R. R. Alval

Homo sapiens movere ~ geschehen


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einen Schritt zurück. Fast sah es aus, als gäbe sie – hocherhobenen Hauptes und mit funkelnden Augen – ihre Niederlage bekannt.

      Genau in dem Moment knurrte es hinter uns.

      Ruckartig drehte ich mich um, vergaß dabei, dass meine Füße und Beine angeschraubt oder festgeklebt waren und ruderte wild mit den Armen. Roy packte mich. Ansonsten hätte ich einen unfeinen Stunt hingelegt: Mit Splitterbrüchen in beiden Beinen und ausgekugeltem Hüftgelenk.

      Mein Herz klopfte wild. Wenn das so weiterging, würde ich heute vor Schreck sterben – nicht zerrupft von Bestien.

      „Es ist der Wolf von vorhin. Nur ein bisschen zerzauster.“, raunte Roy mir ins Ohr. Tatsächlich bedurfte es dieser Erklärung nicht. Der Wolf drückte sich an meine freie Seite. Nur kurz, als wollte er mir etwas versichern. Was das war, entzog sich meiner Kenntnis.

      Dann trabte er auf das Pärchen zu.

      Die Frau sah ihn mit distanziertem Lächeln an, der Mann mit einem eisigen. Er grüßte den Wolf mit einem Nicken. Eine Sekunde lang sah der Mann zu uns; ein Versprechen in den Augen, dass mir ebenso schleierhaft war wie das kurze Streifen des Wolfes. Und dann – meine Augen mussten mir einen Streich spielen – verschwand er. Mit ihm die Frau.

      Sie gingen nicht.

      Sie flogen nicht.

      Sie verpufften einfach. Eben noch waren sie da, im nächsten Moment weg. Aufgelöst.

      Ich blinzelte, wobei ich jemanden hysterisch kichern hörte. Oh! Das bin ich selbst. Ich schwöre, dass der gigantische Wolf mir einen genervten Blick zuwarf. Roy knuffte mir lediglich in die Seite. „Bin ja schon still. Sorry…“ Ich starrte auf die Stelle, als könne das Starren die beiden wieder herbei zaubern. „Hast du das gesehen? Die sind einfach… wusch… und…“ Ich wedelte mit der Hand. Dabei war Roy die ganze Zeit neben mir gewesen. „Hab ich.“ Er schien das alles ziemlich gefasst aufzunehmen. Ich fand es einfach nur irre. Wahnwitzig. Seit wann gab es denn sowas?

      Seit heute.

      Offensichtlich.

      „Kannst du das auch?“ Roy verneinte, dabei hatte ich den Wolf angesprochen. Sein Kopfschütteln sagte mir, dass er mich verstand. „Waren das Vampire?“ Sowohl der Wolf auch als Roy antworteten mir. Roy mit einem mürrischen: ‚Bin ich Jesus?‘, der Wolf mit einem Kopfschütteln, dass in ein Nicken wechselte. „Roy, stopp. Ich rede… mit ihm. Naja, irgendwie.“ Dann wandt ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Wolf zu, der langsam auf mich zukam. „Es sind keine richtigen Vampire?“ Der Wolf nickte. Aha. Also falsche Vampire. Haha. Sowas gab es auch? „Und du bist“, ich schluckte, „ein Werwolf?“ Bis dato wusste ich nicht, dass Wölfe lachen konnten. Tat er, und er nickte. Ich wollte ihn fragen, warum er in der Tierform blieb. Als Mensch würden wir reden können. Erfahren, was er vorhatte. Sofern er sich nicht in eines dieser Monster verwandelte. Doch er stellte seine Ohren auf, legte den Kopf schief und schnüffelte.

      Vorsichtig schnappte er nach meiner Jacke. Zog mich in eine Richtung, die Roy und ich offenbar nehmen sollten. Dann rannte er los. „Sollen wir?“

      „Schlimmer kann es kaum werden.“ Könnte es schon. Nur wollte ich daran nicht denken. Zur Not war ich immer noch bewaffnet. Jahaaa! Mit einem niedlichen, mittelgroßen Messerchen gegen riesige, gruselige, haarige Monster, deren Zähne länger waren als das Messer, dass nach wie vor an meinen Unterarm geschnallt war.

      Also folgten wir dem Wolf, der uns tiefer in den Wald hineinführte. Ab und an blieb er stehen und drehte sich um. Vergewisserte sich, dass wir ihm folgten. Lauschte auf mögliche Verfolger. Einmal stieß er ein derart lautes Heulen aus, dass mir fast das Herz stehen blieb. War der bekloppt? Jeder konnte das hören! Besonders die Viecher von vorhin. War das seine Absicht oder bezweckte er etwas anderes?

      Je tiefer wir in den Wald vordrangen, desto dichter standen die Bäume. Dabei war ich von einem kleinen Wäldchen ausgegangen. Wie man sich doch irren konnte.

