Toma Behlsum

Kuhland


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wenn Karl Heinz längst schläft, gebannt in den Fernseher hinein, so wie andere Menschen Baggerfahrern zuschauen, stundenlang, ohne Grund, und ohne irgend einen Bezug zu dem Geschehen herzustellen, das sie da verfolgen. Karl Heinz sitzt auf dem Sofa und liest in den Werbebroschüren über das Allgäu, die er sich hat schicken lassen: ‚Im anmutigen Voralpenland, vorbei an satten Wiesen und klaren Bächen, auf gepflegten Wegen mit Blick auf imposante Bergketten und tiefblaue Seen kommen Naturgenießer ins Schwärmen.’ steht da.

      Karl Heinz und Brigitte sind jetzt mehr als 10 Jahre verheiratet. Zwar hat ein halbes Jahr nach der Hochzeit Brigitte aufgehört, gegen den Willen von Karl Heinz, mit ihm zu schlafen, weil sie ‚kein Kind will’, kümmert sich aber die ganze Zeit sehr um seine nicht recht vorangehende Karriere als Architekt und arbeitet auch in dem Architekturbüro mit, das er und ein Partner betreiben. In der Öffentlichkeit treten sie als harmonisches Paar auf, was sie in gewisser Weise auch sind, und fahren manchmal sogar gemeinsam in Urlaub, auch wenn Brigitte gar nicht verreisen will, sich dann immer wieder fragt: ‚Warum kann ich nicht einfach nur hier sitzen’?

      Das Allgäu interessiert Brigitte genauso wenig wie die innere Mongolei oder auch alles andere anderswo. Es fällt ihr immer schwerer, Verständnis aufzubringen für ihre Mitmenschen und ihr Verhalten, das sie in Fetzen zwangsläufig erfährt, bei Gesprächen, in der Zeitung, aus dem Fernseher, über die Abwrackprämie, das Rauchverbot, Volksbefragung zum Minarettverbot, Schweinegrippe, Massenvernichtungswaffen, alles fällt unter die Kategorie ‚man kann ja nie wissen’*.

      Dass sie ständig für etwas sein muss, aus dem einzigen Grund, weil ihre Gegner dagegen sind, dazu hat sie keine Lust. Da Brigitte nicht weiß, wer jetzt eigentlich verrückt ist, sie oder die anderen, ist es ihr lieber, sie hat keine Ahnung von nichts und will daher auch keine haben.

      Schon mit achtzehn hat sie erkannt, dass das so ist. Sie hat deshalb die Schule verlassen, sehr zum Entsetzen ihrer Eltern und zum größtem Bedauern ihrer Lehrer. Brigitte, in der Klasse immer 1a, keine Drogen oder so, voll auf den Lernstoff fixiert, und dann, von einem Tag auf den anderen, neue Wissensaufnahme gleich null, und nach zwei Monaten ist sie ganz gegangen. Auf die naheliegende Frage, warum sie die Schule verlassen hat, antwortete sie stereotyp, weil das ‚nichts bringt’, oder ‚sie wisse nicht was das soll’ und stieß mit diesen lapidaren Worten die Fragenden, die für sich in Anspruch nahmen, es ja nur gut mit ihr zu meinen, vor den Kopf.

      Zu Geburtstagen ihrer Eltern ging sie ab da auch nicht mehr, da sie ‚keine Zeit hatte’ und außerdem ihre Mutter immer weinen musste, wenn sie sie sah.

      Als sie dann Karl Heinz kennen lernte, heiratete sie ihn zwei Wochen später und mietete eine Dachterrassenwohnung. Dort ist sie geborgen und nicht mehr allein und sieht keinen Grund, sich in Gefahr zu begeben, weder körperlich noch mental.

      Als Karl Heinz den Raum verlässt schaut sie doch in die Hotelprospekte, aber sie ist nicht in der Lage, das Gelesene zu fassen, von Wellnesspension mit Wohlfühlfrühstücksbuffet und Müsliecke ist die Rede, für 195 Euro, und von Energieflusstreatment für 322 Euro und von Vitalpension mit Sonnenpaket, für 245 Euro, pro Person im Doppelzimmer.

      Vor Jahren waren sie in Cornwall, vier Lagen alte Teppichböden übereinander, und ein Portrait vom jungen Prinz Charles über dem Sofa in der Eingangshalle, das war ganz nett.

      *Es soll Leute geben, die ihr 1a funktionierendes Auto verschrotten, um mit Hilfe einer so genannten Abwrackprämie, die meist geringer ist als der Wert des alten Autos, und eines Bankkredites einen neuen Kleinwagen zu kaufen, oder die sich gegen Schweinegrippe impfen lassen, weil man ‚nie wisse, wann so ein Erreger gefährlich mutiere’, oder die in jede hingehaltene Kamera weinen, meist sind es Männer zwischen 40 und 60, wenn ein Fußballspieler wegen Depression Selbstmord begeht, das hat sie selber im Fernsehen gesehen, oder die in die Rathäuser gehen, um Petitionen zu unterschreiben, dass in Kneipen nicht mehr geraucht werden darf, in die sie niemals auch nur einen Schritt machen würden, oder die sich gegen Minarette aussprechen, auch wenn weit und breit keine geplant sind.

