»Das ist ja gerade die Sache. Von Anfang an wurde das Ganze für einen Scherz gehalten. Die Spurensicherung hat nur das Blut gefunden, keine sonstige menschliche DNA, keine Haare, keine Haut, keine anderen Körperflüssigkeiten, nichts. Der Pyjama war unbenutzt, Massenware eines Discounters. Man vermutet, dass er aus der Verpackung genommen und der Schaufensterpuppe angezogen wurde. Es war auch nichts von der Innenseite in den Stoff eingeblutet. Das Blut wurde voraussichtlich von außen über den Pyjama geschüttet.« Bruckner machte eine Pause. »In Eppendorf gibt es so einige schräge Rituale bei den Medizinstudenten ...«
»Ach, daher die Scherztheorie«, folgerte ich. »Sie meinen, es war ein Studentenulk?«
»Ich meine das nicht, meine Vorgesetzten glauben das und der Staatsanwalt will erst eine Leiche, bevor er den Apparat in Gang setzt. Eigentlich hätte meine Abteilung den Fall gar nicht behalten, aber dann hat man sich an mich erinnert. Jetzt wissen Sie, um was für Dinge ich mich in den letzten Monaten kümmern musste.«
Ich nickte. »Und, was haben Sie unternommen?«
»Ich war natürlich stinksauer. Ich habe mich ein paar Tage im Universitätsklinikum in Eppendorf umgesehen, habe mit dem Dekan gesprochen, mit etlichen Fakultätsvertretern. Ich habe mich sogar ins Studentenwohnheim getraut. Ich habe bei Blutbanken recherchiert, ob denen etwas fehlt. Ich habe versucht herauszufinden, woher die Schaufensterpuppe stammte. Wenn Sie wüssten, wie viele Hersteller es da gibt und die Puppe war weder alt noch neu, hätte überall her sein können.«
»Und was glaubten Sie, damit herausfinden zu können?«
»Ich wollte wissen, wer sich diesen Scherz erlaubt hat. Es war ja eigentlich nichts Strafbares, zumindest hätten die Juristen einen Paragraphen finden müssen, wie zum Beispiel illegale Müllentsorgung oder Diebstahl, grober Unfug, was weiß ich.«
»Moment, ich dachte, Sie hätten es nicht für einen Scherz gehalten?«
»Doch, anfangs war ich auch Anhänger der Scherztheorie, und darum habe ich mich doch so geärgert. Ich habe dann aufgegeben, und zwar so lange, bis Mitte Dezember eine zweite Puppe gefunden wurde. Gleicher Rasthof, aber andere Fahrtrichtung. Die Schaufensterpuppe wurde diesmal nicht im Wald gefunden, sondern auf der Damentoilette.«
»Hat wieder was mit Pinkeln zu tun«, bemerkte ich. »So eine Toilette ist doch ein belebter Ort, hat denn diesmal niemand gesehen, wer die Schaufensterpuppe aufgestellt hat?«
»Belebter Ort, das mag stimmen«, erklärte Bruckner, »aber die Anlage ist vierundzwanzig Stunden geöffnet, auch nachts, wenn nicht so viel los ist. Die Schaufensterpuppe stand in einer Kabine, die verschlossen war. Irgendjemand hat ein Schild hingehängt, defekt. Die Putzfrauen sagen, dass das Schild mindestens eine Woche da gehangen hat.«
»Und die haben sich nichts dabei gedacht, nicht mal nachgeschaut?«, fragte ich.
»Die machen da sauber, eine defekte Toilette bedeutet eine Toilette weniger zu putzen. Außerdem waren Monteure da, die haben aber genau diese eine Toilette übersehen. Dann hat sich aber doch wohl einer gewundert und mal nachgeschaut, weil es komisch gerochen hat. Es war das gleiche Modell wie die Schaufensterpuppe aus dem Wald. Ebenfalls ein Pyjama, diesmal aber ganz edel, aus grüner Seide, trotzdem wieder Discountware, wie sich später herausgestellt hat. Auf den ersten Blick war nichts zu sehen, wenigstens kein Blut. Bei der genaueren Untersuchung kam dann heraus, warum es so gerochen hat. An der Innenseite des Pyjamas hat man abgelöste Haut gefunden, gut durchgekocht, wie der Pathologe meinte. In der Gerichtsmedizin war man der Meinung, dass der Pyjamaträger sich verbrüht hat. In den Bereichen der Arme, der Oberschenkel, der Schulter und des Brustkorbes wurden Hautablösungen aufgrund einer Verbrühung festgestellt. Der Pathologe kam zum Schluss, dass die Verletzungen post mortem zugefügt wurden.«
»Warum?«, fragte ich. »Wie kann man so etwas schlussfolgern, wenn man keine Leiche hat, oder wurde eine gefunden?«
»Nein, nein, keine Leiche«, sagte Bruckner schnell. »Es war die Verteilung der Hautablösungen. Die Verbrühungen wurden nacheinander zugefügt, was einer absichtlichen Verstümmelung gleichkommt. Diese Indizien waren für den Pathologen, für meinen Chef und dem Staatsanwalt ausschlaggebend. Irgendjemand kam dann mit der Idee von den anatomischen Leichen und da war man wieder bei einem Studentenulk aus Eppendorf.«
»Eine gewagte Schlussfolgerung«, meinte ich.