      Allmählich kam ich beim Laufen aus dem Takt. Wir rannten zwar nicht mehr in dem halsbrecherischen Tempo von vornhin, aber immer noch schnell genug. Nur Roys Griff um mein Handgelenk verdankte ich es überhaupt noch vorwärts zu kommen. Mehr als einmal strauchelte ich fluchend.

      Nun ja, selbst zum Fluchen hatte ich kaum noch Atem.

      Meine Beine fühlten sich heiß und kalt zu gleich an. Leicht und schwer. Meine Seiten stachen. Ich japste nach Luft. Schweiß rann mir übers Gesicht. Am liebsten hätte ich die Jacke ausgezogen, so heiß war mir inzwischen.

      Der Wolf drehte sich ein letztes Mal um.

      Dann standen wir plötzlich auf einer Lichtung.

      In deren Mitte stand ein zweistöckiges Haus. Mit bunten Vorhängen, Gehwegplatten, Blumenbeeten, einem Pool, einer Terrasse, einer Hollywoodschaukel und einem weißen Gartenzaun.

      Nach dem Labyrinth aus Bäumen glaubte ich erst an eine Halluzination. Nur war das Auftauchen des Hauses noch nicht das Verwunderlichste. Der Wolf gab ein leises, heiseres Geräusch von sich und setzte sich wie ein brav erzogener Wachhund neben das offene Gartentor. Im selben Moment schwang die Haustür auf und eine Frau trat heraus. Ein überschwängliches Funkeln in den Augen. Pure Freude auf einem Gesicht, das meinem erstaunlich ähnlich sah. Sogar die Haarfarbe stimmte.

      „Du hast sie gefunden!“ Mit einem beherzten, kleinen Aufschrei, gefolgt von einem Quietschen und weit ausgebreiteten Armen kam sie stürmisch auf mich zugerannt. Sie riss mich in eine feste Umarmung, wuschelte mir durchs Haar und küsste mich auf die Wange. „Oh Gott. Er hat dich gefunden. In all dem Chaos hat er dich gefunden und sicher hierher gebracht. Ich bin so glücklich, dass es dir gut geht, Chantalle.“ Ich wäre fast aus den Socken gekippt. Beziehungsweise meinen Stiefeln.

      Zur Salzsäule erstarrt blieb ich stehen und harrte ihrer stürmischen Begrüßung. Wer immer diese Frau – die mir äußerlich sehr auffallend ähnelte – auch sein mochte. Sie ging einen Schritt zurück, umfasste meine Oberarme und musterte mich. „Gut siehst du aus.“ Dann fiel ihr Blick zu Roy, dem sie anerkennend zunickte. „Schön, dass du endlich wieder jemanden hast nach deinem Verlust.“

       Oooo-kay?

      Zeit an meiner Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln.

      Irritiert, mit weit aufgerissenen Augen, sah ich zu Roy, der mich ebenso fragend ansah. „Oh, entschuldige bitte. Du weißt ja gar nicht, wer ich bin. Ich Dummerchen.“ Sie lachte. „Ich bin Thea. Deine Tante.“ Meine Tante. Aha. Meine einzige, mir bekannte Tante hieß Yasmin. Ich runzelte die Stirn. „Rick Fraser war mein kleiner Bruder.“ Kleiner Bruder? Mein biologischer Vater? Unmöglich. Sie sah keinen Tag älter aus als dreißig. „Ich weiß, es ist alles ziemlich verworren für dich. Komm erstmal rein.“ Sie ließ mich los und drückte nun Roy. „Du auch. Wir reden drinnen.“ Mein gesunder Menschenverstand sagte mir, ich sollte die Beine in die Hand nehmen und abhauen.

      Schnellstens.

      Nur leider sagte mir mein gesunder Menschenverstand auch, dass es keine Monster gab. Doch genau die hatte ich heute zuhauf gesehen. Ausreichend für ein ganzes Leben. Also trottete ich ihr hinterher ins Haus. Gefolgt von Roy, der nicht mein Freund war.

      Diese Kleinigkeit konnte ich später immer noch korrigieren.

      Tja, meine Familie war augenscheinlich größer als eigentlich angenommen: Eine neue Tante, ein neuer Onkel und deren Kinder. Dafür musste mir erst die Welt um die Ohren fliegen. Gleichzeitig erfuhr ich, dass sie seit 33 Jahren von meiner Existenz wussten. Also seit etwa einem Jahr nach meiner Geburt. Meine Eltern wussten nichts davon, dass ein Teil der Familie meines leiblichen Vaters mich im Auge behielt. Die gesamte Zeit über, obwohl es – laut deren Aussage – nicht immer leicht gewesen war.

      Rick Fraser, mein leiblicher Vater, der nur einen Monat nach meiner Geburt tödlich verunglückt war, hatte zum Zeitpunkt meiner Zeugung und Geburt kaum bis keinen Kontakt zu seiner Familie gehabt. Kein Wunder also, dass meine Mutter niemals jemanden erwähnt hatte. Zumindest konnte ich mich nicht erinnern.

      Doch das war noch nicht