»(2) Trägt das Kleid der Nacht.«
»(3) Lange war sie ein Rätsel.«
»(4) Drei müssen es sein, die ihr folgen.«
»(5) Sie erwachen aus ihren Gräbern.«
»(6) Suchen nach ihrem Blut.«
»(7) Geben ihr Schicksal weiter.«
»(8) Der Kreis muss sich schließen.«
»(9) Mein Opfer ist die Erfüllung.«
»Ist das ein Gedicht?«, fragte ich.
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Bruckner zog das Blatt zu sich, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, da fehlt der Reim, ich kann zumindest keinen finden.«
»Manchmal reimt es sich erst in jeder dritten oder vierten Zeile.«
»Auch nicht, es reimt sich nirgends. Aber Sie müssen doch sagen, dass da was nicht stimmt?«
»Ich kann das nicht so einfach sagen. Ich müsste mir mehr Gedanken über die Sätze machen.«
Bruckner schob mir das Blatt wieder hin. »Ja, bitte, versuchen Sie es doch. Ich möchte nur hören, ob wir übereinstimmen.«
»Wie wäre es, wenn Sie mir gleich erzählen, was Sie denken, was Sie daraus lesen.«
»Nein, tun Sie mir den Gefallen.«
»Gut, aber ich mach das ganz spontan, das ist die einzige Methode. Nicht viel nachdenken, der erste Eindruck ist der Beste.«
Ich nahm mir die ersten beiden Sätze vor und hatte schnell ein Ergebnis. Es war eigentlich trivial. Bruckner hörte mir mit geschlossenen Augen zu. Er versprühte eine Gewisse Anspannung, das wurde mir jetzt erst richtig deutlich.
»Sie legte sich schlafen für immer. - Es geht um eine Frau oder ein Mädchen, es kann auch ein Kind sein, auf jeden Fall eine weibliche Person. Diese Person ist gestorben. Ob natürlicher Tod, Mord oder Unfall ist hier noch nicht zu erkennen. Also zum zweiten Satz: Trägt das Kleid der Nacht. - Bei dem Kleid kann es sich um einen Pyjama handeln, aber nur, weil wir ja wissen, welches Kleidungsstück die Schaufensterpuppen trugen. Vielleicht wurde der Pyjama aber auch nur zufällig als Bekleidung ausgewählt. Es könnte sich also auch generell um einen Schlafanzug handeln.« Ich überlegte. »Nein, es muss ein Pyjama sein, das nehme ich jetzt vorläufig als Fakt. Der dritte Satz: Lange war sie ein Rätsel. - Wenn sich das auf die Todesumstände bezieht, schließe ich einen natürlichen Tod aus, siehe Satz Nummer eins. Wenn es um die Person selbst geht, die ein Rätsel war, dann gibt es noch keinen Hinweis, um was für eine Eigenschaft dieser Person es geht. Fakt ist allerdings, dass das Rätsel gelöst wurde. Viertens: Drei müssen es sein, die ihr folgen. - Die Zahl selbst passt zu den drei gefundenen Schaufensterpuppen. Sie folgen der Person aus Satz eins durch die Gemeinsamkeit, dass sie alle das sogenannte Kleid der Nacht tragen, eben einen Pyjama, siehe Satz zwei. Das Folgen kann sich zudem auf Satz eins beziehen. Da Schaufensterpuppen keine Lebewesen sind, also auch nicht sterben können, aber die Person aus Satz eins offensichtlich gestorben ist, stehen die Schaufensterpuppen stellvertretend für drei Personen, die ebenfalls gestorben sind.«
»Das klingt kompliziert«, warf Bruckner ein. Er hatte die Augen immer noch geschlossen. »Es stimmt aber mit dem überein, was ich mir bislang auch so gedacht habe. Machen Sie bitte weiter.«
Ich starrte auf das Blatt. »Die Sätze fünf und sechs sagen mir gar nichts! - Sie erwachen aus ihren Gräbern. - Suchen nach ihrem Blut. - Das sieht mir eher nach Fantasy aus. An dieser Stelle würde ich auch sofort an einen Studentenulk denken. Also schnell weiter, bevor ich mich mit meinen eigenen Gedanken manipuliere.«
Ich las die nächsten Sätze, bis zum Ende des Textes, ohne dass mir eine inhaltliche Trennung auffiel. Ich musste etwas länger nachdenken. Bruckner öffnete die Augen. Unsere Blicke trafen sich.
