R. R. Alval

Homo sapiens movere ~ geschehen


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konnte es mir in der Stille jedoch auch nur einbilden.

      Um eins.

      Toll!

      In nicht ganz zwei Stunden würden meine Gäste eintreffen. Meine Eltern, mein Bruder mit seiner Frau – würg – und meine Schwester. Außerdem meine Freundin Lucy. Samt aktuellem Freund. Wie hieß der gleich? Roland. Ronny. Rudolf… egal. Irgendwas mit R. Unnötig es mir zu merken. Lucy wechselte ihre Freunde so oft wie andere die Unterwäsche. Manchmal sogar noch schneller. Ihre längste Beziehung hatte einundzwanzig Tage gehalten. Plus minus ein paar Stunden. Da ich Lucy seit zehn Jahren kannte, sagte das eine Menge aus.

      Trotzdem war sie mir die liebste und beste Freundin. Sie hatte mir in der Zeit, als mein Mann Lance gestorben war, sehr geholfen. Ich vermisste ihn immer noch. Aber nicht mehr so sehr. Ohne Lucy wäre ich eingegangen. Wäre neben seinem Grab verwelkt. Sie war die einzige, die verstand, warum ich mich nicht neu verlieben wollte. Liebe war schön und gut. Aber sie konnte auch verdammt noch mal scheiße wehtun.

      Erneut sah ich an die Uhr.

      Fünf nach eins.

      Hmm… noch genug Zeit in den Supermarkt zu flitzen und eine Torte aus dem Frost zu holen. Vielleicht taute die ja innerhalb von ein, zwei Stunden auf. Dazu Sprühsahne. Und fertigen Kaffee aus der Kühlabteilung. Den könnte ich in die Mikrowelle… äh, auf die Heizung stellen.

      Frustriert rieb ich mir über die Augen.

      So hatte ich mir meinen 34. Geburtstag weiß Gott nicht vorgestellt. Nun gut: Es gab Schlimmeres. Richtig? Der Strom würde schon irgendwann wiederkommen.

      Rasch zog ich mich an. Schal, Mantel, Stiefel, Handschuhe. Mütze. Die war wichtig. Meine roten Haare schienen bei manchen die Vermutung hervorzurufen, ich könnte eine movere sein. War ich nicht. Wüsste ich. Meine Nachbarin war eine. Bis vor kurzem hatte ich es nicht mal geahnt. Sie war so… nett gewesen. Einige aus dem Haus munkelten, sie hätte Heilkräfte besessen. Andere, dass sie kleine Kinder aß. Wieder andere, dass sie Feuer spie. Vor zwei Monaten hatte man sie abgeholt; abgeführt wie eine Schwerverbrecherin. Dabei war sie Mitte 90.

      Bis jetzt hatte ich sie nicht wieder gesehen.

      Waren movere gefährlich oder nicht? Falls jeder so war wie meine Nachbarin... Vielleicht hatte sie sich verstellt? Mal ernsthaft: Ich hatte nie Kinderleichen gesehen. Oder Rauch aus ihrer Nase aufsteigen. Wäre sie hingegen wirklich in der Lage gewesen zu heilen…

      Nein!

      Mit Sicherheit nicht. Niemand wurde abgeführt, weil er andere heilte.

      Ich griff Schlüssel und Geldbörse und eilte zum Supermarkt. Oh prima! Er war – welch Wunder – geschlossen. Ich klatschte meine Hand an die Stirn. Klar. Vermutlich hatte unsere gesamte Straße keinen Strom. Ohne den funktionierte auch im Supermarkt rein gar nichts. Noch nicht mal die Türen.

      Seufzend atmete ich aus.

      Wir lebten im 21. Jahrhundert und doch waren wir abhängig: Von Strom, von Benzin und Diesel, von Geld. In der Ferne hörte ich Menschen brüllen. Bestimmt wieder eine Demonstration. Oder… ich runzelte die Stirn. Schüsse waren zu hören. Das Bersten von Glas. Der Alarm von Autos. Das Rattern von Hubschraubern. Zumindest die gehörten inzwischen zum Alltag. Seitdem vor drei Monaten damit begonnen worden war die movere einzusammeln. Die gefährlichen von ihnen. Obwohl sie das wahrscheinlich alle waren.

      Die Hubschrauber flogen nun direkt über mich hinweg.

      Drei, vier, acht Stück. Alle bewaffnet. Ich schluckte, sah auf die gegenüberliegende Straße und nahm die Beine in die Hand. Die Geräusche waren zu nah. Und sie kamen näher. Die Hubschrauber standen nun in der Luft. Ich sah und hörte mit Entsetzen, dass sie begannen zu schießen.

