Martin Wannhoff

Morality and fear


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Stuhl fallen. Die Wohnung war karg eingerichtet, aber er brauchte auch nicht viel. In einer Ecke befand sich eine Kochnische, in der sich das Geschirr von zwei Wochen stapelte. Ansonsten besaß er noch ein Bett und eine Essecke mit zwei Stühlen. Auf dem einen saß er gerade. Sein Blick fiel auf die Jacke, die triefend nass am Haken neben der Eingangstür hing. Dort schaute aus einer Tasche der Umschlag hervor, den er von diesem Luigi erhalten hatte. Als er ihn öffnete, bekam er fast einen Herzanfall. Das waren dutzende hoher Geldscheine, und als er nachzählte, kam er auf genau 1.000 Dollar. Er hielt sich am Stuhl fest. Das war weit mehr, als die Reparaturen kosten würden. Aber er verschwendete keinen Gedanken daran, mit diesen Gangstern zusammen zu arbeiten. Und wenn sie noch so viel Geld hatten. Lieber arm und am Leben, als reich und tot, sagte er sich.

      Die ganze nächste Woche stand das Taxi in der Werkstatt und wie zu erwarten war, kostete die Reparatur nur einen Bruchteil dessen, was er an Geld in den Händen hielt. Wie konnte er es wirklich sinnvoll investieren? Behalten wollte er es nicht, denn es war nicht abzusehen, was der Dollar in einem Monat noch wert war. Ihm kam die Idee, sich einen Anzug für das Taxifahren zu kaufen. Schließlich investierte er etwas in neue Bezüge und eine Generalüberholung der Karosserie. Waren die alten Bezüge noch braun und abgegriffen gewesen, glänzten sie jetzt in einem herrlichen roten Kunstleder. Er machte es seinen Fahrgästen so bequem wie möglich, getreulich dem Motto: der Kunde ist König. Unter anderem ließ Stevenson die Innenraumbeleuchtung wechseln. Statt der serienmäßigen gelben Funzeln brachte er ovale Leuchter an. Sie versprühten ein angenehmes Licht, in welchem die roten Sitzbezüge schön zur Geltung kamen. Im Moment war es offenbar das Vernünftigste, das Geld in sein Arbeitsgerät zu investieren. So würde er langfristig etwas davon haben und wer weiß: vielleicht stiegen dadurch sogar die Trinkgeldeinnahmen. Bestens gerüstet für das einsame Leben eines Taxifahrers und mit „neuem“ Auto, stürzte Stevenson sich nach drei Wochen Pause in den Berufsverkehr der Stadt. Den Urlaub hatte er sich redlich verdient und außerdem stand sein Auto sowieso die meiste Zeit in der Werkstatt. Nach diesem „Update“ ging er wieder ganz normal seiner Arbeit nach. Auf seine Fahrgäste war er nach wie vor angewiesen, denn er hatte fast alles ausgegeben. Von seinem letzten Geld kaufte er sich ein Feuerzeug, eine Stange Zigaretten sowie ein Brötchen und ging damit wieder auf Tour.

      Seit einer Woche ging er seiner Arbeit nach. Als wäre nichts geschehen schlängelte sich das Taxi durch die Straßen der Stadt. Nichts erinnerte mehr an den spektakulären Vorfall, der jetzt fast einen Monat zurücklag. Der Kontrast Fahrgastzelle und Fahrerraum verfehlte seine Wirkung nicht. Es war häufiger der Fall, dass man aufgrund des überdurchschnittlichen Komforts auf das Wechselgeld verzichtete. Viel war es nicht, aber es war definitiv mehr als üblich. Vorn sah das Taxi eher schäbig aus und Stevenson achtete darauf, nicht ordentlicher auszusehen, als der gemeine Fahrgast. Sonst wären die Leute vielleicht der Meinung gewesen, dass er schon genug Geld hatte. An jenem ersten September 1930 flimmerte die Stadt in der Spätsommerhitze und der üblichen Enge. Wer die Möglichkeit hatte, verließ das Flussdelta und machte sich auf den umliegenden Höhen einen schönen Tag. Nicht aber Stevenson Rice. Er hatte gerade einen Fahrgast am Krankenhaus abgesetzt und den nächsten an Bord genommen, der zum Einkaufszentrum in Little Italy wollte.

      Die Oakwood – Bridge war die längste Brücke weit und breit und verband westlich von Central Island die durch den Fluss geteilten Stadtteile Oakwood und Chinatown. Sie war über drei Kilometer lang und man hatte von da aus einen herrlichen Blick auf die Skyline von Central – Island.

      Allerdings war sie baufällig. Wegen der Rezession waren die Bauarbeiten auf unbestimmte Zeit vertagt. Mit jedem Monat wurden die Straßenverhältnisse schlechter und jetzt stand ein weiterer Winter vor der Tür. Der damals verwendete Asphalt war zwar leichter als Beton und ermöglichte erst den Bau einer derart langen Brücke. Aber er war nicht besonders haltbar und löste sich unter der täglichen Belastung auf. Winterlicher Frost tat sein Übriges. Es musste etwas geschehen, damit das ganze Objekt nicht für den Verkehr gesperrt wurde.

