Martin Wannhoff

Morality and fear


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knapp verfehlten, teilten sich die Verfolger auf.

      Zwei rannten die Feuerleiter wieder hinunter und ein anderer tat es ihm gleich und kletterte die Fassade des Hauses an der Dachrinne nach unten. Stevenson hatte schon wieder sicheren Boden unter den Füßen und warf mit einem Stein nach seinem Verfolger. Es machte den nur noch wütender. Er rutschte jetzt schon die Rinne herunter, also rannte er weiter. Seine Hände waren schmutzig, aufgerissen und blutig von dieser waghalsigen Kletterei.

      Aber das machte ihm, um sein Leben rennend, kaum etwas aus. Er wollte nur weg. In eine Seitenstraße, wieder in einen Hinterhof, dann durch einen Hauseingang in einen weiteren Hof. Dann kletterte er über ein Tor, rannte durch eine Werkstatt, eine Treppe rauf, eine andere wieder runter.

      Dann wieder durch einen Hauseingang über einen Zaun, und durch eine weitere Einfahrt wieder auf die Straße. Die Verfolger zeigten sich hartnäckig und waren offenbar fest entschlossen, ihn zu töten. Er war völlig außer Atem, aber er rannte weiter. Sansones Bar versprach eine Zuflucht vor diesen Gangstern. Diese lag zwei Häuser weiter, auf der anderen Straßenseite. Der Anblick von Sansone und seinen Leuten war verlockender, als ein Baseballschläger auf dem Kopf. Stevenson nahm alle Kraftreserven noch einmal zusammen und rannte wie angestochen über die belebte Straße. Wieder schallten Schüsse, aber auch diese verfehlten ihn. Mit einem letzten großen Sprung war Stevenson an der Tür und rettete sich in die Bar.

      „Helft mir, ich werde verfolgt!“

      Ziemlich ratlos standen die drei Männer vor Sansones Bar und wussten nicht, was sie machen sollten. Sie schauten durchs Fenster, entdeckten ihr Opfer aber nicht. Sollten sie reingehen, in das Maul des Feindes, in die Sperrzone, oder sollten sie diese territoriale Verletzung besser sein lassen?

      Nun wurde hin und her diskutiert. Man entschied sich für einen Kompromiss. Einer ging rein, um nach dem Rechten sehen und die beiden anderen warteten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der mit der Waffe betrat die Bar und schloss die Tür. Hinter ihr stand ein Mann, der ihm mit einem Schlagring so derb eine über den Kopf gab, dass er bewusstlos zu Boden sackte. Ihn ließ man später brutal foltern und anschließend verschwinden. Die beiden anderen wurden unruhig. Sie hatten keine Schüsse gehört, getrauten sich aber auch nicht in die Bar. Was war mit dem Kumpan passiert? Wenn sie das gewusst hätten, hätten sie sofort die Flucht ergriffen. Das Restaurant schloss etwas zeitiger als sonst…

      Sansones Bar war ein angenehmes Lokal. Es lag an einer voll befahrenen Hauptstraße in Little Italy ganz in der Nähe des großen Einkaufstempels. Herzstück war natürlich der Speiseraum, mit Bar, Tischen und Stühlen möbliert.

      Eingeweihte konnten hier trotz der Prohibition unter der Hand alkoholische Getränke kaufen. Damit machte Sansone ein Vermögen, denn Alkohol war nach wie vor bei vielen Amerikanern ein ständiger Begleiter. Man konnte sich aber auch italienisches Essen bestellen und im großen Speisesaal gemütlich seine Zigarette rauchen, während man Zeitung las. An der Bar befand sich ein Telefon. Der Raum besaß eine kühle Eleganz und fasste etwa 50 bis 60 Personen.

      Durch eine Tür hinter der Bar gelangte man in die Küche, durch die man direkt im Hinterhof landete. Ging man in den Speisesaal hinein, und an der Bar vorbei, gelangte man in ein kleines Nichtraucherabteil mit rund zehn Plätzen.

      Dieser war ebenso elegant gehalten, wie der große Saal. Auf der gegenüberliegenden Seite dieses eher engen Raums befand sich noch eine Tür, hinter der sich ein Billardraum befand. Der prunkvolle Billardtisch war ein handwerkliches Meisterstück. Der Billardraum wurde mit drei grünen Lampen direkt über dem Tisch erleuchtet. Drei Wände waren mit Holz vertäfelt. An der vierten befand sich eine Glasscheibe, durch die man aber nicht sehen konnte. In der hintersten Ecke befand sich noch eine weitere Tür, die man wegen der nahtlosen Einpassung in die Täfelung gar nicht gleich als solche erkannte. Durch diese gelangte man ins „Hinterzimmer“ hinter jener Scheibe, oder auch ins „Allerheiligste“, wie man manche sagen hörte. Nur die engsten Mitglieder der Familie hatten Zutritt in dieses Hinterzimmer. Zu ihnen gehörten Don Sansone, Luigi und Nuncio.

