Ingrid Neufeld

Verfangen


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Unartigkeiten ihres Schülers eine Pflichtverletzung der Mutter. Offen, oder heimlich gab sie ihr die Schuld an der ganzen Misere. Laut sagte sie das nicht so direkt. Mareike hatte Kevin nun schon seit zwei Jahren im Unterricht und konnte ihn deswegen ziemlich gut beobachten. Von Anfang an fiel Kevin durch ausgesprochen aufsässiges Verhalten auf. In der Regel war so ein Verhalten auf die mangelnde Erziehung im Elternhaus zurückzuführen. Kurz, sie hatte den Verdacht, dass die Eltern ihn vernachlässigten.

      „Ihr Sohn hat allein im letzten Monat fünfmal die Schule geschwänzt! Wussten Sie davon?“ Die Lehrerin donnerte die Worte der armen Jasmin entgegen, als wollte sie die junge Frau damit zerschmettern. Instinktiv zog Jasmin den Kopf ein. Sie ließ sich jetzt auch ohne Aufforderung einfach auf einen Stuhl gleiten.

      Mareike sah es missbilligend und dachte sich, dass die junge Frau keinen Anstand hatte, weil sie sich ungefragt einfach hinsetzte.

      „Nein“, entgegnete Jasmin tonlos. „Ich hatte keine Ahnung.“

      Mareike Hübschmann gönnte ihr kein Mitleid. Im Gegenteil, das bestätigte sie nur in ihrem Verdacht, dass die Eltern das Kind total verwahrlosen ließen.

      „Dann kümmern Sie sich gefälligst um ihren Sohn. Der macht was er will. So geht das nicht. Sie müssen ihm Grenzen setzen.“

      Jasmin seufzte. Sie wusste nicht wie. Aber das traute sie sich nicht zu sagen. Innerlich dachte sie sich: da läuft was total falsch. Die geht mit mir um, als wäre ich schuld. Als wäre ich das dumme Schulmädel. Aber hallo, ich bin die Mutter. Ich brauche keine Standpauke.

      Mareike Hübschmann musterte die junge Frau und bildete sich ihr Urteil. Na klar, dachte sie. Hartz IV Empfängerin, dem Staat auf der Tasche liegen und nichts gebacken kriegen. Ist doch wieder mal typisch! So wie die schon aussieht! In ihrem Proleten-Look, im 3-Euro-T-shirt von KIK!

      „Sie müssen doch merken, dass ihr Sohn nicht in die Schule geht?“, hakte sie noch mal nach.

      Jasmin starrte ihr Gegenüber an. Die mit ihrer Designer-Jeans, dachte sie. Das was die da an ihrem dicken Hintern trägt, hat mehr gekostet, als ich im ganzen Monat verdiene. Wahrscheinlich hat sie neben dem dicken Lehrerinnen-Gehalt auch noch einen Mann, der die große Kohle einsackt. Für die bin ich doch nichts.

      „Wenn das so einfach wär“, begann sie dann doch. „Muss jeden Tag um sechs Uhr auf Arbeit. Da krieg ich nicht mit, wenn der Bengel länger schläft und nicht in die Gänge kommt.“

      Mareike schluckte. Na gut, nicht Hartz IV, aber mit der Nummer, ich bin die Mutti, die sich fürs Kind kaputtarbeitet kommt sie bei mir auch nicht durch.

      „Vielleicht ihr Mann?“, fragte sie vorsichtig an.

      Jasmin bekam einen Hustenanfall. „Der… der kommt auch nicht in die Gänge. Hat seine Arbeit verloren und jetzt sitzt er zu Hause rum und trinkt den ganzen Tag.“

      Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Mareike streckte sich, Sie schlug die Beine übereinander. Ihr Weltbild war wieder in Ordnung. Habe ich mir doch gleich gedacht. Wenn nicht die Frau, dann eben der Mann. Assi-Familie halt. Sie beugte sich vor.

      „Frau Bachmeyer, wenn Sie das nicht hinbekommen, müssen wir ihm halt eine Strafe auferlegen. Ihr Sohn wird in dieser Woche jeden Tag nachsitzen. Verstanden?“

      Jasmin nickte. Sie war mit allem einverstanden.

      „Trotzdem Frau Bachmeyer. Sie scheinen mir mit der Situation absolut überfordert zu sein. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?“

      Mit großen schreckgeweiteten Augen starrte Jasmin die Lehrerin an. „Hilfe, was meinen Sie damit?“

      „Na ja, da gibt es die sozialpädagogische Familienhilfe des Jugendamtes. Da käme regelmäßig jemand bei Ihnen vorbei, würde kontrollieren, ob Ihr Sohn die Hausaufgaben macht und wie es sonst so bei Ihnen läuft.“

      Jasmin hörte nur das Wort „Jugendamt“ und sprang sofort auf. „Ich lass mir doch von Ihnen nicht mein Kind wegnehmen!“

      Bevor Mareike noch irgendetwas sagen konnte, war Jasmin schon aus der Tür.