»Wenigstens hatte die Art des Deliktes an Potential gewonnen. Während es im ersten Fall noch grober Unfug in Verbindung mit dem Diebstahl von Blutkonserven war, konnte man im zweiten Fall schon von Leichenschändung sprechen. Ich bekam die Akte wieder auf meinen Schreibtisch, aber erst, als die Spurensuche und der Pathologe schon fertig waren und die Sache ad acta gelegt hatten. Ich war natürlich nicht sehr motiviert, bin vorzeitig in den Weihnachtsurlaub gegangen und war in der zweiten Kalenderwoche noch ein paar Tage krank.«
»Und dann, ich ahne schon, dass da noch was kommen muss, sonst hätten Sie sich nicht bei mir gemeldet.«
Bruckner nickte. »Zwei Dinge sind noch passiert. Anfang März ist eine dritte Schaufensterpuppe aufgetaucht. Ebenfalls in der Nähe des Autobahndreiecks Moorfleet, diesmal auf einem unbewirtschafteten Rastplatz an der A25. Die Puppe lag in einem Graben unterhalb der Behälter, in denen die Autobahnmeisterei ihr Wintersalz lagert. Ein Arbeiter hat sie gefunden, hat sofort die Polizei gerufen und die haben die Mordkommission informiert. Erst die haben sich in den Graben getraut.«
»Ich rate mal, diese Schaufensterpuppe trug ebenfalls einen Pyjama, vielleicht sogar in Grün.«
»Richtig, aber der war wieder aus Baumwolle. Erst glaubte man der Pyjama wäre so verdreckt, weil er in dem Graben gelegen hat, aber das war es nicht allein. Er stank auch fürchterlich, noch stärker als der der zweiten Schaufensterpuppe. Fazit der Gerichtsmedizin: Bevor der Pyjama der Puppe angezogen wurde, muss ihn eine beerdigte, bereits verwesende Leiche getragen haben. Diese Leiche muss aber auch eine Zeitlang im Freien gelegen haben. Laut entomologischem Gutachten gab es Insektenbefall, sogar bereits Larvenbildung. Die Tiere waren im Stoff des Pyjamas hängengeblieben.«
»Da bekommt man ja einen Schauer über den Rücken«, sagte ich.
»Grober Unfug, Diebstahl, Leichenschändung, Studentenulk! Das waren die Argumente meines Chefs. Ich sollte die Bande endlich ausfindig machen und dafür sorgen, dass sie von der Uni fliegen.
Als dann vor noch nicht ganz zwei Wochen der Zeitungsartikel erschien und dieser merkwürdige Brief auftauchte, war ich auch noch davon überzeugt, dass es nichts anderes sein konnte, als ein geschmackloser, zu tiefst makabrer Scherz.« Bruckner machte eine Pause, sah mich sekundenlang an, bevor er weitersprach. »Ich habe Ihnen keine Fotos und auch keine Berichte mitgebracht. Ich habe nur diesen Brief dabei und ich zermartere mir seit Tagen das Hirn. »Bruckner griff in die Innentasche seiner Jacke und holte einen Umschlag hervor. »Fingerabdrücke kann man da vergessen. Kennen Sie Hamburg Direkt, dieses Revolverblatt mit Anspruch?«
Ich nickte. »Die Zeitung kenne ich, aber was heißt Revolverblatt mit Anspruch?«
»Ja, das war mal so ein Werbespruch von denen, es ist dabeigeblieben, Hamburg Direkt ist nur ein Revolverblatt. Die Zeitungsausgabe habe ich nicht dabei, ist auch nicht wichtig. Die haben ihren Artikel Mord an Schaufensterpuppen oder so ähnlich genannt und ein paar Details gebracht. Ich kann mir schon denken, wie die darangekommen sind. Am Ende haben sie dann mehr spöttisch als ernst angedeutet, dass sich der Mörder mit einem Brief an sie gewendet habe und dass man diesen Brief vertrauensvoll der Polizei weitergeleitet hätte.«
Bruckner hielt noch einmal den Umschlag hoch, öffnete ihn, zog ein dünnes Stück Papier heraus und reichte es mir.
»Thermopapier«, stellte ich fest. »Vielleicht von einem Faxgerät. An der Schnittkante kann man sehen, dass die Kopfzeile mit der Faxnummer und Geräte-IP abgeschnitten wurde. Also bei Thermopapier müssen Sie aufpassen, irgendwann verblasst die Schrift und verschwindet schließlich ganz.«
Bruckner nickte. »Es gibt Kopien und Proben vom Papier.« Er zögerte. »Lesen Sie doch mal, lesen doch mal laut vor.«
Ich legte das Blatt auf den Couchtisch, strich es