K. Ingo Schuch

Armadeira


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mit der Hand hinüber und fühlte ihm die Stirn. Der Junge hatte Fieber! Wahrscheinlich hatte ihm das wiederholte Baden in dem trüben Wasser nicht wirklich gut getan. Wer wusste schon, was da alles herum schwamm? Zu der physischen Erschöpfung gesellte sich langsam Resignation. Wie sollte das weitergehen? Er selbst war körperlich nahe am Zusammenbruch und jetzt wurde der Junge auch noch krank. Er konnte do Nascimento und ihn doch nicht hier lassen und halbblind alleine weiterlaufen. Zumal er am liebsten auch einfach hier sitzen geblieben wäre. Das war aber auch einfach zu blöd! Zwei erwachsene Männer, Polizisten zumal, die schon manch brenzlige Situation überstanden hatten.

      Aber das war der Großstadtdschungel gewesen, in der er aufgewachsen war und den er kannte. Das hier war der echte Dschungel. In den Bäumen schnatterten Sittiche und andere Vögel, deren Laute er nicht zuordnen konnte und Affen brüllten oder kreischten. Myriaden von stechenden und beißenden Insekten erfüllten die Luft und bei dem Gedanken an das andere Viehzeug, das hier wahrscheinlich hinter irgendwelchen Büschen oder auf den Ästen lauerte, zogen sich ihm die Gedärme zusammen. Sie mussten hier weg!

      »Vanderlei, meinst du, du schaffst noch ein paar Schritte? «

      Der junge Mann hing kraftlos auf dem Stamm und hatte den Kopf an einen Baum gelehnt. Langsam schüttelte er den Kopf und presste zwischen den Zähnen hervor: »Chefe, mir geht es gar nicht gut. So schlecht war mir nicht mehr seit meiner Schulabschlussfeier und ich glaube nicht, dass ich es aus dieser Hölle raus schaffe. Lassen Sie mich einfach hier hocken und versuchen Sie, do Nascimento und sich zu retten. «

      Teixeira erhob sich ächzend und atmete tief durch wie ein Leistungssportler, der sich auf seine nächste Übung vorbereitet. Dann brüllte er mit letzter Kraft: »Vanderlei Freitas de Conceição. Ich befehle Ihnen als Ihr Vorgesetzter, sich zusammen zu reißen. Wir marschieren jetzt die paar hundert Meter weiter bis zur nächsten Hütte und nehmen diesen bedauernswerten Mann hier mit. Wir sind Polizisten und keine Touristen! «

      Die barsche Ansprache bewirkte tatsächlich, dass Vanderlei noch einmal seine letzten Kräfte mobilisierte. Die behelfsmäßige Trage schwankte zwischen ihnen, wie zwei Betrunkene stolperten sie weiter. Alle zwanzig Schritte lies Teixeira den jungen Mann etwas verschnaufen, dann ging es weiter.

      Nach einer weiteren halben Stunde brach Vanderlei endgültig zusammen. Seine Beine knickten einfach unter ihm weg und er sackte zusammen. Die Trage knallte unsanft auf den Boden und do Nascimento stieß einen Schmerzensschrei aus. Teixeira hockte sich auf den Boden und sah nach seinen beiden Patienten.

      Der Junge fieberte und atmete flach. Do Nascimento war durch den heftigen Aufprall aufgewacht. Stöhnend blickte er Teixeira verständnislos an und krächzte: »Was ...? Wo sind wir? « Er tastete nach seinem Kopf und schien nicht zu begreifen, warum er da in ein blutgetränktes Stück Stoff fasste. Er versuchte, sich aufzustemmen. Dann verdrehte er wieder die Augen und versank erneut in einer gnädigen Bewusstlosigkeit.

      Teixeira blickte sich um. Irgendwo musste er sauberes Wasser und etwas Essbares herbekommen. Es war zum verrückt werden! Einige Meter weiter rauschte der Fluss vorbei, aber er war sicher, dass es genau diese braune Brühe war, die Vanderlei krank gemacht hatte. Auf der Herfahrt hatte er gesehen, dass die Anwohner im Fluss ihre Kinder badeten und ihre Wäsche wuschen und ziemlich sicher bezogen sie ihr Trinkwasser auch aus dem Fluss, aber wahrscheinlich hatten sich diese Menschen über Generationen an die Bakterien oder Kleinstlebewesen gewöhnt, die sie mit jedem Schluck aufnahmen. Sie aber kamen aus der so genannten Zivilisation und ihr Organismus war den Attacken wehrlos ausgeliefert. Um do Nascimentos Wunde auszuwaschen, war das Flusswasser sicher gänzlich ungeeignet.

      Er dachte nach. Mit Vanderlei und dem Angeschossenen kam er nicht weiter und entweder kam bald ein Boot vorbei oder sie würden alle drei hier noch verrecken. Dabei waren sie doch nicht wirklich tief im Regenwald! Aber wo waren nur die Bewohner? Do Nascimento und seine Begleiter waren die einzigen Menschen gewesen, denen sie seit gestern Nachmittag begegnet waren.