      Von der Brücke aus ging es noch einen Berg hinunter über zwei Kreuzungen und schon war man in Little Italy. Das Kaufhaus befand sich auf halber Höhe eines großen Boulevards. Nachdem Stevenson seinen Fahrgast dort abgeliefert hatte, machte er eine kleine Pause. Er zündete sich eine Zigarette an und aß ein Brötchen. Seine Gedanken schweiften ab. In den zwanziger Jahren hatten viele Leute Arbeit gehabt. Doch das Geld für ein Auto musste man sich entweder leihen, oder über einen gewissen Zeitraum zusammensparen. Viele hatten es auch auf Pump gekauft und waren es nun wieder losgeworden. Tryonee Harbour hatte Investitionen in sein Straßennetz über viele Jahre aufgeschoben. Die Stadt verfügte weder über eine S-Bahn, noch über eine Straßenbahn. Neben dem Taxi waren Busse die einzige Alternative. Oder man besaß ein Fahrrad.

      Fahrgäste hatte Stevenson trotz der großen Konkurrenz immer reichlich gehabt. Nun, da das angesparte Vermögen vieler Menschen zu Staub zerfallen war, musste man die Anschaffung eines Autos verschieben. Gut für Taxifahrer wie ihn. Und dennoch war ein nachhaltiger Wandel im Gange. Die Krise bremste diesen Wandel zwar, aber sie hielt ihn nicht auf. In ein paar Jahren würden die meisten Menschen ein eigenes Auto besitzen. Dann würden viele der Taxifahrer aufgeben müssen. Die Zukunft für die Branche sah für den aufmerksamen Beobachter nicht rosig aus. Um diesen Wandel finanziell zu überstehen, hätte er vielleicht doch etwas von dem Geld auf die Seite legen sollen.

      Während er so nachgrübelte, wurde die Scheibe seiner Fahrertür durchbrochen und etwas Dumpfes landete auf seinem Kopf. Scherben flogen ihm um die Ohren. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Sogleich wurde die Fahrertür aufgerissen. Eine Hand, hart wie Stahl, packte ihn am Genick und zerrte ihn aus seinem Auto heraus.

      „Haben wir dich endlich gefunden, du Ratte. Wir werden dir jetzt eine kleine Lektion erteilen, damit du es nicht wieder vergisst.“

      Stevenson saß mit einer kalten Hand im Genick auf der Straße, und musste mit ansehen, wie zwei Typen mit Baseballschlägern auf sein Taxi einschlugen. Die Karosserie wurde verbeult, Scheiben zerschlagen. Ein Dritter hielt ihn am Boden und so musste er mit ansehen, wie mit Messern auf die schönen Lederbezüge eingestochen wurde. Nach mehreren Minuten war das Taxi völlig demoliert. Doch jetzt trieben sie die Zerstörung erst auf die Spitze. Sie gossen Benzin ins Innere des Autos und zündeten es an. Das Taxi, in welches Stevenson so viel Geld gesteckt hatte, war ihm unwiederbringlich genommen worden. Tiefschwarzer Rauch stieg empor, die Reifen platzten und die Flammen vernichteten das Innere in Sekunden. Wehleidig blickte er ins Feuer und tiefe Traurigkeit erfüllte ihn. Doch es blieb keine Zeit für Abschiedstränen. Denn er spürte den Lauf einer Waffe an der Schläfe. Erniedrigende Sprüche musste er sich anhören, es wurde ihm vor die Füße gespuckt, und immer wieder lachten sie gehässig. Es machte ihnen offenbar Spaß, die Existenzgrundlage von wehrlosen Menschen zu zerstören.

      „Was für ein Glück, das wir uns dein Kennzeichen notiert haben. Sonst wäre es nicht leicht gewesen, dich zu finden. Wie hättest du es denn gern? Sollen wir dich schnell und schmerzlos erschießen, oder sollen dir meine Kollegen mit den Schlägern die Fresse polieren? Da hättest du allerdings eine geringe Überlebenschance…“

      Der Typ mit der Waffe hatte den Satz nicht zu Ende sprechen können, denn Stevenson war blitzschnell herumgefahren und trat ihm in der Drehung mit aller Kraft in die Beine. Der wurde zu Boden geworfen, und noch ehe seine beiden Kumpane reagieren konnten, war Stevenson auf der Flucht. Er rannte so schnell er konnte auf die andere Straßenseite und ging hinter einer Telefonzelle in Deckung.

      Als er den Ruf vernahm:

       „Macht den Bastard kalt!“

      rannte er weiter. Er bog in einen Hinterhof, um die Deckung zu sichern und sah sich um. Gab es hier irgendwas, mit dem er sich bewaffnen konnte? Eine Schaufel, eine Eisenstange oder etwas in der Art? Und selbst wenn: drei Typen konnte er nie in Schach halten. Also stieg er eine Feuertreppe hinauf. Schon waren die Kerle wieder hinter ihm und auch auf der Leiter. Dann knallten drei Schüsse. Keiner davon traf ihn. Oben auf dem Dach gab es keinen Ausweg mehr. Aber Stevenson wurde vom Mut der Verzweiflung getrieben. Er rannte auf die andere Seite des Flachdaches und hangelte sich an der Dachrinne hinunter.

      Dass er sich dabei fast zwanzig Meter über dem Boden befand, interessierte ihn herzlich