Martin Wannhoff

Morality and fear


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jeder Mensch sehnt und Aufgabe einer Gesellschaft ist es, den Einzelnen anzuerkennen, ihm ganz ohne Vorurteil seine Existenz zuzusprechen. Ihn freundlich willkommen zu heißen, zu tolerieren und ihm Platz zur persönlichen Entfaltung zu lassen. So gelingt es, Vertrauen herzustellen und Freundschaften über Kulturgrenzen hinweg zu ermöglichen. Gelingt dies, formt sich eine Gesellschaft, die miteinander und durcheinander reicher wird. So wächst Zusammenhalt und eine neue, gemeinsame Kultur entsteht, in der man voreinander keine Angst hat. Schafft eine Gesellschaft dies nicht, oder diskriminiert sie ihre Minderheiten sogar, bilden sich Parallelwelten, in denen die eigene Sprache gesprochen, der eigene Glaube gepflegt, die eigenen Traditionen für sich behalten werden. So entstehen Ghettos wie in Tryonee Harbour, einer Stadt, in der Italiener, Chinesen, Araber und Juden jeweils für sich lebten. Das ist in der Regel von Nachteil, denn es verhindert einen Kulturaustausch. Misstrauen entsteht, ein idealer Nährboden für meist völlig unbegründete Ängste.

      Allerdings können diese Ghettos auch Brutstätten für organisierte Kriminalität sein und eine Gesellschaft versagt zur Gänze, wenn sie diese ausgegrenzten Minderheiten loswerden will, weil von ihnen möglicherweise eine Gefahr ausgehen könnte. Dann braucht es nur noch einen Funken und Angst sowie Misstrauen schlagen in offenen Hass um. Der Einzelne verachtet Menschen, die er gar nicht kennt. Wer kann einen solchen Weg ernsthaft gutheißen?

      „Ich konnte mich auf die Mitglieder der Familie verlassen. So glaubte ich anfangs. Anders als allein zu leben und niemand schert sich um dein Leben. In ihr fand ich einen nie gekannten Zusammenhalt. Ich konnte kommen, wenn ich etwas brauchte oder mit jemandem Streit hatte. Ich verdiente bei Sansone auf Anhieb besser als in den besten Tagen meines Taxifahrerdaseins. Außerdem hatte ich mir in Massimo einen mächtigen Feind gemacht. Ich konnte jetzt nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen und so nahm ich dieses Angebot an. Ich würde aber lügen, wenn ich sage, ich hätte die Vorzüge nicht genossen. Ich arbeitete als Taxifahrer bis zu 18 Stunden am Tag. Bei Sansone war man zwar rund um die Uhr auf Abruf, doch die Arbeitszeiten hielten sich durchschnittlich bei 9-12 Stunden täglich in Grenzen. Ich hatte einen ganzen Haufen neuer Freunde gefunden und besaß auf einmal wieder ein echt schickes Auto. Es war wirklich nicht übel, ein Teil der Cosa Nostra zu sein.“

      Detective Richardson hatte sich einen Notizblock hergenommen und einige Dinge mitgeschrieben. Unter anderem die Regeln (es waren 10), die ihm geschildert worden waren. Stevenson war ein interessanter Zeuge.

      Zumindest das gestand ihm der Polizist jetzt zu. Er würde es ihm erlauben, einen tiefen Blick hinter die Kulissen der Mafia zu werfen. Vielleicht konnte er sogar herausfinden, warum sie so mächtig war. Wie gelang es ihr, selbst mächtige Staatsapparate zu korrumpieren? Er konnte sich gut in Stevenson hineinversetzen. Ob er selbst wohl anders gehandelt hätte? Und dennoch: Als Mörder wurde man nicht geboren. War das kriminelle Potenzial in Stevenson wirklich so groß gewesen, dass er ohne Probleme fremdes Eigentum beschädigen und einen Menschen schwer verletzen, ja sogar töten konnte? Hatte er keine moralischen Probleme damit? Konnte jeder Mensch zu einem solchen Tier werden, wenn man ihm nur entsprechende Regeln auferlegte? Dem Polizisten wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass potenziell jeder aus Angst oder Loyalität morden konnte. Es war glaubhaft, dass so der erste Kontakt zur Mafia entstanden war. Antonio Sansone hatte ihm ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen konnte und so wurde Stevenson über die Jahre immer tiefer in Kriminalität verstrickt. Auch wenn er sich jederzeit der Polizei hätte stellen können. Richardson malte sich die Schlagzeilen bereits aus. Der Polizist taute auf, die Skepsis schwand und er tauchte vollends ein in diese Welt, die ihm so fremd war.

      Demonstrativ schlug er einen freundlichen Ton an. Er fragte, warum Stevenson so bereitwillig seine Zukunft in Sansones Hände gelegt hatte. Es war doch nun wirklich kein Geheimnis, dass es sich bei ihm um einen zwielichtigen Italiener handelte, der mit der Mafia zu tun hatte.

