Carsten Hoop

Caspar rund das Meer spricht Englisch


Скачать книгу

Tat uns nicht bekümmerte, als ob Jean-Claudes Ableben uns überhaupt nicht interessierte, paddelten wir das letzte Stück verbissen weiter, ohne nach links oder rechts zu gucken. Mit großer Mühe und letzter Kraft erreichten wir ein kurzes Stück landungstauglichen Ufers, auf das die Boote rutschten. Es ging ums nackte Überleben. Eilig verließen wir das Vorland. Die Verfolger saßen uns im Nacken. Ich ließ notgedrungen den 1. Offizier unseres Walfängers Konstanze im Kanu liegen, ohne zu wissen, ob er nur verletzt oder bereits tot war. Den Matrosen Peter hatten wir bereits unterwegs auf dem Fluss verloren, nachdem ihn eine Kugel getroffen hatte und sein halber Kopf zerbarst und in alle Richtungen verstreut wurde. Hinter mir brüllte Simon, denn sie waren schon da, bis ihn eine große Kugelkeule zum Schweigen brachte. Ich drehte mich um und zog meine Handfeuerwaffe, die ich mir im geladenen Zustand eigentlich bis zu meinem Ende aufbewahren wollte. Der völlig rot bemalte Indianer, der seine Kriegslust durch die kahl geschorenen Seiten des Kopfes unterstrich, hatte seinen vorsintflutlichen Totschläger – die Kugelkeule – zum letzten Mal geschwungen. Glücklicherweise erwischte ich ihn und er sah bis zuletzt zu dem kleinen Springbrunnen auf seiner Brust, den mein Schuss verursacht hatte. Schließlich brach er mit klagendem Geheul zusammen. Mir lief ein kurzer feuriger Schauer bei seinem Anblick über den Rücken. Dabei war es für die Irokesen ein durchaus ehrenvoller Tod, im Kampf zu sterben. Nicht viel anders als der ehrenvolle Tod auf dem Feld für das Mitglied eines europäischen Offizierskorps. Seine Familie wird stolz auf ihn sein. Aber zum Teufel mit ihm – armer Simon, du hast ein solches Ende nicht verdient!

      Unser Expeditionsleiter Capitaine Maurice Martier hatte seinen gleichrangigen Freund der französischen Armee, Jean-Claude Aimauld, ebenfalls am Fluss liegen lassen müssen. Die Pfeile der Irokesen rauschten immer dichter an unseren Köpfen vorbei, nachdem sie ihre veralteten Flinten abgeschossen hatten und nun ihre bewährten Waffen bemühten, die nicht mit Pulver und Blei nachgeladen werden mussten. Sie kamen nun mit allerlei Kriegsgeschrei immer näher. Die schwirrenden Geräusche der kunstvoll gefertigten Geschosse lösten noch nie da gewesene Panikattacken in mir aus. Meine Beine wollten nicht mehr und die Atemluft wurde knapp. Die Angst verwandelte sich plötzlich in schäumende Wut, die meinen Antrieb neuerlich beflügelte. Es wäre geradezu sinnlos, hier in der Wildnis einfach so zu sterben! Derweil schwor ich mir inständig, mein Schweiß sollte die einzige Flüssigkeit bleiben, die an diesem Tage an mir hinabrann.

      Wir waren mitten in Amerika auf dem Alleghenyfluss in einen Hinterhalt geraten und sahen uns einer gewaltigen Übermacht der britischen Verbündeten, den Irokesen, ausgesetzt. Die Briten selbst zeigten sich heute nicht mit ihren grellen Rotröcken, quakenden Dudelsäcken, großen bunten Bannern und durchdringenden Trommeln. Meine Wegbegleiter verloren sich in der grünen Hölle des allgegenwärtigen Buschwerks. Lediglich unser Waffenmeister Hannes und Strandläufer, der Micmac-Kundschafter, wusste ich neben den Verfolgern in meiner Nähe. Sie griffen im letzten Moment die zusätzlichen Waffen aus unserem Reisegepäck und kamen zuletzt auf der Kuppe des armseligen Hügels an, der nach dem Willen des Kundschafters unsere Trutzburg werden sollte. Enttäuscht schauten die beiden Maurice und mich an, als sie uns von entschlossenen Indianern umstellt sahen. Sofort verschnürten die Irokesen uns, wie es die Spinne im Netz mit ihrer Beute machte. Noch bevor wir begriffen, dass es besser gewesen wäre, im Kampf zu sterben, als ihnen lebend in die Hände zu fallen. Ein muskulöser stämmiger Krieger schrie mich an, als ob ich wie ein frecher Lausbub etwas ausgefressen hätte. Ein Schweißausbruch jagte den nächsten. Ein kleiner dicklicher Krieger machte uns mit bösem Blick unmissverständlich deutlich, dass er eine Unterhaltung zwischen uns nicht duldete. Sein Gewehrkolben streifte prompt meine Wange. Ein anderer mit grell bemaltem kahlen Schädel und einem letzten Haarbüschel, das mit blau gefärbten Vogelfedern verfeinert war, ritzte mit seinem Messer langsam die Kopfhaut von Maurice vor dem Haaransatz der Stirn auf. Der machte darauf keinen Piep. Der Gelbkahlkopf zeigte uns eindrucksvoll, wie die Irokesen mit ihren Feinden umzugehen pflegten und an welchem Gürtel Maurices Skalp bald hängen sollte. Am Fluss fielen jetzt nochmals Schüsse. Zuerst dachte ich, dass Hilfe naht. Doch wahrscheinlicher war, dass unsere verletzten Weggefährten den Gnadenschuss erhielten. Oder konnten sie vielleicht fliehen? Danach blieb es dort ruhig, während wir auf den Abtransport warteten. Wohin wird es jetzt gehen? Unsere Zukunft schien von kurzer Dauer und fragwürdiger Qualität zu sein.

