Horst Fesseler

Das Böse wartet schon


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Sie wollte nicht daran erinnert werden, um Abstand zu gewinnen und zur Ruhe zu kommen. Man respektierte ihren Wunsch.

      Ihre berufliche Aufgabe nahm Carmen total in Anspruch. Sie hatte deshalb wenig Zeit, über den Verlust von Heiko und ihren tiefen Schmerz nachzudenken; in ihrem Job ging sie voll auf. Sehr schnell gelang es Carmen, wieder die notwendige Konzentration zu finden. Nur an den langen einsamen Abenden zu Hause spürte sie, wie ihr die Gefühle hochkamen, wie sehr ihr doch Heiko fehlte, wie sie sich nach seinen Umarmungen sehnte. Und manchmal saß sie einfach so da, still, fast teilnahmslos, und weinte hemmungslos vor sich hin. Dann kamen all die Erinnerungen mit aller Heftigkeit hoch.

      Hin und wieder spendete ihr Sabine bei stundenlangen Gesprächen Trost. Danach fühlte sich Carmen stets wohler, erfrischter und etwas freier von der zentnerschweren Last. Doch Sabine war nicht immer da, sie konnte Carmen nicht jeden Tag ermutigen. Gerade zu diesen Zeiten fühlte sie eben, wie leer ihr Leben doch wirklich geworden war. Aber Carmen wollte versuchen, damit fertig zu werden, stark zu bleiben, keine Depressionen aufkommen zu lassen. Das Leben ging weiter, das wusste sie, es machte auch nicht Halt wegen ihr. Und änderte schon gar nicht seinen gleichmäßigen Lauf. Carmen musste sich anpassen, fügen, nehmen was kam. Dazu gehörten nun auch die tragischen Augenblicke, selbst wenn sie ihr ganzes Leben umkrempeln würden. Heikos Tod war einer jener schicksalhaften Momente, die sie nicht beeinflussen konnte. Aber warum musste das gerade jetzt passieren? Hätte das nicht noch Zeit gehabt bis in ferne Jahre, wenn sie beide alt und grau gewesen wären? Doch es sollte wohl so sein, jetzt und heute. Carmen tröstete sich mit dem Gedanken, dass Heikos früher Tod eine besondere Bewandtnis hatte. Ob er glücklich ist, dort, wo er jetzt war? Im Jenseits, in einer anderen Welt, einem neuen Leben vermutlich?

      Sabine sprach eines Abends mit Carmen darüber: „Seine wirkliche Aufgabe hatte Heiko nicht hier auf der Erde unter den Lebenden zu erfüllen. Sein Leben stellte lediglich eine Art Bewährungsprobe dar, eine Zwischenetappe auf dem Weg in ein anderes Bewusstsein. Seine Seele suchte sich dafür einen organischen Körper aus. Mit dem konnte er sich hier unter den Geschöpfen dieser Welt verständlich machen und Erfahrungen sammeln. Doch seine Seele, tief im Innern, ist zu Höherem berufen, in anderen Dimensionen, die uns vollkommen unbegreiflich sind. Dort liegt seine wahre Erfüllung und Aufgabe.

      Uns allen ergeht es einmal so, ob wir es wahrhaben wollen oder uns dagegen wehren. Du kannst daran glauben oder nicht – es ist unerheblich. Doch das absolute Wissen über den künftigen Tod bereitet uns Angst, weil wir nicht wissen, was danach kommt. Wir haben Furcht vor dem Unbekannten, haben keine Ahnung von der wundervollen Seite unserer geistigen Existenz. Und diese Gewissheit löst ein eigenartiges Unbehagen in uns aus. Wir glauben, dass wir glücklich und zufrieden mit unserem Leben sind, klammern uns daran und lassen uns nicht überzeugen von einer noch wunderschöneren Zeit danach. Diese universelle Wahrheit, vor der wir uns nicht drücken können, sollten wir akzeptieren.

      Wir sind geboren worden, um zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zu sterben. Aber in Wirklichkeit gibt es keinen Tod, nur der organische Körper zerfällt zu Staub und Asche. Unser wahres feinstoffliches Ich, die Seele, besteht weiter, weil sie unsterblich ist und sich im Strudel der Ewigkeit fortpflanzt. Sie ist unvergänglich, entwickelt sich mit jedem neuen Leben, in das sie hineingeboren wird, weiter.

      Sie ist zudem ein wichtiger Bestandteil des Universums. Denn alles, was existiert, ist aus dem Stoff der Welten gemacht, wie ein kleines Staubkorn mitten im Wüstensand. Und viele Staubkörner ergeben ein ganzes Gebilde. Nicht anders verhält es sich mit den lebenden Seelen. Sie halten unser gesamtes Sein, den Geist und den Körper zusammen, stellen einen kleinen Teil davon dar und haben doch ihre ganz besondere Bedeutung in der Masse.“

      Sabine machte eine Pause und drückte sanft Carmens Hände, fuhr dann beruhigend fort: „Sei nicht traurig, freue dich, dass Heiko heimgefunden hat, dorthin, wo auch wir alle eines Tages gehen werden, dort, wo er zufrieden und erfüllt ist. Seine Seele kann in dieser Welt aufleben, sie ist frei und rein, kann neue Kraft und Energie sammeln, um eines Tages wieder auf die Erde zu kommen und in einem anderen Menschen geboren zu werden. Freue dich darüber, Carmen, denn irgendwann werdet ihr beiden abermals zusammenfinden. Dann seid ihr untrennbar vereint. All die Probleme, mit denen Heiko hier zu kämpfen hatte, sind nun und in Zukunft für ihn gelöst ...“

