Ingrid Neufeld

Verfangen


Скачать книгу

Hause kam, tollten die beiden gerade durch den Garten, wie zwei vergnügte Kinder und gar nicht wie Mutter und Tochter.

      Paul blieb einen Moment stehen und genoss den Anblick seiner kleinen Familie. Die Frühlingssonne zauberte Farbe auf die Wangen seiner Frau. Lisas Zöpfchen lösten sich, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Freudestrahlend schoss sie auf ihren Vater zu, als sie ihn entdeckte.

      „Papa! Komm spiel mit uns. Fang mich!“, forderte sie ihn auf und sauste schon wieder weg.

      Gerne ging Paul darauf ein. Er rannte hinter ihr her und tat so, als ob er sie niemals einholen könnte. Zum Schein schnaufte er wie eine historische Dampflokomotive.

      Er gab vor, Seitenstechen zu haben. „Du bist mir viel zu schnell. Rennt ihr im Kindergarten alle wie kleine Raketen?“

      „Noch viel schneller!“, erklärte Lisa und zischte schon wieder ab, so schnell ihre kleinen Beinchen sie trugen.

      Bevor sie noch mal entwischen konnte, schnappte der Vater sie. „Hab dich!“

      Lachend zappelte Lisa in seinen Armen.

      Auch Paul sah gut aus. Seit kurzem suchte er regelmäßig ein Fitness-Studio auf. Mareike hatte ihm dazu geraten, als sein Arzt Bluthochdruck bei ihm diagnostiziert hatte. Er sei noch zu jung für solche Krankheiten, meinte sie und riet ihm zu einem Sportprogramm.

      Außerdem hatte sie Kuchen und Süßspeisen von seinem Ernährungsplan gestrichen. Das gefiel Paul weniger. Zum Glück ahnte Mareike nichts davon, dass er mittags regelmäßig in der Bäckerei neben seiner Arbeitsstelle Kuchen kaufte.

      Den kleinen Bauchansatz konnte er sich so oder so nicht abtrainieren. Aber er sah auch so attraktiv aus, fand er jedenfalls.

      Doch auch Mareike war mit seinem Aussehen durchaus zufrieden. Neuerdings trug er die Haare ziemlich kurz, was seinem Gesicht einen sehr markanten Ausdruck verlieh. Den Bart rasierte er täglich ab. Stoppeln liebte Mareike gar nicht. Seine Nase war ein wenig breit geraten. Dafür hatte er wunderschöne stahlblaue Augen, in die sich Mareike sofort verliebt hatte. Bergseeblau nannte sie es.

      Im einen Arm die zappelnde Lisa, zog er jetzt mit dem anderen Arm Mareike an sich.

      „Komm, lass uns rein gehen. Ich habe einen Mordshunger. Was gibt’s denn?“

      Mareike machte sich von ihm los. „Das was du kochst.“

      „So, so“, murmelte Paul. Als moderner Mann war er es gewohnt, beim Kochen selbst Hand anzulegen.

      Mareike und er wechselten sich beim Kochen ab. Ganz nach Lust und Laune. Einen festgelegten Plan hatten sie da nicht.

      „Ich schau mal nach, was wir denn daheim haben“, bot sich Paul auch gleich an.

      „Nicht, dass ich erst einkaufen muss.“

      „Eingekauft habe ich schon!“, nahm ihm Mareike diese Besorgnis.

      Paul öffnete den Kühlschrank und warf einen langen und ausdauernden Blick hinein. Er stöberte im Vorratsschrank und entschied sich dann für Schnitzel mit Pommes.

      Die waren schnell gebraten und serviert.

      Nach dem Essen brachten die Eltern ihre Tochter ins Bett. Paul griff nach der „Sams“-Geschichte und las Lisa daraus vor. Er und seine Tochter lachten gemeinsam über das lustige Sams und den unbeholfenen Herrn Taschenbier. Dann kam auch noch Mareike um Lisa Gute Nacht zu sagen. Die Eltern löschten das Licht und Lisa sollte schlafen. Mareike schnappte sich ihre Jacke und musste gleich los. Sie wollte ja zur Probe in den Kirchenchor.

      Paul hatte vollstes Verständnis dafür. Er stand absolut hinter Mareikes Mitsingen im Kirchenchor. Er war sogar ein klein wenig stolz auf sie. Mareike hatte eine sehr schöne Stimme und Paul hörte sie bei jedem Auftritt des Kirchenchores ganz deutlich heraus. Jedenfalls behauptete er das.

      An diesem Abend blieb Paul bei der kleinen Lisa zu Hause, damit Mareike in aller Ruhe zu ihrer Probe gehen konnte. Am nächsten Tag sollte Mareike dann zu Hause bleiben, damit Paul an der Kirchenvorstandssitzung teilnehmen konnte.