      Die Indios. Die mussten ja irgendwann Osvaldos Boot flott gemacht haben und sollten sich dann auf den Rückweg machen. Wenn er sich unten ans Ufer hockte, mussten sie irgendwann an ihm vorbei kommen. Das wäre die einzige Chance, heute noch hier weg zu kommen. Er wusste nicht, wie lange man bei den Temperaturen ohne Wasser und Nahrung aushalten konnte, aber Vanderlei war krank und musste zu einem Arzt und do Nascimento hatte überhaupt nur eine Chance, wenn er sehr bald hier raus kam.

      Er brach einige Äste ab, um damit einen lächerlich fadenscheinigen Schutzwall um seine Kameraden zu errichten. Mit dieser hilflosen Geste wollte er es zumindest den vierbeinigen Viechern erschweren, an ihre wehrlosen Opfer heranzukommen. Dann bahnte er sich einen Weg durch das Gestrüpp zum Fluss. Das Ufer war hier steil und der Pflanzenteppich wirkte wie eine Rutschbahn. Er geriet mit einem Bein ins Wasser, bevor er sich an einer Wurzel festhalten konnte. Zwei Meter weiter war ein morscher Baumstamm in den Fluss gekippt. Diesen erkor er zu seiner Aussichtsplattform, hockte sich so gut es ging darauf, stützte das Kinn auf die Hand und wartete. Er war furchtbar erschöpft und mit der Zeit fiel es ihm immer schwerer, die Augen aufzuhalten. Der Nahrungs- und Flüssigkeitsmangel machte ihm schwer zu schaffen. Er hatte Kopfschmerzen und sein Magen war ein Schwarzes Loch.

      Unsinnigerweise kam ihm ein Film in den Sinn, den er und Silvana vor nicht so langer Zeit im Kino gesehen hatten. Mit diesem Schwarzen. Da ging es um den letzten Menschen in New York, der als einziger den bösen Virus überlebt hatte. Nachts musste er sich immer in seinem Haus verbarrikadieren, weil irgendwelche Mutanten (waren es nicht Vampire gewesen?) die verwilderte Stadt unsicher machten. Langsam kroch Teixeira eine Gänsehaut über den Rücken. Irgendwie kam er sich jetzt vor wie dieser Typ in dem Film. Ganz alleine und überall lauerten diese Kreaturen. Jedes Mal, wenn im Fluss ein Fisch oder ein anderes Tier plätscherte, schreckte er hoch und versuchte angestrengt, etwas zu erkennen. Einmal knackte ein Ast im Unterholz hinter ihm und er stellte sich vor, wie sich irgendetwas Großes an ihn heranschlich. Vorsichtshalber nahm er seine Pistole heraus und hielt sie in der Hand.

      Er musste weggenickt sein, denn als er die Augen aufschlug, hatte sich die Dämmerung herabgesenkt und die letzten Sonnenstrahlen zauberten lange Schatten auf den Fluss.

      Teixeira versuchte die bleierne Müdigkeit abzuschütteln. Er durchwühlte zum wiederholten Male seine Taschen. In der Hose hatte er neben den Einzelteilen seiner Brille immer noch sein Feuerzeug. Es war ein Einweg-Feuerzeug aus Plastik. Ein Werbegeschenk von seiner Tankstelle oben an der Avenida Interlagos. Er drehte das Rad und war überrascht, als ein kleines Flämmchen neben seinem Daumen erschien. Er blickte sich um und entdeckte einige lose Äste, die zwar nicht ganz trocken waren, aber nachdem er von der zerknüllten Zigarettenpackung aus seiner Hosentasche etwas Papier abgerissen und entzündet hatte, konnte er nach einigen Fehlversuchen ein rauchendes Feuer entfachen, das vielleicht wenigstens die Mücken abhalten würde.

      Dann erhob er sich mit wackligen Beinen und kletterte die flache Böschung hoch, um nach Vanderlei und do Nascimento zu sehen.

      Die Dunkelheit kam in diesen Breiten unmittelbar. Der Schein seines provisorischen Lagerfeuers reichte gerade zwei, drei Meter weit, danach waren nur noch Rauch und Schwärze. Zwischen den Bäumen war es bereits stockdunkel. Die Männer mussten gleich vor dem umgestürzten Baumriesen dort liegen, aber als Teixeira diesen erreichte, war do Nascimento nicht zu sehen. Er bückte sich und ertastete das schweißgebadete Gesicht Vanderleis mehr als er es sehen konnte - aber wo war do Nascimento?

      Er stakste unbeholfen einige Schritte in jede Richtung und rief den Namen des Ingenieurs, aber der blieb verschwunden.

      Teixeira hockte sich auf den Baumstamm und dachte nach. Er hatte geschlafen. Bestimmt eine Stunde oder länger. Do Nascimento musste aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht und aufgestanden sein. Wie weit konnte jemand mit einer Kopfwunde in dieser Umgebung kommen, wenn er so viel Blut verloren hatte? Nicht weit. Aber im Dunkeln und ohne Brille würde er ihn nur finden, wenn er direkt über ihn stolperte. Was tun? Wenn ein Tier den Mann geholt hatte, war es jetzt ohnehin zu spät. Meu deus! Was sollte er Anna erzählen? Wissen Sie, wir haben unser Boot verloren und dann ist Ihr Ex-Mann angeschossen worden und während ich geschlafen habe, hat ein Jaguar ihn gefressen. Das tut uns außerordentlich leid, der Polizeichef schickt seinen Vertreter zur Beerdigung. Wenn er noch lebte, was Teixeira inständig