      Carmen holte tief Luft und antwortete: „Aber was ist mit mir? Ich bin so unsagbar unglücklich, so furchtbar traurig. Wer fragt nach meinen Gefühlen und Empfindungen? Wer tröstet mich? Wer sagt mir, wie es weitergehen soll? Ich sterbe noch an dieser schlimmen Einsamkeit!“

      Sabine lächelte und entgegnete: „Du stirbst nur, wenn du darfst, und nicht, wenn du willst. So einfach und leicht kommt der Tod nicht. Für dein Leben, vielmehr für deine Seele, ist eine genau festgelegte Zeit vorgegeben, die dir keiner nehmen oder gar ändern kann. Sie ist fest umrissen und vorher schon genau bestimmt worden. All die Tiefschläge im wirklichen Leben sind nicht mehr als Prüfungen. Und dieses seelische Leid, das du dadurch erfährst, bedeutet eine Reinigung. Auch wenn dir manches noch so grausam und ungerecht vorkommen sollte.

      Organisches und seelisches Leben sind zweierlei und werden mit unterschiedlichem Maßstab gemessen, genau, wie diese beiden Existenzebenen grundverschieden sind. Vieles, was um uns herum geschieht, stellt sich oft in seiner Bedeutung für uns total unbegreiflich dar. Aber diese Erfahrungen müssen wir unbedingt sammeln und daraus lernen, um in unserer wirklichen geistigen Daseinsform bestehen zu können ...“

      Sabine brach ab und griff nach ihrer Kaffeetasse. Diese kurze Unterbrechung diente dazu, Carmen Gelegenheit zu geben, ihre Worte aufzunehmen. Still und in sich versunken hockte Carmen im Schneidersitz auf der Couch gegenüber. Sie dachte über Sabines Worte nach und spürte, wie sie kritisch von ihr beobachtet wurde. Sie atmete tief durch und schaute Sabine verlegen an. Ihr fielen nicht die richtigen Worte ein, sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Aber sie fühlte sich nun bedeutend wohler und nicht mehr so verkrampft wie noch vor ein paar Minuten.

      „Ich denke, es wird für mich jetzt Zeit. Du willst sicher auch schlafen gehen. Wir müssen beide morgen wieder früh raus“, meinte Sabine und trank ihren Kaffee aus. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass Mitternacht längst vorbei war.

      „Bleib noch auf eine Zigarettenlänge“, bat Carmen und reichte Sabine die Schachtel hin, „nach Schlaf ist mir noch nicht zumute.“

      Aus einer Zigarette wurden zwei. Kurz nach eins verabschiedete sich Sabine von Carmen, denn sie konnte kaum noch ihre Augen aufhalten. Nachdem Sabine gegangen war, legte sich Carmen zu Bett und schlief sehr schnell ein. Zu ihrer Überraschung hatte sie diesmal eine erstaunlich ruhige Nacht ohne Alpträume und ohne schweißgebadetes Erwachen am Morgen.

      Es versprach in vielfacher Hinsicht ein wundervoller Tag zu werden. Carmen hatte sich einiges vorgenommen. Nach der Arbeit wollte sie mit Sabine einen Stadtbummel machen. Anschließend war noch ein ausgiebiges Essen in einem Restaurant vorgesehen. Sie erhoffte sich von dieser Art der Ablenkung ein wenig Erholung ihrer aufgewühlten Gefühle. Nach Tagen der Trauer brauchte Carmen endlich den lang ersehnten Ausstieg aus ihrem depressiven Stimmungstief.

      Sabine holte Carmen pünktlich in der Firma ab, gemeinsam zogen sie los. Im Kaufhaus gegenüber dem Bahnhof stöberten sie die Kleiderständer und Regale durch. Danach machten sie sich auf die Suche nach einem Kaffeeautomaten. Sabine brauchte einen neuen, denn der alte hielt nicht mehr lange durch. Sie schlenderte zwischen den Regalen entlang. Carmen stöberte indessen in den Büchergestellen herum.

      Plötzlich tauchte in der Spiegelverkleidung eines Stützpfeilers eine schattenhafte Gestalt auf, vor der sich Carmen ganz furchtbar erschreckte. Abrupt wandte sie sich um, konnte aber niemanden sehen. Als sie kurz darauf wieder in den Spiegel blickte, sah sie aus den Augenwinkeln heraus schemenhaft diesen Fremden. Jetzt drehte sich Carmen ganz langsam um. Im nächsten Moment war die geheimnisvolle Erscheinung verschwunden.

      Wo steckte bloß Sabine? Eben war sie doch noch da. Hinter einem Stapel leerer Kartons sah sie ihren blonden Lockenkopf hervorstechen. Carmen winkte ihr zu. Sie kam auch sogleich und fragte: „Na, hast du was gefunden?“

      Verwirrt schüttelte Carmen den Kopf und schaute unruhig in alle Richtungen. Sollte sie mit Sabine über den Vorfall sprechen oder einfach schweigen? Würde Sabine sie überhaupt verstehen