Toma Behlsum

Kuhland


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in München wäre.

      Dort angekommen stellte er die Aktentasche und den halbleeren Koffer vor der Türe ab und teilte seiner ehemaligen Freundin mit, dass er eine Weile hier wohnen würde, was sie kommentarlos entgegennahm, woraufhin er Koffer und Tasche nach drinnen trug. Ein Überblick über seine finanzielle Lage ergab, dass er sich keine aktuellen Sorgen machen musste und er darüber hinaus im Besitz von einem großen alten Haus im Allgäu ist, das seit dem Tod seines Vater vor 16 Jahren leer steht.

      Woher das Geld im Koffer ist, daran kann er sich jetzt nicht mehr erinnern, auch als seine ehemalige Freundin ihn fragte, was geschehen sei, antwortete er, das wisse er nicht.

      1

      Viele Menschen denken, auf dem Land, tausend Meter Luftlinie weg von der nächsten asphaltierten Straße und 500 Meter Luftlinie vom nächsten Haus, da ist es ruhig. ‚Ach, ist es hier schön ruhig’! sagen sie dann, als sie ankommen, nur weil sie fest daran glauben. Zu viele Menschen wohnen an stark befahrenen Straßen, deshalb wirbt der Fremdenverkehrverband ja auch mit der himmlischen Ruhe in freier Natur. Das aber ist gelogen. Das Gegenteil ist der Fall, auf dem Land ist es laut, wie die Touristen dann auch alsbald merken. Die Vögel, die Grillen, der Bach, die Kuhglocken, die Kirchenglocken. Die Kühe und die Frösche. Viele Dezibel kommen da zusammen. Vogelgezwitscher geht gerade noch, aber nur, wenn es keine Rabenvögel wie Raben, Krähen, Eichelhäher und Elstern sind. Auch Frösche und Kirchenglocken sind der Ruhe nicht förderlich.

      Die Touristen fühlen sich um die versprochene Stille betrogen und beschweren sich dann beim Fremdenverkehrsamt, reden von ordinärem Gequake und dringen auf die Entfernung der Frösche als nicht endemisch im näheren Umkreis von Frühstückspensionen, und auf Stilllegung der Kirchenglocken, da sowieso niemand mehr in die Kirche gehe. Das Fremdenverkehrsamt schickt sie dann zur Entspannung in ein Motel an der Autobahn, oder rät zu einer Zugfahrt, immerhin können auch die Stöße der Eisenbahnschienen beruhigen, wenn man dabei an Piroschka oder an Lieselotte Pulver denkt, und alle sind wieder zufrieden.

      2

      Die Nacht über war die laute Natur draußen noch vom Regen übertönt worden, aber als der Regen aufhört wacht Benni auf und kann nicht mehr einschlafen. Er steht auf, schließt das Fenster, es ist feucht im Zimmer, aber nicht unangenehm. Er geht ins Bad, prüft sein Gesicht im Spiegel, es sagt ihm nichts, er wäscht es, danach schaut es noch genau so aus, geht in die Küche, die sich in einer Ecke des Wohnzimmers befindet, das den ganzen vorderen Teil des Erdgeschosses einnimmt, und will Kaffee kochen, das heißt, er will die Espressomaschine anmachen.

      In seiner Küche sitzen schon zwei große dünne Mädchen, die Zwillinge Anne und Ulla, nur welche nun Anne und welche Ulla ist weiß er nicht. Ob sie schon auf sind oder gar nicht schlafen waren ist nicht ersichtlich, die Zwillinge kommen immer unangemeldet, wenn sie zu Hause ‚Stress haben’, wie sie sagen. Benni hat es ihnen erlaubt, das Haus ist groß genug, nur müssen sie alles so hinterlassen wie sie gekommen sind. Wie im Klo im Zug. Worin ‚der Stress’ besteht sagen sie nie, sie sind nicht der Meinung, dass die dann drohenden guten Ratschläge eines in ihrer Wahrnehmung bereits älteren Mannes relevant sind, und Benni fragt daher auch gar nicht erst. Warum sie hier sind und nicht in der Schule, es ist ein Freitag Mitte Juni, fragt er lieber auch nicht. ‚Keine Schule heute, weil Ferien’, würden sie doch nur antworten.

      Dafür fragen ihn jetzt die Zwillinge, warum er schon auf ist.

      ‚Draußen ist es mir zu laut’, beschwert er sich, ‚da konnte ich nicht mehr schlafen.’

      ‚Unfug’, sagt die eine.

      ‚Was hast du denn da draußen Böses gehört’? fragt die andere.

      ‚Alles Mögliche. Singvögel und Krächzvögel, Flugzeuge, Hornissen und andere Brummtiere, Traktoren, Unterhaltungen von frühen Mountainbikern, Bäche, Grillen, Kuhglocken, Marder . . ‘ zählt Benni auf.