      7

      Karl Heinz aber ist begeistert von dem, was er da liest, ihm gefällt die Ausrichtung des Urlaubs auf die Aussicht. Die Aussicht auf ein schönes Schaufenster, das kennt er, verheißt ihm den Besitz seines Inhalts und damit Reichtum und Glück, nicht sofort, aber vielleicht in nächster Zukunft. Die Aussicht auf eine intakte Landschaft wiederum wird ihm von städtisch industriellem Ungemach befreites, unbeschwertes Leben verheißen, Verheißung, auf die er so dringend angewiesen ist. Die Wohnung dagegen verursacht Karl Heinz Atemnot. Viele Jahre des Zusammensammelns von Dingen haben den Boden der 78 Quadratmeter und den Raum der 211 Kubikmeter voll gefüllt. Umfüllorganisationen werden nach seinem Ableben den Haushalt auflösen, die Müllcontainer sortieren, Schachteln und Kartons mit all den Dingen füllen, die noch zu verticken sind, diese in alten Scheunen und ehemaligen Kuhställen lagern um danach auf Flohmärkten und über ebay verteilt zu werden und damit wieder andere Flächen und Räume zu füllen.

      ‚Im anmutigen Voralpenland, vorbei an satten Wiesen und klaren Bächen, auf gepflegten Wegen mit Blick auf imposante Bergketten und tiefblaue Seen kommen Naturgenießer ins Schwärmen’ liest Karl Heinz Brigitte vor.

      ‚Ich möchte aber lieber hier bleiben’, sagt Brigitte. Sie weiß, dass die Wirklichkeit dort freilich ganz anders aussieht: Es gibt dort viele wilde Tieren, die einen belästigen werden und ängstigen, vor allem die Kühe. Der Geruch von Heu und Gülle ist alles andere als betörend. Der Himmel ist nachts dunkel und die Wälder sind schwärzer als schwarz, auch wenn der Mond scheint, und die laute Natur wird die Welt draußen übertönen.

      ‚Vielen Dank’, sagt Brigitte laut. Karl Heinz schaut nicht auf. Er erwartet keine Begründung. Brigitte begründet nicht, sie ist mit Karl Heinz zusammen, um mit ihm zusammen zu sein, wenn sie intellektuellen Austausch wollte, wäre sie woanders. Karl Heinz hat die unscheinbare Frau auch deshalb sofort geheiratet, weil er nichts von ihr erwartet hat, außer einen Menschen bei sich zu Hause, der nichts von ihm erwartet, auf dass es dann zwei sind, weil zwei sind besser als einer. Karl Heinz überlegt noch, was er machen soll, wenn Brigitte nicht mitfahren will, da sagt Brigitte für ihn und auch für sie selbst überraschend ‚na gut.’

      Also fahren sie in diesem Sommer ins Allgäu in Urlaub. Brigitte nimmt sich vor, ihre ganz alte Freundin Trisch zu besuchen, die da jetzt irgendwo wohnt. Mehr nimmt sie sich nicht vor. Niemals liest sie Reiseführer oder macht Tagesausflüge. Wenn sich ihr fremde Orte schon ungefragt und unerbeten erschließen wollen sollen die sich anstrengen, wenn die fremden Orte aber kein Interesse an Brigitte haben, ist ihr das auch recht.

      Karl Heinz und Brigitte mieten eine Ferienwohnung in einer Ferienhausanlage ein paar hundert Meter entfernt am Waldrand in einem kleinen Weiler im Rothachtal. Der Weiler hat alles was so ein Weiler haben muss, einen Dorfplatz mit Brunnen und Anger, ein Kaufhaus genannter Kolonialwarenladen und dazu eine Bäckerei, eine Turnhalle, zwei Wirtschaften mit Landwirtschaft, etwa 10 Bauernhäuser, die Kirche mit Friedhof und dem Pfarrhaus, von wo aus an einem Feuerwehrlöschteich vorbei ein Stichweg zur Volksschule mit Schulhof für 2 Klassen, Klasse 1-4 und 5-8, und 2 darüber liegenden Lehrerwohnungen führt, und dahinter sind Wiesen mit Kühen drauf. Karl Heinz ist begeistert. Dass von den zehn Bauernhäusern nur mehr zwei Landwirtschaft betreiben und vier in Ferienwohnungen umgebaut wurden und die anderen vier gleich an Fremde verkauft wurden, im Pfarrhaus schon lange kein Pfarrer mehr wohnt, die Kaufhausbesitzerin mittlerweile 82 Jahre alt ist und das Kaufhaus einen monatlichen Umsatz von etwa 300 Euro macht, es Volksschulen und auch Kombiklassen von vier Jahrgangsstufen schon lange nicht mehr gibt, in der Schule also auch keine Schüler und Lehrer mehr sind, sondern eine Ferienwohnung der ‚Gemeinschaft der freien Kindergärten Karlsruhe’ stört ihn nicht, im Gegenteil, keine allzu große Belästigung durch den Gestank von Kühen, und christlich ist Karl Heinz auch nicht.

      Karl Heinz erkundet zu Fuß und im Auto die Gegend, und erledigt unterwegs die Einkäufe. Brigitte sitzt auf dem Balkon und schaut in die Berge oder bei Regen sitzt sie auf dem Bett und schaut in den unvermeidlichen Fernseher. Hier belästigen sie auch keine wilden Tiere.

      Am letzten Abend ihres Urlaub lernen sie in einer Gastwirtschaft Franz,