R. R. Alval

Homo sapiens movere ~ geschehen


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Erscheinung; besonders neben meiner Mutter. Sie war klein; kleiner als ich. Hatte helle Haut, blonde Haare, blaue Augen. Zart wie eine Elfe. Paps hingegen… gäbe es Berserker, er hatte die Statur dazu. Zwei Meter groß. Dunkle Haare. Beinah schwarze Augen, die jeden mit einer Intensität ansahen, als ob er imstande sei bis auf die Seele zu blicken. Muskulös; sehr muskulös. Ich wusste, dass er immer noch einen Waschbrettbauch besaß. Im Sommer beim Grillen sah man so einiges. Selbst mit meinen nunmehr 34 Jahren fühlte ich mich neben ihm immer noch wie ein Kind. Geborgen und beschützt. Mein Fels in der Brandung.

      Sein Job hatte ihn hart gemacht. Er hatte ihn überlebt.

      Welch Ironie, dass der mit der militärischen Laufbahn einen einfachen Polizisten überlebte. Nicht, dass ich einen der beiden wichtigsten Männer in meinem Leben je freiwillig aufgegeben hätte. Meinen Ehemann zu verlieren hatte nur mich geschwächt. Paps zu verlieren hätte die ganze Familie betroffen.

      Dreißig Jahre hatte er gedient. Ich konnte mich nicht erinnern, wie oft wir umgezogen waren. Von einem Stützpunkt zum nächsten. Es war nicht immer toll gewesen. Oder aufregend. Besonders, wenn Paps verletzt von einem Einsatz zurückkam. Doch er hatte es immer geschafft.

      „Wo ist Mom?“ Meine Stimme zitterte ein wenig. Ich hatte Angst vor der Antwort. „Bei Katrin. Es geht ihr heute nicht so besonders.“

      „Mom ist krank?“ Paps schüttelte den Kopf. „Katrin. Wir denken, sie bekommt eine Grippe.“ Auch das noch! Wo sie doch immer noch so angeschlagen war. „Francine und Alex sind in den Süden gefahren. Rauf zu unserem Bungalow.“ Ich nickte. Der Bungalow verdiente diesen Namen eigentlich gar nicht. Eher entsprach er einem mittelgroßen Sommerhäuschen. Solide Bauweise. Fließendes Wasser. Zwei Etagen. Eigenes Grundstück. „Glaubst du, dort ist es ruhiger?“

      „Ich weiß es nicht. Ich hoffe es aber. Ich möchte, dass du ihnen folgst. Sobald es Katrin besser geht, kommen wir ebenfalls nach.“ Ich schluckte meine Befürchtungen hinunter. Sogar meinen Kommentar, dass ich unmöglich unter einem Dach mit Francine wohnen konnte. Ich mochte Alex‘ Frau nicht. Sie war mir zu aufgetakelt. Zu gestelzt. Hielt sich für etwas Besseres. Ich hatte keine Ahnung was Alex an ihr fand. Vielleicht mochte er ihre Titten. Oder ihren Arsch. Mein Bruder war schließlich auch nur ein Mann; und lecker war die Frau.

      „Du musst das Motorrad nehmen. Ich glaube kaum, dass du mit dem Auto aus der Stadt rauskommst. Es sind zu viele unterwegs. Wollen alle weg. Nimm Seitenstraßen. Fahr über den Bürgersteig. Ignorier Verkehrsregeln. Denke nur ans Überleben. Hast du das verstanden?“ Der Drang zu salutieren war übermächtig. Ich tat es nicht. Bestätigte seine Aufforderung mit einem klaren Ja.

      Unausgesprochen blieb, dass ich nur das Nötigste nitmehmen durfte. Ein Rucksack. Etwas zu trinken. Ein paar Müsliriegel. Irgendetwas, was nicht verdarb. „Wenn es hart auf hart kommt, scheiß’ auf die Regeln. Denk‘ nur an dich.“ Ich nickte. In meinem Hals saß ein Kloß so groß wie ein Medizinball. Er wurde größer, je mehr Instruktionen er mir gab. Ganz der Mann, der seine Lektionen gelernt hatte. „Hier.“ Er drückte mir ein Messer in die Hand. Es steckte in einer ledernen Scheide, an der ein kleiner Gurt befestigt war. „Zögere nicht. Benutze es!“ Wenn es hart auf hart kommt. Er sprach es nicht aus. Wir wussten es beide. Was immer da draußen los war – Menschen waren das keine. „Falls dir jemand eine Handfeuerwaffe verkaufen will – glaub mir, solche Leute wird es geben – lass es bleiben.“ Ich runzelte die Stirn. „Ich hab doch eine.“

      „Sie wird dir nichts nützen. Die sind zu schnell.“ Über Paps Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. Ein flüchtiger Ausdruck, den ich mir auch eingebildet haben könnte. „Nimm deine Waffe trotzdem mit. Ich weiß, was du kannst. Schließlich war ich dein Lehrmeister.“ Er zwinkerte mir zu, womit er mir mehr Mut gab, als mit irgendwelchen Floskeln. „Handys funktionieren ebenso wenig wie Strom. Das war anscheinend das erste, was die gekappt haben. Wie sie die Handynetze stören, kann ich nur vermuten. Sollten die die Satelliten erwischt haben, hat keiner Nachricht davon geben können.“

      Wäre wahrscheinlich auch keinem aufgefallen, wenn so ein Ding ins Meer stürzte. Oder mitten ins Nirgendwo. Sofern sie gerade mit anderweitigem Chaos beschäftigt waren.

