Toma Behlsum

Kuhland


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haben zusammen Kunst studiert, Karla hat im Alter von 17 Abitur gemacht, mit 1,0, und dann nicht, wie alle erwarteten, Medizin studiert. Franz war damals schon fast 30, ohne Abitur, dafür mit abgeschlossener Schreinerlehre. Sie waren oft zusammen gesessen, fühlten sich in der Gesellschaft des anderen wohl und haben viel gelacht.

      Dann war Karla plötzlich weg, ausgebrochen, hatte, wie Franz später von einer ihrer Schwestern zufällig erfahren hatte, unterwegs einen Buschpiloten kennen gelernt, Walt mit Namen, und war mit ihm nach Alaska gezogen, vor allem, weil er etwas hatte, das sie noch nicht kannte, er wusste Antworten, die keine weiteren Fragen zuließen, auf die es noch nicht einmal Fragen gegeben hätte, Antworten, die scheinbar entgültig waren. Die Freiheit des Denkens plötzlich nicht mehr reduziert auf eine reichlich zusammenhanglose Aneinanderreihung mehr oder weniger beliebiger Fakten und Begriffe, zusammengehalten nur durch einen wechselnden eingängigen Refrain.

      Nach Fairbanks, Alaska waren sie nach Little Rock, Arkansas gezogen, der Bedarf an Buschpiloten war da aber überschaubar. Aus einer Laune heraus begann Walt zu predigen und bald hatten sie eine kleine Anhängerschar um sich versammelt und drehten Filme, die allgemein als Pornofilme klassifiziert wurden und auch welche waren. Nach einem weiteren Schub in ihrer Entwicklung kauften sie sich eine Farm und gründeten die härteste Sekte, die es in den USA, dem Land der harten Sekten, bis dahin je gegeben hat.

      Und jetzt steht Karla wieder vor ihm.

      ‚Ich bin davongelaufen, wie man so schön sagt’, sagt sie. Franz sagt darauf ‚komm doch rein’, dann schließt er die Türe, es ist Anfang August, und es regnet schon wieder. Später, nach einer Brotzeit, wird Karla dann noch genauer, sagt, dass dem Prediger irgendwann mal die Antworten ausgegangen sind, auf die es keine Fragen gegeben hat, dass die härteste Gemeinde der Welt sich in eine Wohngemeinschaft von Magersüchtigen, Depressiven und Latentselbstmordgefährdeten verwandelt habe, und sie sich erst noch damit zurechtfinden müsse.

      ‚Die Enzyklika zur Empfängnisverhütung wird jetzt auf Kirchentagen zwischen zwei von der Kirchenleitung veranstalteten Hardrockkonzerten verkündet, bei mindestens einem davon spielt ein Pater Elektrogitarre. In Tracht, oder Mönchesuniform, oder Kutte, oder wie man halt sagt’ sagt sie. ‚Damit war der Prediger überflüssig geworden‚ und an die Stelle von 12-stündigen sexuellen Tätigkeiten sind 12-stündige Streitereinen getreten.’

      Franz fragt, ob sie das Gefühl habe, gescheitert zu sein.

      ‚Nein’ sagt Karla. Punkt. Karla ist nicht der Meinung, dass der Erfolg die Qualität des Handels bestimmt, daher strebt sie auch nicht nach Erfüllung von Zielvorgaben, wie man gerne sagt, und deshalb ist sie nicht gescheitert.

      ‚Du hast Kinder’? fragt Franz zusammenhanglos.

      ‚Eine unüberschaubare Zahl eigener und angenommener Kinder, so von Fünf bis Ende Zehn. Stück.’

      Von Mitte Null bis Ende Zehn also, denkt sich Franz, und bittet sie, ihr Mietauto hinter dem Haus zu parken.

      11

      Die beiden Bulgaren auf der Baustelle deuten auf ein Foto von zwei friedlich äsenden Hirschen in der Bildzeitung und fragen Karl Heinz, warum hier zwei friedlich äsende Hirsche abgebildet sind, weil sie die Schlagzeile nicht lesen können, dass es sich hierbei um zwei Killerhirsche handelt, kurz vor oder kurz nach einem Angriff.

      'Nix verstehe dies Bucke-Stabe' sagen sie dann.*

      Karl Heinz erklärt ihnen, dass es sich hier um Killerhirsche handelt, legt die Bildzeitung weg und übergibt ihnen stattdessen die Zeichnung mit dem vom ihm vorgesehenen Deckenaufbau in F90.*

      ‚Geben alles zu Scheff’, sagen sie daraufhin gut gelaunt, ‚kommte morgen’, und drehen das Radio lauter.

      Während Brigitte fm4 oder Zündfunk bevorzugt, acidhouse, hardcorereggae, dubstep, noisecore und so, hört Karl Heinz am liebsten klassische Musik. Trotzdem kennt er sich wegen der vielen Baustellenbesuche ebenfalls gut mit der Hitparade aus, Shakira, Grönemayer, PUR oder Silbermond sind beileibe keine Fremdwörter für ihn*. Mit Befremden muss er sich wieder einmal anhören, wie Christina Aguilera lustig trällert, während es auf seiner Baustelle aussieht wie Deutschland 1945 und es angebrachter wäre, Zarah Leander sänge ‚Es wird einmal ein Wunder geschehen’ oder ‚Davon geht die Welt nicht unter’. Karl Heinz findet, dass es auf seinen Baustellen oft aussieht wie in ihm persönlich.