Ich nickte ihm zu. »Schon gut, ich hab’s ja gleich. Der Rest des Textes, also: Geben ihr Schicksal weiter. - Der Kreis muss sich schließen. - Mein Opfer ist die Erfüllung. - Die Sätze sieben bis neun haben etwas mit Rache zu tun, davon bin ich überzeugt.« Ich stutzte. »Auf der anderen Seite kann ich mir auch vorstellen, dass die Leute, die das mit den Schaufensterpuppen und diesen Versen getan haben, sich totlachen, wenn sie uns jetzt hier so sehen.«
Bruckner verzog keine Mine. Er überlegte, bevor er etwas erwiderte. »Erstens ist Ihre letzte Aussage nicht sehr gut für meine derzeitige Gefühlslage. Zweitens können Sie natürlich recht haben. Was schlagen Sie also vor, um herauszufinden, was wirklich hinter der Sache steckt. Am Ende möchte ich nämlich gerne jemandem in den Arsch treten. Entschuldigung!«
Ich lachte. »Das ist gut, wenn Ihnen das hilft, wieder aus Ihrem Tief herauszukommen, dann bin ich dabei. Was sagten Sie, wann ist der Artikel erschienen?«
»Der in dem Revolverblatt?«
»Ja, Hamburg Direkt. Die finde ich eigentlich gar nicht so schlimm, haben manchmal ganz interessante Themen, schnell zu lesen, mit Aha-Erlebnis.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte Bruckner stirnrunzelnd.
»Naja, man kann sich so herrlich aufregen. Da gibt es nur Gut und Böse, das kann sich jeder merken.«
Bruckner zuckte mit den Schultern. Er holte ein nagelneues Smartphone aus seiner Jackentasche, machte ein paar Klicks und reichte mir dann das Gerät.
»Letzten Mittwoch! Der Online-Text ist identisch mit der Printausgabe.«
Ich scrollte durch den Text. Hier standen einige von den Details, über die mir Bruckner vor wenigen Minuten berichtet hatte. Das Ganze schloss mit den Worten, dass die Zeitungsredaktion mit der Polizei kooperiere und sie tatkräftig unterstützte, die Angelegenheit aufzuklären. Ich ließ mir noch einmal die Schlagzeile des Artikels durch den Kopf gehen. Mord an Schaufensterpuppen! Es klang nicht sehr reißerisch, eher seriös, und es stimmte, der gesamte Artikel sollte den Eindruck von Seriosität vermitteln.
»Wissen Sie was«, sagte ich schließlich. »Ich veröffentliche einfach einen Leserbrief, und zwar mit dem Titel Puppenmord. Kennen Sie Puppenmord?«
Bruckner überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf.
»Das kennen Sie bestimmt, ist ein Roman von Tom Sharpe. Im Original heißt er Wilt, nach dem Protagonisten. Es gab mehrere Fortsetzungen. Der erste Teil wurde sogar verfilmt. Es ist eigentlich eine Komödie, eine sogenannte Verwechslungskomödie. Wilt ist mit einer lebensgroßen Gummipuppe unterwegs und entsorgt sie in einer Baugrube. Dann geht der Spaß erst richtig los, weil ihn jemand beobachtet hat.«
»Für mich ist die ganze Sache aber kein Spaß«, warf Bruckner ein.
»Ich mache aber einen daraus und behaupte in meinem Leserbrief einfach, dass das mit den Schaufensterpuppen alles schon dagewesen und aus meiner Sicht extrem langweilig ist. Dass es eben Puppenmord von Tom Sharpe ist. Vielleicht kann ich ja jemanden damit provozieren, aus der Reserve locken. Die Leute haben sich einmal mit der Presse eingelassen, vielleicht tun sie es wieder und machen diesmal einen Fehler und wir haben ganz schnell unsere Scherzbolde. Das Ganze nennt sich proaktive Strategie.«
»Ja, ja, das kenne ich«, erwiderte Bruckner. Gezielte Veröffentlichung von Informationen, um einen unbekannten Täter zu gewünschten Handlungen zu verleiten. Es mag ja sein, dass sich Scherzbolde darauf einlassen, die machen das mit, aber was ist mit einem Mörder?«
Mittwoch, 3. April 2013
Bruckner konnte es nicht gefallen, dass unsere Angelegenheit in Sachen Leserbrief so lange dauerte. Ich wollte meinen journalistischen Erguss natürlich so gut wie möglich machen. Ich schrieb den Text vor, kam aber erst am Wochenende dazu, ihn druckreif fertigzustellen. Ich wollte schließlich nicht, dass die Redaktion von Hamburg Direkt meinen Kommentar ablehnte. Bruckner hatte bis Freitag mehrere Male versucht, mich am Telefon zu erreichen. Am Wochenende ließ er mich aber in Ruhe und gleich am Sonntagnachmittag konnte ich ihm den Text mailen.