Martin Wannhoff

Morality and fear


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Richardson war neugierig geworden. Vielleicht ja deshalb war er einen Schritt auf diesen Mann zugegangen und hatte ein weiteres Treffen arrangiert. Bei dem ersten, eher zufälligen Zusammentreffen waren die Namen Sansone und Massimo gefallen. Richardson hatte sich daraufhin sehr intensiv mit den Akten dieser Männer beschäftigt und stieß auf Granit. Alle Verfahren gegen die besagten Männer waren wegen Beweismangel eingestellt worden. Das kannte er schon aus seiner Zeit in Boston. Doch beim Durcharbeiten dieses riesigen Berges an Unterlagen stieß er auf eine schreckliche Mauer des Schweigens. Die Art und Weise, wie selbst die Behörden eigenes Versagen vertuschten, konnte man nur als skandalös bezeichnen. Es war entsetzlich, wie wenig an der Aufklärung aller offenen Fragen gelegen war. Richardson wusste jetzt so gut wie alles über die unaufgeklärten Fälle der letzten zwölf Jahre und hatte sich in den vergangenen vier Wochen intensiv auf dieses Gespräch vorbereitet. Jetzt stand er im Stoff und konnte mitreden, Gegenfragen stellen, Neues in Erfahrung bringen. Er hatte schon befürchtet, dass alle Mühe mal wieder vergebens war und dass es nicht zu diesem zweiten Treffen kommen würde. Umso erfreulicher war es, dass Stevenson Rice nun doch gekommen war und offensichtlich dieses Mal auch mehr Zeit hatte. Der Termin mit ihm war eine willkommene Abwechslung zum eintönigen Stubendienst, auch wenn er nicht so recht wusste, auf was er sich da eingelassen hatte. Er zog die Stirn kraus und wartete darauf, dass Stevenson Rice weitersprach.

      „Ich möchte mich aus persönlichen Gründen von dieser Organisation distanzieren. Sie wissen ja, wie das ist. Es ist nicht so ganz einfach, aus dem Geschäft auszusteigen.“

      Richardson lachte:

      „Ich habe eine ungefähre Vorstellung. Sie haben eine Kugel im Kopf, wenn Sie jetzt nicht schnell untertauchen, stimmtś?“

       „Das ist nicht der einzige Grund. Haben Sie Familie?“

      Seine Exfrau verdrängte er und die Tatsache, dass er zwei Söhne mit ihr hatte, ebenso. An diese Zeit seines Lebens wollte er nicht denken. Und so schüttelte er nur den Kopf.

      „Also niemanden… nun, ich habe Frau und zwei Töchter. Und ich will sie nicht in Gefahr bringen.“

      Richardson zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch seinem Gegenüber ins Gesicht und antwortete abfällig: „An ihre Familie hätten Sie vorher denken sollen, mein Guter.

      Sie sagten, Sie würden keine Umschweife machen, also, was ist jetzt?“

      Er schlug dem Polizisten folgenden Tausch vor:

      „Ich habe jahrelang für Antonio Sansone gearbeitet. Dieser Name ist Ihnen doch sicherlich ein Begriff?“

       „Natürlich. In welcher Verbindung stehen Sie beide?“

      „Naja, wegen verschiedener Angelegenheiten will er mich umbringen. Wenn Sie mich und meine Familie vor Sansone schützen, dann sage ich Ihnen alles, was ich weiß.“

      Detective Richardson grinste und nickte erst einmal abfällig.

      Sollte es tatsächlich wahr sein, dass hier ein Gangster der Sansone-Familie auspacken wollte? Sollte dieser Mann endlich die Belohnung bringen für all die Jahre der Demütigung? Was konnte man von dem Kerl erwarten? Wie rechtfertigte er die Verbrechen, die unter seinen Augen stattgefunden hatten? Was hatte er selbst auf dem Kerbholz und natürlich: Was war zwischen Sansone und ihm vorgefallen? So wirklich war ihm Rice bisher nicht aufgegangen. Sizilianische Mafiosi schwiegen doch sonst immer wie ein Grab! Wieso sollte der auf einmal anfangen zu reden? Vielleicht war er ja nur ein Wichtigtuer, ein unbedeutender Fisch, der sich wegen irgendeiner Lappalie an Sansone rächen wollte. Er erwiderte: „Ich bin nicht der Weihnachtsmann. Hören Sie, ich kann nicht jedem gewöhnlichen Kriminellen Schutz bieten. Ich bin noch nicht lange in dieser Stadt. Wenn ich damit zu meinem Vorgesetzten gehe, muss ich handfeste Beweise haben. Ich will alles wissen, was Sie wissen und ich muss wirklich sicher sein, dass Sie vor Gericht aussagen werden.“

      Stevenson Rice erklärte sich einverstanden. Dies sei ein Deal, aus dem sie beide als Gewinner hervorgingen.

