Reinhard Warnke

Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte


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hatte die Leine, die über die beiden Haken gelegt werden sollte, nicht nur mit einer, sondern mit beiden Seiten an die Pfosten festgebunden. Nach meinem Sprungversuch, bei dem ich erwartungsgemäß die Leine berührt habe, fiel zunächst ich zu Boden und dann einer der schweren Holzpfähle hinter mir her, um schließlich mit voller Wucht auf meinem Kopf zu landen. Etwas benommen, aber lachend, saß ich auf dem Boden, bis ich merkte, dass mir das Blut am Kopf herunter lief. Jetzt allarmierte mein Schreien den Lehrer und dies war der Moment, in dem zur heutigen Zeit alle Hebel des Rettungssystems in Gang gesetzt werden würden, indem man Rettungswagen, Notarzt, Feuerwehr und Hubschrauber angefordert hätte. Ganz so dramatisch ist man seinerzeit in einer solchen Situation nicht vorgegangen. Mein Lehrer war zwar sichtlich aufgeregt, aber jederzeit Herr der Lage. Er legte eine Decke auf den Rücksitz seines Opel-Kadett, dann mich darauf und fuhr mit mir zu dem einzigen niedergelassenen Arzt in der Gegend, der seine Praxis etwa drei Kilometer von der Schule entfernt hatte. Dieser nähte die Wunde mit mehreren Stichen und stellte mir ein paar Fragen, um mit der diagnostischen Sicherheit eines erfahrenen Landarztes festzustellen, dass sich meine Gehirnerschütterung in Grenzen hielt. So konnte mein Lehrer mich wieder in seinen Kadett laden und nach Hause bringen. Mein Bedauern, dass ich nicht am Schulunterricht teilnehmen konnte, solange ich den Turban tragen musste, hielt sich dann allerdings in Grenzen.

      Die beiden noch ausstehenden Qualifikationsspiele der Nationalmannschaft wurden im Mai und Oktober 1961 ohne nennenswerte Kopfverletzungen jeweils mit 2:1 gewonnen. Gegen Nordirland in Berlin erzielten Richard Kreß und Albert Brülls die Tore, in der Begegnung gegen Griechenland in Augsburg schoss Uwe Seeler die beiden Treffer. Ohne Punktverlust hatte sich Deutschland also für die Weltmeisterschaft im südamerikanischen Chile qualifiziert.

      Im Jahr 1962 gab es in Deutschland immer noch nicht sehr viele Haushalte mit einem Fernsehgerät, sehr zur Freude der Gastwirte, sofern sie einen Fernseher in ihrer Gaststube hatten. Denn immer wenn ein Fußballspiel live übertragen wurde, war ihre Wirtschaft proppenvoll. So kam auch ich dann im April 1962 erstmals in den Genuss, ein Fußballspiel am Fernsehschirm verfolgen zu können, als mein Vater mich mit in die Bahnhofswirtschaft nahm, die sich direkt unter unserer Wohnung befunden hat. Anlass war das einzige Vorbereitungsspiel Deutschlands auf die Fußball-Weltmeisterschaft in Chile. Im Hamburger Volksparkstadion war der zweimalige Weltmeister Uruguay zu Gast. Das deutsche Team zeigte beim 3:0-Sieg eine hervorragende Leistung. Hans Schäfer, der sein erstes Länderspiel seit Ende 1959 bestritt, erzielte ein Tor, auch der Schalker Willy Koslowski war in seinem ersten Länderspiel mit einem Tor erfolgreich und ein Treffer ging auf das Konto von Helmut Haller. Das Bemerkenswerteste an diesem Spiel war neben der guten Leistung der deutschen Mannschaft aber die Berufung des 20-jährigen Wolfgang Fahrian von Ulm 46 als Torwart anstelle von Hans Tilkowski. Fahrian machte seine Sache außerordentlich gut und wurde daraufhin mit der Nummer 22 zum Stammtorhüter bei den Spielen der Weltmeisterschaft. Tilkowski aber war über diese Entscheidung so erbost, dass er erst 1964 in die Nationalmannschaft zurück kehrte.

      Auch das Endspiel um die deutsche Meisterschaft 1962 zwischen dem 1. FC Nürnberg, mit Weltmeister Max Morlock und dem 1. FC Köln, mit Weltmeister Hans Schäfer, das vor 82.000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion ausgetragen wurde, konnte ich im Fernsehen verfolgen, weil ein Freund meiner Eltern ein tragbares Fernsehgerät besaß und dies an diesem Tag bei uns installierte. Dass der „Hausfreund“ weniger Interesse am Fußball hatte, als an meine Mutter, habe ich damals nicht registriert, mein Vater aber wohl auch nicht. Unabhängig davon boten die Kölner in diesem Endspiel eine überragende Leistung. Hans Schäfer sorgte für die 1:0-Führung, zwei Tore erzielte Ernst-Günter Habig und mit seinem Treffer zum 4:0 sorgte Fritz Pott für den Endstand bei diesem glanzvollen Sieg. Der 1. FC Köln, der erst im Februar 1948 gegründet worden war, konnte damit erstmals Deutscher Meister werden.