       „Ich kannte den Namen, wusste, wo sich seine Bar befand, aber wusste nicht, wer er war und mir war auch egal, was er tat. Ich kannte durch das Taxifahren seine Lokalkette in Little Italy und Little Germany. Fakt ist jedenfalls, dass er mir in meiner schwierigen Lage geholfen hat. Das hat mich an ihn gebunden. Ich habe mich ihm verpflichtet gefühlt, weil er mir die Gangster vom Hals schaffte und noch mehr, weil er mir das Auto überließ, einfach so. Wie hätte ich mich jetzt noch herauswinden sollen? Auf seine hilfsbereite Art und Weise hat sich Sansone Freunde gemacht und die standen dann in seiner Schuld, was er sehr geschickt für sich zu nutzen wusste…

       1930

      Eines Abends betrat ein Mann die Bar. Er war lang und schlank, schwarzhaarig, leicht gebräunte Haut, Ende 20 und mit einer abgetragenen Arbeitsjacke bekleidet. Er wirkte angespannt. Ob es einer von Massimos Leuten war?

      Giovanni wurde misstrauisch. Er kannte ihn nicht, also behielt er diesen Gast im Auge, obwohl er hinter dem Tresen mehr als beschäftigt war.

      Giovanni war ein fast kahler Italiener, Ende 40 und übergewichtig. Er schwitzte stark, weshalb sein Gesicht das Licht des Tresens seltsam reflektierte. Er trug hinter der Bar immer einen weißen Kittel und eine karierte Schürze. Sein Gesicht war stets rot angelaufen und machte durch das reflektierende Licht einen fleischigen Eindruck. Der auffällig nervöse Gast bestellte sich mehrere doppelte Whisky und bat dann, Don Sansone sprechen zu dürfen. Der Verdacht erhärtete sich und Giovanni wurde noch vorsichtiger. Er wollte und durfte ihn nicht zu Sansone ins Hinterzimmer schicken. Doch dem ständigen Bitten des Mannes gab er schließlich nach. Als keine Gäste mehr da waren, filze er ihn gründlich und ging selbst nach hinten, um dem Don über den Gast zu informieren. Erst als er sagte, dass es sich bei ihm um einen Italiener handelte, war Sansone bereit, sich von seinen Büchern zu erheben und sich gediegen in den Speisesaal zu begeben. Giovanni wies auf den Mann an der Bar. Mit einer Handbewegung wies ihn der Don an, herüber zu kommen und sich an einen der Tische zu setzen. Sansone zog dieses Spiel nicht das erste Mal ab. Bei Stevenson war es ganz ähnlich abgelaufen, auch wenn der Don dieses Mal allein war. Er wusste sein Gegenüber einzuschüchtern und Giovanni spielte das Spiel mit. Dieser brachte dem Don und seinem Gast jeweils ein halbvolles Weinglas mit einem guten Chianti, steckte dem Don eine Zigarre in den Mund und zündete ihm diese an. Eine Weile sah er den Mann an, der wie ein Häufchen Elend vor ihm hockte und nicht wusste, was er sagen sollte. Sansone genoss es, seinem Gegenüber vor lauter Angst den Atem zu rauben. Eine perfekte Inszenierung grenzenloser Macht mit spürbarer

      Lebensgefahr, die Sansone aber nicht zu offen zeigte. Denn trotz dieser Machtdemonstration gab er sich betont freundlich. Er nahm die Zigarre aus dem Mund in die rechte Hand und faltete sie ineinander. Da sein Gegenüber kein Wort herausbrachte, begann Sansone schließlich das Gespräch:

       „Wie heißt du, mein Junge?“

      Aurelio Frattini war ein waschechter Sizilianer. Das verrieten Statur, Akzent und auch sein Name. Er war vor vier Jahren in die Staaten gekommen und hatte für eine Autowerkstatt gearbeitet. Er walzte Karosserieteile, hauptsächlich Kotflügel. Die erlitten des Öfteren im Straßenverkehr kleinere Blessuren. Seit dieser Zeit hatte er heimlich gespart, nur von Wasser und Brot gelebt, weil er das Potenzial des Autos erkannt hatte. Die Zahl der Automobile würde in den nächsten Jahren enorm zunehmen. Er spekulierte darauf, dass Autowerkstätten sehr bald wie Pilze aus dem Boden schießen würden, und bei diesem Trend wollte er einer der ersten sein. Da alle Welt an der Börse ein kleines Vermögen zu verdienen schien, wurde auch er darauf aufmerksam. Und so hatte er sich noch im August 1929 bei der „Bank of America“ einen Kredit über 25.000 Dollar geben lassen, um seine Werkstatt in Little Italy aufzubauen. Nach dem fatalen Börsencrash vom 24. Oktober 1929 forderte die Bank ihre Privatkredite zurück.

      Innerhalb einer Woche hatte er die ganze Summe samt Zinsen aufzutreiben. In vier Tagen würde die Frist ablaufen, dann würde man seine Werkstatt pfänden. In seiner Not wandte er sich an Sansone. Dieser sah ihm seine Verzweiflung an: Aurelio rann gerade alles durch die Finger.

      Es war eine unter Alkohol getroffene Entscheidung, Sansone aufzusuchen. Er hatte sich in keinster Weise auf das Gespräch vorbereitet, die Hände waren dreckig und er roch nach geschweißtem