      Er unterdrückt den Impuls, dem Ghettoblaster, wie er seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts nur noch auf Baustellen vorkommt, einen Fußtritt zu verpassen und führt ins Büro zurück um Brigitte zu bitten, den Chef der Baufirma anzurufen.

      Obschon Brigitte in ihren Entscheidungen sehr spontan ist, sie hat ja auch Karl Heinz damals schon nach 14 Tagen geheiratet, ist sie vorsichtshalber ohne Erklärung nochmals mit ihm nach Hause gefahren, sieht sich dort aber letztlich in ihrem Vorhaben bestätigt. Trotzdem geht sie wie immer zur Arbeit in Karl Heinz’ Büro.

      Brigitte ruft also die Baufirma an und teilt danach Karl Heinz mit, dass sie sich scheiden lassen wollte. Sie hatte nicht den Mut, ihm das zu Hause zu sagen, oder tut es aus Rücksicht auf seine angeschlagene psychische Verfassung nicht, im Büro erscheint ihr die Atmosphäre neutraler.

      Am nächsten Tag lässt sie sich ihre Rentenversicherung ausbezahlen, etwa 9.000.—Euro, mehr Geld besitzt sie nicht, und auch von ihrem Mann kann sie keines erwarten, sie haben keine Ersparnisse und die Miete für die Dachterrassenwohnung, die schließlich Brigittes Idee war, ist hoch, auch wenn sie nur 78 qm hat. Zwar hatte Karl Heinz einmal 260.000.--, DM damals, von dem Verkauf einer Immobilie aus der ehemaligen DDR erhalten, diese aber dem Mann von Brigittes Schwester Evi gegeben. Er war Anlageberater, versprach hohe Zinsen. Kurz darauf verschwand der Mann aus Evis Leben und mit ihm auch das Geld von Karl Heinz und Brigitte.

      Brigitte beschließt, Karl Heinz noch nichts von ihrer geplanten entgültigen Abreise zu sagen, sondern unter Hinterlegung eines Zettels auf seinem Schreibtisch einfach abzureisen. Sie begründet dies seinem Partner gegenüber damit, dass sie ihm nicht die Laune verderben wolle. Der Partner runzelt daraufhin die Stirn, kümmert sich aber nicht weiter darum. Er hat zu tun: den Abschluss des Umbaus eines Fahrradkellers in eine Schulküche zu planen oder vier Fluchttreppen an einem alten Bürogebäude.

      ‚Auf Wiedersehen’ sagt sie zu ihm gewohnheitsmäßig aber nicht sehr präzise. Er nickt.

      Auf dem Bahnhof von Kempten trifft sie dann aber doch wieder auf ihren Mann, der mit demselben Zug hergefahren war, da er bald nach ihrer Abreise ins Büro gekommen war und den Zettel gelesen hat.

      Keiner der beiden hat den anderen im Zug bemerkt. Brigitte fragt Karl Heinz, was er hier wolle. Dieser antwortet, er wolle reden, worauf sie erwidert, reden könnten sie immer noch. Daraufhin fährt Karl Heinz mit dem nächsten Zug wieder heim. Kurz darauf kommt Franz, der sich verspätet hatte, um sie abzuholen, ohne Karl Heinz zu begegnen.

      Karl Heinz fährt noch mit dem Nachtzug zurück, am frühen Morgen kommt er am Bahnhof an und geht direkt vom Bahnhof auf die Baustelle, dort ist aber niemand, die Baustelle friedlich und leer. Sie sieht noch genau so aus wie die, die er gestern verlassen hat. Er ruft jetzt selbst den Chef der Baufirma an, um zu fragen, wann denn die Arbeiten weitergehen. Baufirmen sind aber ebenso unergründlich wie Asiaten, sie achten stets darauf, ihr Gegenüber nicht zu brüskieren; sie werden daher nie mit einem klaren ‚Nein’ antworten, um keine negativen Schwingungen hervorzurufen. Sie sagen gerne und oft ‚Im Prinzip’, um zu umschreiben, dass sie nicht im Traum daran denken. ‚Im Prinzip nächste Woche’ heißt daher ‚Nächste Woche auf keinen Fall’. Wenn jemand etwas nicht weiß, wird er das nicht zugeben, um nicht das Gesicht zu verlieren, und wird antworten ‚Ganz sicher vielleicht’.

      Karl Heinz überlegt lange, ob er in Zukunft statt ins Allgäu nicht lieber zu einem japanisches Kirschblütenfest fahren soll, dann zuckt er resigniert die Schultern, geht nach Hause und legt sich hin.

      *Radio Charivari, Antenne Bayern, Bayern 3, Radio Today. Sender, Programmformat nach eigener Aussage AC, Adult Contemporary ist, also Zielgruppe 20 – 50 Jahre.

      *Bei