      Die Situation ließ nur einen flüchtigen Gedanken zu. Einen seidenen Hoffnungsschimmer, den ich nun zumindest konkret auszudrücken vermochte. Vielleicht konnte einer unserer Leute fliehen und der übrigen Welt von unserem Schicksal berichten. Das wäre eine Genugtuung. Wenn zumindest Lisa von mir hören würde. Lieber diese Geschichte als gar nichts hören und sein Leben im Ungewissen weiter leben. Wie schrecklich wäre das für die Familie. Was war aus Louis Garant, dem zweiten Kundschafter unserer Expedition geworden? Er kannte sich doch in dieser Wildnis aus und war im Grunde solcher misslichen Lage gewachsen! Es musste einfach irgendjemand entkommen sein. Ich betete insgeheim, wie meine Lisa es tat, wenn etwas schief lief, und dachte eine Zeit lang an nichts anderes mehr. Denn, daran bestand kein Zweifel mehr, Maurice, Strandläufer, Hannes und ich – wir waren so gut wie tot.

      Keiner von uns sah noch einmal den Fluss oder erfuhr etwas von den anderen. Strandläufer, der von unseren französischen Kundschaftern als zusätzlicher Fährtenleser angeheuert worden war, versuchte auf die verzierten Halbnackten einzureden, deren Gesäße lediglich mit Hirschhäuten und Wampungürtel bedeckt waren. Ein dumpfer Schlag beendete seinen Vermittlungsversuch. Dabei war er der Einzige, der sich mit den Irokesen verständigen konnte. So wie sich Indianer untereinander immer verstanden, ohne unbedingt gleichen Sprachfamilien anzugehören. Hannes fluchte fürchterlich, wie es seine Art war, wenn ihm die Worte fehlten. Mit verbundenen Augen trieben sie uns wie Vieh in einem Gewaltmarsch durch den tiefen Wald. Wer nicht parierte, spürte die mit Knoten versehenen Lederriemen der Peiniger. Doch keiner gab ohne weiteres auf. Jeder hing an dem bisschen Leben, das ihm noch blieb, und hoffte irgendwie, dass ein womöglich günstiger Verlauf der Geschehnisse unsere Aussichten verbesserte. Bald war das Rauschen des Flusses nicht mehr zu hören und eine unheimliche Stille breitete sich aus, gepaart mit der Dunkelheit der verdeckten Augen, die nur vom Peitschen der Lederriemen unterbrochen wurde. Ich spürte meine Füße nicht mehr und versuchte, den Gehrhythmus im Takt beizubehalten. Immer wieder stolperte einer von uns über Baumwurzeln oder Felsbrocken und riss den Rest der verknoteten Truppe zu Boden, sodass mein Bestreben immer wieder scheitern musste. Dann fuhren wir mit plump gebauten Kanus aus Ulmenrinden über einen See, der zu den Größeren seiner Art zählte. In der Nacht erreichten wir die Langhaussiedlung der Irokesen. Erst in einem der praktischen Häuser aus Baumrinde, die aus wiederverwendbaren Pfahlgerüsten konstruiert waren, gaben sie uns die Orientierung zurück, nachdem wir an kleinen Pfählen im Langhaus angebunden worden waren. Wir hatten einen geheimen Ort erreicht, wie Strandläufer uns – immer noch benommen von seinem Strafhieb – zuflüsterte. Er hatte von dem heftigen Schlag eine große Beule am Kopf davongetragen. Ich erstarrte vor Schreck, als mein Blick auf Maurice Martier fiel. Der französische Capitaine hatte sich eine klaffende Wunde an der Stirn zugezogen. Scheinbar hatte der Indianer den Schnitt vorhin nicht nur angedeutet, sondern bereits angefangen, ihn zu skalpieren. Das Blut floss in seine Augenhöhlen, über seine Nase und die Wangen entlang. Er zeigte keine weitere Regung und war wohl am Rande der Bewusstlosigkeit. Wie schaffte er nur diesen Gewaltmarsch? „Strandläufer, wo sind wir?“, fragte ich den Fährtenleser leise, als die Möglichkeit dazu bestand. „Wir sind mindestens sechs Stunden gelaufen – vom Fluss weg nach Süden und über den See. In der Zeit schafft man in unserem Zustand zwanzig Kilometer zu Fuß und mit dem Kanu vielleicht nochmals zehn Kilometer.“ Ihn strengte selbst das Sprechen an. „Woher weißt du, dass wir nach Süden gelaufen sind?“, fragte Hannes in unbedachter Marktschreier Manier. Schon kam ein wachsamer Krieger vom Eingang des Langhauses mit bösem Blick auf uns zu. Kompromisslos schlug er Hannes mit einem Stock mitten ins Gesicht. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht fluchte dieser kurz in seinen ergrauten Bart und spukte zwei Zähne aus, während der Schläger mit grinsendem Gesicht das Ergebnis seiner Tat betrachtete. Doch Hannes harrte aus, schaute dem Schläger unverhohlen in die Augen und zeigte – so gut er konnte – keine Reaktion, bis der Wachposten zum Eingang des großen Hauses zurückging. Er hatte sich wie ein tapferer Indianer verhalten. „Das waren meine wichtigsten Zähne!“, grummelte er wohlwissend, dass dieser Verlust vermeidbar gewesen wäre.

      „Der Moosbewuchs im Wald ist zum Norden hin am stärksten. Du musst