche Tod gar nicht wahr. Weshalb konnte es kein Traum sein, aus dem sie jeden Moment erwachen würde? Warum traf ausgerechnet sie ein solch schwerer Schicksalsschlag?

      Sie drückte die Zigarettenkippe im Aschenbecher aus und schlürfte den restlichen Kaffee. Noch einmal ging sie durch alle Räume, überzeugte sich, dass die Wohnungstür verriegelt war, und legte außerdem die Sicherheitskette vor. Carmen schaute in jedes Zimmer, in die Schränke, hinter die Gardinen, unter die Betten. Nach den emotionalen Strapazen des vergangenen Tages konnte sie ihre Gefühle nicht von jetzt auf gleich abschalten. Die Furcht vor umherspukenden Geistern irrte durch ihren Kopf. Deshalb blieb auch die ganze Nacht im Schlafzimmer das Licht eingeschaltet. Carmen wäre sonst vor Angst gestorben, sie fürchtete sich im Dunkeln, gerade jetzt unmittelbar nach der Beisetzung von Heiko, vor ungewissen Alpträumen und Schattengestalten aus der Unterwelt.

      Verzweifelt versuchte Carmen, wach zu bleiben, um nachdenken zu können. Immer wieder gingen ihr die gleichen Gedanken durch den Kopf. Sehr spät in der Nacht schlief sie dann aber doch völlig übermüdet und erschöpft ein, sie schlief tief und fest. In ihren Träumen tauchten wirre Bilder von schemenhaften, schrecklichen Gestalten auf. Dazwischen ständig das Gesicht von Heiko und viele gemeinsame vergangene Erlebnisse, glückliche Augenblicke.

      Als Carmen am nächsten Morgen nach einer qualvollen Nacht erwachte, war sie noch vollkommen gerädert. Ihr Kopf dröhnte wie nach tausend Hammerschlägen. Wie sollte sie nur diesen Tag überstehen? Erst nach einer Tasse Kaffee fühlte sie sich wohler. Die Kopfschmerzen verschwanden allmählich, nicht aber die Einsamkeit und die trostlose nun folgende Zeit. Ein harter Weg stand Carmen bevor.

      *

      Für Carmen begann nun eine Zeit der Neuorientierung, ein Umstellen und Umdenken auf andere Gewohnheiten. Nichts war mehr so wie früher. Ihr Dasein nahm einen neuen Lebensabschnitt ein, wenngleich Carmen nach der Beisetzung von Heiko versuchte, wieder zum gewöhnlichen Alltag überzugehen. Seine Anwesenheit fehlte ihr sehr: der allmorgendliche Kuss, die herzliche Umarmung, das Streicheln seiner Hände über ihren Rücken, seine freundlichen Worte. All diese Liebkosungen vermisste sie.

      Sein plötzlicher Tod hatte eine tiefe Kluft in ihr Leben gerissen, nahm einen wichtigen Bestandteil ihrer Existenz. Wie sollte sie nur damit fertig werden? Sie musste die Veränderung bewältigen, ob sie wollte oder nicht. Ihr Job würde ihr sicher dabei helfen.

      Nach zwei Urlaubstagen, an denen es privat viel