      „So warten Sie doch!“, rief sie ihr noch hinterher. Doch zu spät. Ihr Ruf prallte an der geschlossenen Tür zurück.

      „Auch gut“, seufzte Mareike. Sie rückte ihren Stuhl hinter dem Pult zurecht. „Dann wird er erst mal nachsitzen und wenn das nicht hilft, schalte ich trotzdem das Jugendamt ein. Mit oder ohne Einwilligung der Mutter. Sollen die halt sehen, wie es mit dem Typen weitergeht.“

      Mareike hielt sich für einen sozialen Menschen. Von Kindesbeinen an war ihr durch ihre Eltern der christliche Glaube vermittelt worden. Deshalb wollte sie auch ihren Nächsten lieben, aber Kevin machte es ihr sehr, sehr schwer. Er gehörte zur der Kategorie Schüler, die sie lieber gehen, als kommen sah. Sie war auch gar nicht traurig, wenn Kevin die Schule schwänzte. Dann musste sie sich wenigstens nicht mit ihm herumärgern. Aber natürlich war ihr auch klar, dass das kein Dauerzustand sein konnte und dass sie als Lehrerin für ihn Verantwortung trug. Deshalb, und nur deshalb hatte sie die Mutter zum Elterngespräch gebeten. Aber sie hatte sich von vornherein nicht viel davon versprochen. Aus Erfahrung wusste sie, dass „solche“ Familien meist wenig zur Mitarbeit bereit waren.

      Als sie sich damals entschied, Hauptschullehrerin zu werden, hatte sie das nicht nur getan, weil der Studiengang zufällig gerade nicht mit einem Numerus clausus belegt war. Nein, sie hatte das Studium gewählt, weil sie sich engagieren wollte, weil mit ihrer Hilfe auch sozial Benachteiligte eine Chance erhalten sollten.

      Jetzt mit der Realität konfrontiert, sah Mareike nach einigen Jahren Erfahrung im Umgang mit schwierigen Jugendlichen, die keine privilegierten Starthilfen gehabt hatten, ihre Arbeit mit sehr viel weniger Enthusiasmus. Sie war oft genug gegen ihre eigenen Grenzen gerannt und hatte resigniert. „Wie oft habe ich dem Kevin gepredigt, dass er seine Hausaufgaben machen soll. Wie oft habe ich ihm und auch den anderen ins Gewissen geredet, damit sie im Unterricht mitdenken, ihnen erzählt, wie wichtig es ist gute Noten zu schreiben. Zigmal habe ich wiederholt, dass nur gute Noten eine Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt bedeuten. Wie eine alte hängen gebliebene Schallplatte habe ich immer wieder dasselbe gesagt. Trotzdem denken die Kids, was die Lehrer sagen, interessiert sie nicht.“

      Wegen ihrem Glauben war Mareike aber trotz ihrer zeitweiligen Resignation überzeugt, dass sie das Richtige tat, wenn sie sich in diesem Bereich einsetzte.

      Deshalb war ihr auch besonders bewusst, dass sie das Jugendamt einschalten musste, wenn im Verhalten von Kevin keine Besserung eintrat.

      Als Kevin an diesem Tag nach Hause kam, erwartete ihn seine Mutter schon in der Tür. Der Sohn wunderte sich. Das kam noch nicht mal an seinem Geburtstag vor. Sogar da stand sie normalerweise nicht in der Tür, um ihn zu begrüßen. Entweder war sie auf Arbeit, oder sie war von der Arbeit so platt, dass sie im Bett lag. Die Rolle mit dem Empfangskomitee war jedenfalls neu.

      Jasmin zupfte an ihrem Nasenpiercing. Sie war so nervös, dass sie ihn versehentlich raus zog. Hastig stopfte sie ihn in ihre Hosentasche. Sie hatte jetzt wirklich nicht den Nerv, sich um einen herausgefallenen Piercing zu kümmern.

      „Kommst du aus der Schule?“, fragte sie ihren Sohn, weil sie nicht wusste, wie sie sonst auf den Punkt kommen sollte.

      Kevin zuckte die Schulter. „Klar, woher sonst?“

      Das war das Stichwort. „Genau, woher sonst? Das frage ich dich. Deine Lehrerin sagt, du schwänzt ständig die Schule!“

      Jetzt erst wusste Kevin was Sache war. „Und darum stehst du hier in der Tür, oder was?“ Er quetschte sich an ihr vorbei und war schon sauer.

      Jasmin merkte, dass ihr das Gespräch entglitt, bevor sie es überhaupt begonnen hatte. Was lief da nur schon wieder schief?

      „Wie das mit dem Schule schwänzen ist, will ich wissen!“

      „Gar nichts ist damit“, behauptete Kevin und