      Sansone war eine kleine Erscheinung. Aber es strahlte Autorität aus seinem italienischen Gesicht mit den ganz hellgrauen Augen. Seine dunklen Haare wiesen ebenfalls bereits Grautöne auf. Er mochte um die 60 Jahre alt sein.

      Auch der Anzug war grau. Er trug ein weißes Hemd unter dem Sakko, hatte eine goldene Taschenuhr bei sich, eine rote Krawatte um den Hals und eine dicke Zigarre im Mund. Aus deren Ende drang dicker bläulicher Qualm und umwaberte das Gesicht des Dons geradezu mystisch.

      Luigi war ein gehorsamer und sehr geduldiger Zeitgenosse.

      Anstand war das oberste Gebot des 28-jährigen. Ihn kannte Stevenson bereits. Er war es, der ihm das Geld gegeben und ihn angeworben hatte. Er saß aufrecht mit beiden Händen auf dem Tisch Stevenson direkt gegenüber und verzog keine Miene. Er trug einen Anzug einer teuren Marke. Das Gesicht war das eines kräftigen Italieners. Die Haare hatte er sich zu einem perfekten Scheitel gekämmt.

      Das Gegenteil von Luigi schien der ihm ebenfalls bekannte Nuncio zu sein. Er war 27 und ein gebrechlicher, launischer Typ mit einer schrillen Stimme und einem noch schrilleren Lachen. Er war eine lustige Erscheinung mit kurzen, lockigen Haaren. Eine dieser Personen, die man nicht gleich ernst nimmt. Er trank viel und war auch schon mal sturzbetrunken aus der Bar nach Hause getorkelt. Er wusste nicht einmal, wie man Anstand schrieb und war auch an diesem Tag eher schlampig angezogen.

      Ein weiterer Mann saß am Tisch. Er schien, abgesehen von Stevenson, der einzige Nicht-Italiener in der Runde zu sein.

      Peter Mcartney war von ähnlicher Statur wie er. Verfrühter Haarausfall hatten riesige Geheimratsecken entstehen lassen.

      Sein Name verriet, dass er aus dieser Gegend kam. Er trug eine Nickelbrille und ein dunkelblaues Sakko.

      Am Grammophon stand ein riesiger Gorilla mit verschränkten Armen. Er trug für seinen breiten Schädel einen viel zu kleinen Hut. Überhaupt machte er ein dummes Gesicht. Über ihn verlor Sansone vorerst kein Wort. Aber schnell stellte sich heraus, dass auch dieser Mann italienischer Herkunft war. Sein Name war Patricio Destra, Mitte 40, an die zwei Meter groß. Er wich dem Don nie von der Seite und begleitete ihn in Funktion des Leibwächters überall hin.

      Dann hielt sich noch ein Mann im Hinterzimmer auf.

      Sansone stellte ihn als „Silvio, die rechte Hand fürs Rechtliche“ vor. Er war von Beruf Anwalt und hielt Sansone seitens des Gesetzes den Rücken frei. Der Don war sein einziger Mandant. Als Consigliere hatte er eine beratende Funktion und war ihm direkt unterstellt, was ihn nach Sansone zum mächtigsten Mann machte. Er war etwa 55, lang und schlank.

      Für heute war ein ganz besonderes Gespräch angesetzt.

      Sansone zog gelassen an seiner dicken Zigarre und blies den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Rasch stieg er nach oben, wodurch das Gesicht des Dons hinter dieser Wolke zu verschwinden schien. Als er sich dann nach vorn beugte, um quasi aus dem Nebel wiederaufzutauchen, begann mit seiner ruhigen, langsamen und angenehmen Stimme die Gesprächsrunde:

      „Also… Massimo versucht mich mal wieder richtig wütend zu machen. Aber da ist er bei mir an der falschen Adresse. Ich bin ein sehr geduldiger Mensch. Wie heißt du, mein Sohn?“

      Stevenson Rice nannte seinen vollen Namen. Sansone nahm diesen zur Kenntnis, nickte und vollzog sein Räucherschauspiel von neuem. Derartige Pausen machte der Don in den Gesprächen ständig. Er hatte es nicht nötig, schnell und hastig zu sprechen. Er wusste, wie wichtig es war, dass ihn die eigenen Leute für mächtig hielten. Und diese Macht demonstrierte er auch durch seine Art der Gesprächsführung:

      „Nun, Steve… ich mag neue Leute. Wir sind hier wie eine große Familie. Nuncio Costello und Luigi Lonore kennst du ja bereits.

      Das hier ist Silvio Coletti, meine rechte Hand. Er kümmert sich um die rechtlichen Dinge in unserem Geschäft.“

      Wieder machte er seine Kunstpause, erfüllte die Luft mit Zigarrenrauch und seiner Autorität und fuhr dann fort: „Nun hör mal zu, Junge. Ich bin hier der Boss. Mein Wort ist Gesetz und diesem Wort unterstehst