      Mein Herz klopfte mir in den Ohren. Vergessen waren die Torte, der abwesende Strom, das Desaster meines Geburtstags.

      Ich rannte so schnell ich konnte zu meiner Wohnung. Mit zittrigen Fingern öffnete ich die Haustür, hastete hinauf in den zweiten Stock, öffnete die Tür, huschte hinein und schloss sie sofort wieder. Schwer atmend lehnte ich mich von innen dagegen. Legte die Hand auf meinen Brustkorb. Versuchte mich zu beruhigen.

      Was zum Teufel ging da draußen vor sich?

      Eine normale Demonstration ganz sicher nicht. Ich hatte keine Parolen gehört. Dafür das Geräusch von Chaos.

      Oh Gott!

      Griffen die movere an? Zeigten sie ihre wahren, hässlichen Fratzen? Ganz ruhig, sagte ich mir. Nur wurde das panische Gefühl schlimmer.

      Die aufgepeitschte Menge musste sich inzwischen unweit von meiner Wohnung aufhalten. Ich hörte Schreie. Auch die anderen Geräusche wurden lauter. Schluckend schlich ich zu meinem Fenster. Pfft – als könnte mich jemand hören, wenn ich nicht leise auftrat. Mit angehaltenem Atem spähte ich durch einen kleinen Spalt der Gardine.

      Die Hubschrauber waren ein Stück zurückgeblieben. Die Menschen hingegen rannten… um ihr Leben? Wie …

      Dann sah ich es.

       Sie.

      Wesen aus Alpträumen.

      Bunt gemischt mit den schönsten Männern und Frauen, die ich je gesehen hatte. Unmenschlich stark. Unmenschlich schnell. Brutal. Sie fielen über die Menge her. Schlitzten im Vorbeilaufen die Körper auf. Trennten Köpfe ab. Rissen Kehlen heraus. Sie überrannten die Menschen. Also, wenn das movere waren, fraß ich einen Besen. Quer! Von mir aus auch hochkant.

      Das da… war etwas ganz Anderes.

      Das Militär versuchte diese Viecher aufzuhalten. Aber was immer diese Wesen taten, die Geschosse trafen nicht. Ich sah einen dieser schönen Männer ein Auto – ein Auto! – anheben und nach dem erstbesten Hubschrauber werfen. Er traf. Unfähig meine Augen von dem Geschehen abzuwenden und mich – weit weg vom Fenster – in Sicherheit zu bringen, sah ich zu. Der Hubschrauber trudelte. Qualmte. Stürzte in eins der Häuser schräg gegenüber. Er fing sofort Feuer. Und kurz darauf gab es einen gewaltigen Rumps. Hektisch warf ich mich auf den Boden, während Glassplitter und kleine Betonbröckchen auf mich herabregneten.

      Fantastisch!

      Es gab keine Fenster mehr zwischen mir und den Dingern da draußen.

      Mein Herz klopfte so laut, dass jeder es hören musste.

      Ich blieb liegen. Unfähig aufzustehen; mich unter dem Bett oder im Schrank in Sicherheit zu bringen. Erst als die Geräusche draußen etwas leiser wurden, rappelte ich mich auf. Vorsichtig, um meine Hände nicht an den Glassplittern zu verletzen. Geduckt lief ich aus der Sichtweite möglicher… äh… fliegender Dinge.

      Mein Kopf war leer.

      Dabei hätten tausend Fragen geklärt werden müssen.

      Allerdings sorgten Fassungslosigkeit und pure Angst für statisches Rauschen.

      Minuten vergingen. Vielleicht auch Stunden. Allmählich wurde mein Kopf klarer. Ich betete, dass meine Familie sicher war. Hoffte, dass keins der Wesen die Häuser durchsuchte. Oder – an der Wand nach oben kletternd – durch mein Fenster spähte.

      Da!

      Jemand war im Haus. Um präzise zu sein, an meiner Wohnungstür. Mit einem leisen Klick ging diese auf. Ich hatte damit gerechnet, dass sie einfach eingetreten wurde. Aber was wusste ich schon, wozu diese… diese… Dinger fähig waren? Ich hielt die Luft an. Überlegte, was ich tun sollte. Womit ich mich verteidigen könnte. Meine Waffe lag in der Schlafstube. In einer Kiste. Die Munition daneben.

      Ich könnte losrennen.

      Wäre ich schnell genug?

      Ein riesiger Körper trat durch die Tür. Mit so breiten Schultern, dass er kaum hindurch passte. Kaum hörbar atmete ich aus. Er schloss leise die Tür hinter sich. „Paps.“

      Erleichtert sank ich in seine weit ausgebreiteten Arme.

      Sofort hatte ich das Gefühl, dass