      So hatte jeder der beiden seine Tage, an denen er alleine und ohne Familie unterwegs war und jeder hatte seine Tage, an denen er zu Hause das Kind hütete.

      Als modernes Ehepaar, als zukunftsorientierte Eltern teilten Mareike und Paul alles miteinander, die freie Zeit genauso, wie die Betreuungszeiten für die gemeinsame Tochter. Ihnen war klar, dass Elternschaft gemeinsame Verantwortung bedeutete.

      Paul saß in seinem großen, geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer. Eine moderne Sitzgruppe stand gegenüber einer High-Tech-Wand, in deren Mitte ein überdimensionaler Flachbildschirm prangte. Doch der Fernseher war nicht eingeschaltet.

      Paul hockte stattdessen am Esstisch und bearbeitete seinen Laptop. Er begutachtete gerade die Aktienkurse im Internet. Paul hatte BWL studiert und arbeitete als Betriebswirt in der Finanzabteilung eines größeren Unternehmens. Täglich schob er mehrstellige Beträge hin und her. Gerne hätte er privat auch mal eine größere Summe auf seinem Konto gehabt. Deshalb hatte er in Aktien investiert. Auch die Finanzkrise konnte ihn nicht daran hindern. Es mussten nur die richtigen Aktien sein. Doch irgendwie hatte er aufs falsche Pferd gesetzt. Jedenfalls war jetzt von seinem Depot nicht mehr viel übrig. Aber noch hatte er die Aktien nicht verkauft. Deshalb schaute er täglich nach dem aktuellen Stand. Er wollte nicht wahrhaben, dass er so viel Geld verloren hatte. Geld, das die junge Familie dringend brauchte. Doch das allein, war nicht das Schlimmste. Wirklich schlimm war, dass er mit Geld spekuliert hatte, das Mareike von ihrer Großmutter geerbt hatte. Seine Frau hatte ihm das Geld anvertraut, damit er es in festverzinsliche Wertpapiere anlegte, doch er kaufte Aktien davon. Obwohl seine Frau ausdrücklich eine sichere Anlageform haben wollte. Jetzt saß er in der Patsche und Mareike ahnte nichts davon. Sie wusste nicht, wie viel Geld Paul verspekuliert hatte. Und wenn es nach Paul ging, würde sie auch nie davon erfahren. Nur – wie sollte er die Verluste wieder ausgleichen? Er musste sich was einfallen lassen.

      Gedankenverloren betrachtete er die Aktienkurse. Seufzend klickte er sich aus dem Internet und schloss den Laptop. Irgendetwas würde ihm schon einfallen!

      *

      In seiner Arbeit hatte Paul mit vielen verschiedenen Firmen zu tun, denen sein Arbeitgeber Geld für Dienstleistungen oder Waren schuldete. Er war derjenige, der diese Gelder anzuweisen hatte.

      Seit er wusste, dass die von ihm gekauften Aktien so starke Verluste eingefahren hatten, dachte er pausenlos darüber nach, wie er möglichst schnell zu Geld kommen könnte.

      Seine Misere verschlimmerte sich noch, als Mareike meinte: „Du hast doch mein Geld auf ein Jahr angelegt. Das müsste doch jetzt demnächst fällig werden. Mein Auto gibt in letzter Zeit so komische Geräusche von sich. Wenn ich wieder eine Reparatur habe, trenne ich mich davon. Dann kaufe ich mir ein anderes Auto.“

      Paul schluckte. „Du hängst doch so an deinem Auto. Lass es doch noch mal reparieren.“

      Mareike wirkte gestresst. Sie wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Na ja, ich lass es erst mal durchchecken. Aber wenn die in der Werkstatt sagen, dass ich wieder so eine teure Reparatur habe, dann ist endgültig Schluss.“

      „Bestimmt ist es nicht so schlimm. Bring das Auto erst mal in die Werkstatt.“ Paul war froh, noch ein wenig Luft zu haben. Wenn Mareike aber das Geld wirklich haben wollte, müsste er Farbe bekennen. Es sei denn, er hätte einen anderen Einfall. Sein schlechtes Gewissen erdrückte ihn fast.

      Er betete in seiner Not. Paul glaubte an Gott. Seit frühester Kindheit betete er zu ihm. Deshalb engagierte er sich auch im Kirchenvorstand. Für ihn war es ganz einfach: er engagierte sich für Gott, also musste Gott jetzt was für ihn tun.

      Er betete immer wieder dasselbe: „Lass ein Wunder geschehen und meine Aktien steigen.“ Gebetsmühlenhaft, immer wieder leierte er den Satz herunter. Wieder und immer wieder.

      Doch Gott erhörte seine Gebete nicht. Im Gegenteil: Am nächsten Tag brachen die Aktienkurse erneut ein.