      Der erste Auftritt des FC im Europapokal war dann weniger erfolgreich. In Runde eins war der schottische Meister FC Dundee der Kontrahent und das Hinspiel in Schottland stand unter einem besonders ungünstigen Stern für die Kölner. Torwart Fritz Ewert verletzte sich schon kurz nach Spielbeginn am Kopf und es war auch am Bildschirm unschwer zu erkennen, dass er reichlich desorientiert durch seinen Strafraum irrte. Die schottischen Stürmer schossen ihre Tore nach Belieben und ohne große Gegenwehr, bis die Verantwortlichen den bedauernswerten Ewert vom Platz nahmen und Stopper Leo Wilden zwischen die Pfosten stellten. Auch er musste noch ein paar Bälle aus dem Netz holen und so stand es am Ende 8:1 für Dundee. Im Rückspiel in Köln begann von der ersten Minute an die Aufholjagd, doch es reichte nur zu einem 4:0. Drei Tore fehlten dem FC also, um das Torwartbedingte Debakel von Dundee zu egalisieren. Die Schotten aber wurden erst im Halbfinale vom AC Mailand gestoppt, der im Endspiel auf Titelverteidiger Benfica Lissabon traf und mit 2:1 gewann. Zwei Spieler des neuen Europapokalsiegers werden auch der heutigen Jugend bekannt sein, zumindest in ihrer Funktion als Trainer: Cesare Maldini und Giovanni „Ich habe fertig“ Trapattoni. Aber auch Gianni Rivera, einer der besten Mittelfeld-spieler Italiens aller Zeiten, gehörte dieser Mannschaft des AC Mailand an, genauso wie Giuseppe Altafini, der unter dem Namen Mazzola sieben Länderspiele für Brasilien bestritten hat, nach Erlangung der italienischen Staatsbürgerschaft noch sechs für Italien und der beide Tore in dem Finale schoss.

      Ob man ein Fernsehgerät besaß oder nicht, die Spiele der Fußballweltmeisterschaft in Chile konnten die Menschen in Europa nur am Radiogerät verfolgen, da weltweite Live-Übertragungen im Fernsehen zu dieser Zeit noch nicht möglich waren. Doch schon bald sollten Satelliten am Himmel dies möglich machen. Dem 0:0-Unentschieden der deutschen Mannschaft im Auftaktspiel gegen Italien, am 31. Mai, dem Tag des 21. Geburtstags von Torwart Wolfgang Fahrian, folgten ein 2:1-Sieg gegen die Schweiz, durch Tore von Albert Brülls und Uwe Seeler, sowie ein 2:0 gegen Gastgeber Chile, bei dem Horst Szymaniak und erneut Uwe Seeler die Treffer erzielten. Deutschland wurde damit Gruppensieger und zog in das Viertelfinale ein. Eine Begegnung in dieser Gruppe geriet jedoch zu einem handfesten Skandal: Chile gegen Italien. Journalisten, die dieses Spiel beobachtet hatten, berichteten später, dass wohl alle 22 Spieler gedopt gewesen sein müssen, so wild und unbeherrscht verhielten sie sich auf dem Platz. Da wurde auf alles getreten, was sich bewegte, nur der Ball war selten in der Nähe des Geschehens. Chile wurde durch diese Schlacht, aus der sie als 2:0-Sieger hervorgingen, Gruppen-Zweiter und am Ende sogar WM-Dritter. Wie bei den beiden Weltmeisterschaften zuvor, war Deutschlands Gegner im Viertelfinale erneut Jugoslawien. Doch während Deutschland 1954 und 1958, teilweise auch etwas glücklich, die Oberhand behalten hatte, gab es diesmal durch ein unhaltbares Tor von Radakovic sieben Minuten vor Spielende eine 0:1-Niederlage. Der erneute Einzug in das Halbfinale wurde also verpasst. Trainer Sepp Herberger wurde später von der Presse vorgeworfen, er habe die Mannschaft bei dieser Weltmeisterschaft zu defensiv aufgestellt. Dies war aber sicherlich nicht der wahre Grund für das frühzeitige Ausscheiden. Der Angriff mit

      Brülls – Haller – Seeler – Koslowski – Schäfer

      war alles andere als defensiv, sondern bestand ausnahmslos aus erstklassigen, torgefährli-chen Stürmern. Aber es fehlte ein Spielmacher, wie es zuvor Fritz Walter gewesen war. Für die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1962 konnte Herberger ihn jedoch nicht noch einmal überreden. Der „Schwatte“, wie Willy Koslowski aufgrund seiner dunklen Haare genannt wurde, war überfordert und konnte die Rolle des „Halblinken“ nicht erfüllen, da er als Außenstürmer – und das zumeist über rechts – bei seinem Verein Schalke 04 für das Flanken und Tore schießen zuständig war und nicht für die Spielgestaltung. Im Übrigen muss festgestellt werden, dass Deutschland mit nur zwei Gegentoren aus dem Turnier ausgeschieden ist. Diesen Rekord mit einer deutschen WM-Mannschaft hält Torwart Fahrian noch heute.

      Im Endspiel um die Weltmeisterschaft 1962 in Santiago de Chile stand, wie vier Jahre zuvor, erneut Brasilien. Dass die Tschechoslowakei der Endspielgegner war, kam nicht von ungefähr, denn die Mannschaft der Tschechen gehörte in dieser Zeit zur absoluten Spitze in Europa und das nicht zuletzt wegen der überragenden Spieler Novak, Pluskal, Pospichal und allen voran Masopust, sowie dem hervorragenden Torwart Schroif. Doch Brasilien konnte seinen Titel durch einen 3:1-Sieg verteidigen, bei dem Amarildo, der den verletzten Pele vertrat, Zito und Vava die Tore schossen, nachdem Masopust die Tschechoslowakei zuvor mit 1:0 in Führung gebracht hatte. Wenn über den großen Pele geschrieben oder gesprochen wird, dann wird er häufig auch mit dem WM-Titel 1962 in Verbindung gebracht. Dies ist aber nur