      ‚Unfug’, sagt jetzt auch die andere.

      ‚Wenn das gleichmäßige Rauschen des Regens weg ist’, erklärt er ihnen, ‚hört man all die anderen Geräusche, und der Wind in den Bäumen und das Rauschen des Baches kann den Regen da nur ungenügend ersetzen. Irgendwo in der Hecke vor dem Haus hustet ein Marder, Raben, die sich mit einem Bussard streiten, sind deutlich zu hören, und kaum hat sich die Sache geklärt, kommen die Krähen und streiten weiter, und die Kuhglocken läuten unentwegt, weil die Kühe immer nur kurz schlafen, meistens fressen sie entweder oder sie käuen wieder, und dabei bewegen sie ihren Kopf und damit auch den Hals, und dann läuten eben die Kuhglocken. Oder, was noch schlimmer ist, sie wollen nach Hause und brüllen wie Tiger. Das Ohr zerlegt dann die einzelnen Geräusche, die eben noch hinter dem Rauschen des Klangteppichs Regen verschwunden waren, und halten einen wach.’

      ‚Was du alles hörst haben wir jetzt. Aber was riechst du hier?’ wechselt die erste das Thema.

      ‚Kaffee?’

      ‚Und draußen?

      ‚Heu? Bschütte*?’

      Sie fragen ihn, ob er einen Espresso möchte. Benni nickt. Der Espresso ist undurchsichtig und stark.

      ‚Was schmeckst Du?’

      ‚Kaffee’? wiederholt Benni.

      ‚Was fühlst du?’

      ‚Eine gewisse Taubheit?’ Alles mit Fragezeichen versehen, Benni weiß nicht, worauf sie hinaus will.

      ‚Das sagt ihm alles nichts‘, sagt nun die eine zur anderen resigniert.

      ‚Was bitte ‚sagt mir nichts’?’ hakt Benni nach.

      ‚Das ist doch ganz einfach. Der Samurai lehrt uns: Lerne, alle 5 Sinne sinnvoll zu gebrauchen, dann erst bekommt man einen sechsten Sinn, den Sinn, mit dem man vor und hinter die Dinge sieht. Also bitte jammer hier nicht rum, es ist zu laut, sondern gebrauche deine Sinne’.

      ‚Der Samurai sagt weiter, dass erst der sechste Sinn es ermöglicht, seinen größten Widersacher, nämlich sich selbst, zu überwinden’ ergänzt ihre Schwester.

      ‚Sind halt Oberschüler’, denkt Benni, der es nicht so mit in die Zukunft gerichteten Vorstellungen hat, mit Ereignissen, die irgendwann mal eintreten könnten, wenn diese oder jede Voraussetzung erfüllt sind.

      Beide kommen zu ihm und schnuppern ihm im Gesicht herum. Benni weicht zurück.

      ‚Was soll das jetzt wieder?’ fragt er.

      ‚Wusstest du nicht, dass die Eskimos sich bei der Begrüßung anschnüffeln? Dann wissen Sie gleich, was los ist, und Lügen sind völlig zwecklos, der Geruch verrät ihnen alles. Der Samurai sagt: Lerne, alle 5 Sinne zu gebrauchen’, wiederholt sie.

      ‚Wohnt seit Jahren unterhalb von einem blinden Bauer und hat nichts dazugelernt’, sagt kopfschüttelnd die andere. Benni hat aber selbst auch etwas in den Gesichtern der Zwillinge gerochen, nämlich kalten Rauch.

      Die Zwillinge ziehen sich in eines der Gästezimmer zurück, und Benni isst ein Honigbrot und schreibt während des Frühstücks einen Brief an die Heimatzeitung, weil im Kornhaus, einem zum Gemeindesaal umgebauten alten Stadel im nächsten Dorf, ein Film von Veit Harlan gezeigt werden soll. Er findet das ungehörig.

      Danach schaut er noch eine Weile aus dem Fenster. Auf den Wiesen im Tal beiderseits des Baches liegt eine leichte Nebelschicht, trotz des Hochsommers. Die ganze Welt ist jetzt noch ohne Farbe, weiß-silbern. Die Wolken sind weitergezogen, und dann geht auf einmal über dem Hang gegenüber durch die Bäume die Sonne auf und die Welt wird zuerst golden und dann bunt. Benni stellt fest, dass er zufrieden ist. Er fragt sich, ob er angesichts der Schönheit, die ihn umgibt, aber auch glücklich ist, und wenn ja, warum er dann Leserbriefe schreibt.

      Dann macht er sich zu Fuß auf in die vier Kilometer entfernte Kleinstadt. Er besitzt kein Auto, und Fahrradfahren mag Benni nicht, weil er Radfahrer nicht mag, sie sind nicht nett. Fahrradfahrer können sich nie entscheiden, ob