      „Also keine Möglichkeit miteinander in Kontakt zu treten. Ich lass dich ungern allein gehen. Aber allein dürftest du die besten Chancen haben.“ Verstand ich nur zu gut. Niemand, auf den ich Rücksicht nehmen musste. Allerdings auch niemand, der mir im Ernstfall half. „Noch was…“, er holte tief Luft, „Vermeide offensichtliche Militäreinrichtungen. Wenn ich die wäre, wären diese Stützpunkte mein zweites Ziel.“ Gleich nach der Unterbrechung der Kommunikation. Ich nickte. Hörte auch das, was er nicht sagte. Drückte ihn in einer stummen Umarmung. „Danke Paps.“ Er umarmte mich fest. „Danke mir, indem du überlebst.“ Darauf konnte er sich verlassen. Ich hatte nicht vor ins Gras zu beißen. Er wartete noch, bis ich alles Nötige im Rucksack verstaut hatte und begleitete mich nach unten. Mein Motorrad lag auf der Seite, schien auf den ersten Blick jedoch noch funktionstüchtig. Paps half mir es aufzurichten.

      Überall lagen Metallteile, Schutt und Asche. Von anderen Dingen ganz zu schweigen.

      Der Himmel – obwohl noch nicht mal drei am Nachmittag – war dunkel. Der Rauch reizte meinen Hals und ließ mich husten. Ich steckte den Schlüssel an, drückte den Zündknopf. Mit einem leisen Röhren erwachte es zum Leben. „Steig auf. Ich bring dich zu Katrin.“

       „Negativ. Sieh zu, dass du aus der Stadt verschwindest.“ Paps war im Militärmodus.

      Gut.

      So musste ich mir weniger Sorgen machen.

      Ich setzte den Helm auf, nickte ihm zu und fuhr los, ohne einen Blick zurück zu werfen.

      Anfangs kam ich gut voran. Doch es wurde zusehends schwieriger. Einige Stadtteile waren derart verwüstet, dass ich selbst mit dem Motorrad meine Schwierigkeiten hatte. Leichen, Schutt, Dreck, Scherben, Blut. Mehr als einmal schluckte ich. Blinzelte. Ich wollte die Augen verschließen. Nichts mehr sehen. Aber das wäre idiotisch gewesen. Ich mochte Dank Paps Ausbildung in der Lage sein ein Ziel aus weiter Entfernung zu treffen, aber blind fahren gehörte nicht zu meinen Talenten.

      Ich war schon mehr als eine Stunde unterwegs und noch immer nicht aus der Stadt heraus. Ein Mann zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Er kam mir bekannt vor. Allerdings bemerkte er mich nicht. Er beugte sich über jemanden. Oder etwas. Ich konnte nicht erkennen, was es war. Vielleicht ein Hund?

      Paps Anweisungen fielen mir ein.

      Doch ich konnte an dem Mann nicht vorbei fahren. Ich wusste, woher ich ihn kannte. Es war Lucys Freund. R… irgendwas. Als ich fast vor ihm stand, erkannte ich, dass er sich über einen Menschen beugte. Vermutlich eine Frau. Sämtliche Härchen auf meinen Armen richteten sich auf. Aber es war nicht Lucy.

      Gott sei Dank.

      Der Großteil des Körpers war… nicht mehr vorhanden. Ihre Augen standen weit offen. Blickten ins Leere. Entsetzen und Unglauben waren in ihr Gesicht gemeißelt. Anhand ihrer Ähnlichkeit mit Lucys Freund würde ich darauf tippen, dass es sich um seine Schwester handelte. Ich hielt neben ihm; ließ den Motor laufen. „Hey.“ Wie in Zeitlupe richtete er seinen Blick auf mich. Tränen liefen über seine Wangen. Sein Schmerz war greifbar. Er brauchte einen Moment, dann schien er mich zu erkennen. Nickte. „Chantalle.“ Ich schluckte. Die nächste Frage schmeckte wie Galle. „Wo ist Lucy?“ Seine Lippen zitterten. Geräuschvoll holte er Luft. Zeigte mit dem Arm in die Ferne. Schüttelte den Kopf. „Sag mir, dass es ihr gut geht.“ Flehende Worte, auf die er mit einem verzweifelten Schulterzucken reagierte. „Sie war nicht daheim. Keine Ahnung, wo sie ist. Wir sind zwar nicht mehr zusammen, aber… ich mach mir Sorgen.“

      Ich hatte sie nirgends gesehen. War auch schwer zu sagen bei denen, die durch die Straßen wankten. So dreckig wie sie alle waren. Aber sie würde wohl kaum auf die Idee kommen, trotzdem zu mir zu kommen. Oder? Nein, ich hielt sie für klüger. „Da lagen so viele Tote. Himmel… so viele! Einfach abgeschlachtet. Ich bin rüber zu meiner Schwester, hab sie mir geschnappt. Wir sind bis hierher gekommen. Dann…“ Seine Stimme brach. Sein Kehlkopf bewegte sich beim Schlucken. „Es war nur einer. Ich weiß nicht, warum sie sich