Carsten Hoop

Caspar rund das Meer spricht Englisch


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Meter Länge aufwies und fünf Familien Platz bot. Die Frauen gaben hier scheinbar den Ton an. Sie begutachteten uns, indem sie uns wie Pferde vor dem Verkauf musterten. Maurice sahen sie sogar in den Mund. Immerhin wuschen sie nebenbei sein Blut verschmiertes Gesicht, sodass er wieder etwas sehen konnte und eine dringend notwendige Wiederbelebung durch das kalte Wasser der Squaws erfuhr. „Was willst du, alte Schachtel!“, pöbelte Hannes, immer noch giftig, nachdem er zusätzlich einen kräftigen Kniff in seinen Allerwertesten hinnehmen musste. Er spukte ihnen das Blut vor die Füße, dass seine frischen Zahnlücken hergaben. Doch sie bemerkten es nicht, sondern redeten ununterbrochen aufeinander ein und schienen nach wie vor uneins zu sein.

      „Sie suchen Ersatz für ihre gefallenen Söhne“, flüsterte Strandläufer.

      „Du machst in dieser Situation Witze?“, fragte ich empört.

      „Nein, nein. Sie verhalten sich völlig normal – wie Indianer eben!“ Ungläubig schaute ich zu Maurice, der es als langjähriger Frontsoldat wissen musste. Er nickte kurz und schien seinen Blutverlust verkraftet zu haben. Einen Spaß machte der Capitaine in seiner Lage sicher nicht. Dafür jedoch der schlitzäugige Fährtenleser, der mich mit seinem breitbackigem Grinsen an die Inuit auf Grönland erinnerte.

      „Keine Sorge, Caspar, einen bebrillten Hering nehmen sie nicht. Du bist ihnen zu unheimlich! Hannes ist zu alt und mich, einen feindlichen Micmac, sehen sie lieber morgen garen – auf dem Feuerrost!“ Bei seinem Galgenhumor drehte sich mein Magen endgültig um. Kompromisslos entleerte er sich und besudelte die Frauen mit dem bitteren Nass meiner Innereien, woraufhin sie schreiend zum Eingang des Langhauses liefen. Womöglich hatte ich nun Maurices Leben auf dem Gewissen, der für eine Adoption bei einer der Squaws infrage kam, wenn Strandläufer die Zeichen richtig gedeutet hatte.

      „Keine Sorge, Caspar. Ich komm darüber hinweg“, antwortete der französische Capitaine aus Quebec, ohne gefragt worden zu sein. Er funktionierte wieder wie früher. Sein blutendes Gesicht sah schlimmer aus, als es war. Stillschweigend machte sich jeder von uns Gedanken, was unseren Weggefährten widerfahren sein mochte. Die Wahrheit wollte keiner aussprechen, weil wir die Wirklichkeit verdrängten, so gut wir konnten.

      Sie gaben uns gut zu essen und bald merkten wir, warum sie dies taten. Die Irokesen berauschten uns mit einem Betäubungsmittel, das der Nahrung beigemischt wurde und uns willenlos machte, aber immerhin die Auffassungsgabe nicht einschränkte. Das kleine Fest der Indianer am folgenden Tag sollte möglichst ohne Störung verlaufen. Maurice hatten sie tatsächlich in der Nacht fortgeschafft. Nun machte keiner von uns mehr kleine Witze. Strandläufer kannte sich gut aus, obwohl seine Heimat an der Mündung des Sankt Lorenz ziemlich weit weg lag, und er mit dem Volk der Irokesen bis zu seinem Dienstantritt bei den Franzosen nichts zu tun gehabt hatte.

      Das anfangs beschauliche Dorf nahm im Laufe des Tages gewaltig zu, denn immer mehr indianische Besucher wurden mit Kanus über den See hierher gebracht. Sie ließen sich am Festplatz nieder und widmeten sich den Trommlern und Tänzern, die in der Intensität ihrer Darbietungen immer noch steigerungsfähig schienen. Große Berge von Essbarem wurden herangeschafft und Wild, Geflügel und Fisch an großen Feuerstellen zubereitet. Kürbisse, Bohnen und vor allem Mais ernteten die Irokesen auf naheliegenden, eigenen Feldern, die sie dem Wald abtrotzten. Der Ort glich schließlich einer riesigen Bratküche. Und dann wurden die Logen besetzt …

      Ein wenig abseits vom Tanzplatz und den rings umliegenden Häusern begrenzten stämmige Eichen den dahinter liegenden Mischwald, soweit ich dies vor lauter Qualm sehen konnte. Nachdem wir an den besagten Eichenstämmen gefesselt waren, ließen die Indianer uns zunächst in Ruhe. Sogar eine leise Unterhaltung war möglich. Die Indianer hatten sich an diesem abseits gelegenen Ort auf eine längere Zeit des Verweilens eingerichtet. Strandläufer bestätigte meinen Eindruck. Die Roten hatten ihren ganzen Krempel einschließlich einer großen Kinderschar dabei. Es soll sich bei unseren Gastgebern um die Seneca-Nation handeln, die die westlichsten Siedlungsgebiete des mächtigen Irokesenbundes beanspruchten, die wir beim Befahren des Allegheny tangiert hatten. Strandläufer glaubte des Weiteren zu wissen, dass dieser Ort nur von der Seeseite erreichbar war und ansonsten dank eines Gebirgszugs mit steilen Klippen fernab der Handelswege äußerst geschützt lag. Das erklärte, warum die sonst üblichen Palisaden als Schutzwall fehlten. Da fiel es den Irokesen nicht schwer, sich hier sicher zu fühlen – was wir von uns nicht sagen konnten.