      Richardson würde sich im Namen der Verbrechensbekämpfung unsterblich machen. Stevenson wollte nur sich und seine Familie aus dieser Situation retten.

      Der Polizist war nicht sicher, was er von diesem Zeugen halten sollte. Er musterte ihn wieder und wieder.

      Zweifelsohne war er gefährlich. Diese Nummer, seine Familie retten zu wollen, kaufte er ihm einfach nicht ab. Er machte einen so unglaubwürdigen Eindruck: Der harte Gangster, der plötzlich einen auf lieben Familienvater gab.

      Außerdem wirkte Rice nicht so hilflos, wie er sich versuchte zu geben. Zu unvorstellbar schien ihm der Gedanke, dass ihm ein bedeutender Mafioso gegenübersaß und auspacken wollte. Das Schweigen ihrer Mitglieder war legendär und der wichtigste Schutz der Mafia. Darum hakte er nach: „Nur, dass wir uns richtig verstehen: Sie wollen alle Leute, mit denen Sie zu tun hatten, verpfeifen, nur um Ihren eigenen Arsch zu retten? Glauben Sie nicht, dass Sie sich damit mächtige Feinde machen?“

       „Sicher. Aber die Würfel sind gefallen. Ich kann nicht zurück.

       Um zu überleben bleibt mir nur die Flucht nach vorn.“

      Richardson sah auf die Uhr.

      „Ich habe mir für heute frei genommen. Daher habe ich jede Menge Zeit. Erzählen Sie mir von sich. Ich bin ganz Ohr.“

      Stevenson bestellte sich einen Kaffee.

      „Es begann im Sommer 1930. Ich war mal Taxifahrer, müssen Sie wissen…“

       Irgendwie hineingeraten 1930

      Am 2. August ging am späten Abend ein Gewitter über der Stadt nieder. Die See war aufgewühlt und peitschte wütend gegen die Küste. Die Straßen waren nahezu menschenleer.

      Die Gullydeckel fassen kaum die Wassermassen. Die goldenen Zwanziger Jahre hatten sich mit einem gigantischen Knall verabschiedet. Der Börsenkrach hatte weltweit Folgen gehabt und unzählige Menschen in die Insolvenz getrieben. Langsam erholte sich das Land von dieser Schockstarre und es wurde sichtbar, wie schwer es mache Regionen getroffen hatte. Das Works – Quarter, welches vor kaum einem Jahr noch mehr als 2 Millionen Menschen beschäftigt hatte, gab nur noch etwa 500.000

      Menschen eine Arbeit. Das hatte zur Folge, dass viele der Fabrikhallen leer standen und nach einiger Zeit Vandalismus zum Opfer fielen. Der neue vierspurig ausgebaute Highway schien für die jetzigen Beschäftigtenzahlen hoffnungslos überdimensioniert. Er wurde nicht sauber gehalten und verlotterte. Die Kriminalität war überall sprunghaft angestiegen. Das hatte des Weiteren zur Folge, dass das organisierte Verbrechen ungeahnte Stärke und Macht gewann. Die Polizei war längst nicht mehr Herr der Lage.

      So auch an jenem Abend nicht, als sich im Stadtteil Oak-Plain eine dramatische Verfolgungsjagd ereignete. Zwei Männer in einem Ford A wurden von drei anderen in einem schwarzen Schubert verfolgt und unter Beschuss genommen. Die Verfolger verfügten über das schnellere Auto und so konnten die beiden nicht entwischen. Mit schlitternden Reifen wechselten die Verfolgten von einer Straßenseite auf die andere, um kein Loch in den Reifen geschossen zu bekommen. Immer verzweifelter versuchte der in die Jahre gekommene Ford zu entkommen.

      Davonzufahren war mit diesem Wagen nicht möglich, man musste den Gegner in eine Falle locken. Immer wieder bog der Fahrer des Ford in Seitenstraßen ab und kam dabei kurz aus dem Sichtkontakt der Verfolger heraus. Das nützte aber nichts. Auf einem Stück ohne Seitenstraße und der damit verbundenen Fluchtmöglichkeit, traten die Verfolger voll aufs Gas. Der sichere Abstand schmolz dahin. Schon schossen beide Autos Stoßstange an Stoßstange durch die Nacht. Wenn den Verfolgten jetzt nichts einfiel, würden sie gegen irgendein Hindernis geschoben werden. Es gab nichts, wohin sie jetzt noch hätten