      Zu unserer Überraschung wurden noch drei weitere Gefangene direkt neben uns angebunden. Es handelte sich um zwei Franzosen in Zivil und einen Indianer, der ein paar Brocken Algonkin sprach, wenn er mit seinem Französisch nicht weiterkam. Sofort versuchten wir, Informationen auszutauschen. Doch sie standen leider zu weit von uns weg.

      Alsdann wurde es im Dorf ruhiger und die Trommeln schwiegen für eine Weile. Bald konnten wir die Bewohner und ihre Gäste nicht mehr sehen. Offenbar machten sie sich für das eigentliche Fest in ihren Behausungen zurecht. Selbst die Kinder, die uns mit ihren neugierigen Blicken durchlöchert hatten, waren plötzlich verschwunden. Noch einmal überlegte ich, ob es noch irgendeine Chance gab, unser Leben zu retten. Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Wir wussten also, dass wir diese Expedition bis zum Ende auf uns allein gestellt durchstehen mussten.

      Ich dachte an Lisa und an meine Familie. Lisa würde ich nun nie wiedersehen dürfen. Ihre schönen grünen Augen, in denen ich so gern pausenlos versank und alles andere dabei vergaß. Das vertraute Lächeln, das mir, Jahr ein - Jahr aus, so selbstverständlich gewesen war. Und ihre hochgesteckten dunkelblonden Haare, die manchmal eine unbändige Locke freigaben, die dann im leichten Wind tanzte und meinem Spott ausgesetzt war, obwohl eigentlich eine Liebeserklärung gemeint war. Meine geliebte Heimatstadt und den Duft der Elbe, der beim Atmen jedes Mal eine Gänsehaut auslöste, wenn ich elbaufwärts zurück nach Hamburg in den Hafen kam. Nun sollten wir eine Martertortur durchstehen, der wir Europäer sicher noch weniger gewachsen waren, als die Einheimischen. Mit Schmerzen und Erniedrigungen über eine lange Zeit brachen die Indianer ihren Gefangenen den Willen. Einen indianischen Willen, der für Weiße außerhalb der kulturellen und physischen Reichweite lag. Die Europäer allerdings, waren ihrerseits nicht minderbegabt, ihre Mitmenschen mit Verfehlungen europäischer Machart zu quälen. Somit müssen wir unser empörtes Entsetzen über ebenjene Praktiken in Grenzen halten, wenn wir mit unseren Fingern auf die Grausamkeiten anderer Kulturkreise zeigen. So zumindest nach meinem Empfinden und meinem Rechtsverständnis. Grausamkeit wird nicht besser, wenn die Gesellschaft sie reguliert. Verzweifelt und resigniert stellte ich fest, keine Fluchtmöglichkeit zu sehen.

      Bald darauf erwachte das Dorf zu seiner ursprünglichen quirligen Lebendigkeit. Die Feuer wurden größer, die Menschen geschäftiger. Kinder rannten zwischen den Langhäusern hin und her und spielten mit kleinen Bällen, die sie mit Holzschlägern fortschlugen. Der Strom der voll besetzten Kanus auf dem See, die immer neue Clans zum Festplatz brachten, ebbte ab. Die Trommeln wurden immer intensiver geschlagen. Im Rhythmus gesellten sich bunt geschmückte und bemalte Tänzer dazu, die mit Rasseln, Flöten und mir fremden Instrumenten das Konzert verfeinerten und die Freifläche des Dorfes rasant füllten. Nun setzte auch mehrstimmiger Gesang ein, der in meinen Ohren wie Schmerzlaute klang. Auch in der Nähe der Eichen loderten jetzt große Feuer. Eine Gruppe junger Krieger mit Pfeilen und Bögen baute sich vor uns auf, geführt von Älteren mit vielen Federn im Haar, während eine große Schar neugieriger Unbeteiligter jeden Alters und Geschlechts gaffte. Vergleichbar wohl mit heimischen Hinrichtungen, die auf den Marktplätzen in den Städten stattfanden. Nun begann das große Schauspiel: Der Reihe nach schossen sie auf uns. Zunächst kam es wohl darauf an, die Pfeile möglichst dicht neben den angebundenen Körpern zu platzieren. Strandläufer traf es am Unterarm. Er verzog nach indianischer Sitte nicht einmal die Mundwinkel, musste aber Höllenqualen erlitten haben. Kinder kicherten, Squaws lachten und die Krieger stießen Schreie aus, die alleine schon Angst machten, ohne dass man ihnen als Zielscheibe ausgeliefert sein musste. Mein Herz pochte laut. Nun war ich an der Reihe, während Strandläufer von den hübschesten Squaws mit Wasser und Maiskuchen versorgt wurde. Dann schoss der erste Kandidat auf mich und zog mir einen neuen Scheitel. Der Pfeil streifte die Kopfhaut und der Schütze wurde umjubelt. Mir blieb ein Missgeschick des Schützen erspart, sodass ich unverletzt die nächste Runde erreichte. Auch ich wurde nach Irokesenart verwöhnt, indem die jungen Frauen mit Stärkungen zu mir kamen. Doch diesmal war eine Weiße