sich direkt vor ihm. Ob männlich oder weiblich konnte er nicht zuordnen. Nur eindeutig nicht irdisch. Das Licht blendete ihn. Die Farben gehörten nicht zu dieser Welt. Solche intensiven Farben gab es nirgends. Die Gestalt erschien nicht nur vor seinen Augen, sie war neben ihm, hinter ihm, ja sogar in ihm. Sie vermittelte ihm eine Botschaft:
„Zieh an die Waffenrüstung des Glaubens. Denn das ist deine Berufung!“
Im selben Moment lösten sich die Konturen der Gestalt wieder auf. Langsam kehrten die normalen Farben der irdischen Umgebung zurück und Johannes erwachte wie aus tiefem, tiefem Schlaf. Nur hatte er nicht geschlafen, das wusste er genau.
Er hatte eine Vision!
Johannes war Realist. Ein Mensch, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Gut, er hatte ein tiefes Verhältnis zu Gott. Aber, dass gerade er eine Vision haben würde, damit hätte er im Leben nie gerechnet. Dazu war er viel zu bodenständig. Dachte er jedenfalls.
Er konnte kaum glauben, dass Gott ausgerechnet ihm die Ehre einer Vision zuteil werden ließ.
Und doch war es so: er hatte ein Vision gehabt! Daran war nicht zu deuteln.
Nur: was bedeutete das jetzt?
Johannes hatte keine Ahnung.
Was konnte, oder vielmehr musste er jetzt damit anfangen? Er konnte ja nicht gut sagen: na ja, da hat Gott mit mir gesprochen, jetzt geh ich ein Eis essen, oder so. Nein, er musste sich der Herausforderung stellen. Doch worin bestand die jetzt genau?
Er würde Gottfried anrufen, der musste herkommen und sich die Geschichte anhören!
Gottfried kam. Er hörte sich die Geschichte an und reagierte mit Unglauben:
„Du bist eingeschlafen. Das kommt vor!“, erklärte er.
Doch Johannes widersprach ihm heftig. „Hältst du mich für einen Trottel? Glaubst du wirklich, ich hetze dich hier heraus zu mir, weil ich geträumt hab?“
Gottfried kaute nachdenklich an einer Breze, mit der ihn Johannes bewirtete. Er kannte Johannes lange genug und wusste, dass der eigentlich niemand war, der sich wichtig tun wollte. Im Gegenteil, gerade Johannes hasste es, im Mittelpunkt zu stehen.
Aber vielleicht war auch das der Grund, weshalb sich Gott ausgerechnet ihn für eine Vision ausgesucht hatte. Ein Mensch, der, soweit er es beurteilen konnte, frei war von Eitelkeiten, Machtstreben und dem Willen unaufhörlich die eigene Bedeutung herauszustellen. Jemand, der trotz einer Vision bescheiden blieb.
Ja doch, er neigte dazu, Johannes zu glauben. Umso länger er darüber nachdachte, umso wahrscheinlicher erschien es ihm, dass er wirklich eine Vision gehabt hatte.
„Gut.“, nickte er nach einer Weile. „ich glaube dir. Aber das heißt auch, dass da was Unglaubliches passiert ist. Diese Vision hat eine Bedeutung – und nicht nur für dich alleine.“
Gottfried machte eine Pause. Johannes schaute ihn fragend an. „Was meinst du damit?“
„Du hast eine Aufforderung erhalten: Zieh an die Waffenrüstung des Glaubens. Damit ist das Gebet gemeint.“
Nachdenklich wischte sich Johannes ein Staubkorn aus dem Gesicht. „Du meinst, ich soll mehr beten?“
Gottfried schüttelte den Kopf. „Nicht mehr, sondern ganz gezielt. Vielleicht für Menschen, die du kennst, oder die dir ans Herz gelegt werden. Das macht auch Sinn.“ Er schaute sich um, warf einen Blick auf das Haus von Johannes, schloss die Umgebung mit den weitläufigen Feldern mit ein und fügte hinzu: „Hier heraußen lädt die Stille und die Atmosphäre geradezu ein zum konzentrierten Gebet. Darum ist das doch eine Aufgabe, die wirklich zu dir passt.“
Das sah Johannes ein. Und er würde sich dieser Aufgabe stellen…
Steine auf dem Herzen
Auf Paul Hübschmann lasteten Zentnersteine. Er fühlte sich, als sei ein riesiger Backstein aus einem fünften Stockwerk auf ihn gefallen. Er stellte sich jedenfalls vor, dass man sich dann so fühlen müsste. So mies, so kaputt und so verzweifelt.
Dabei lief eigentlich alles wunderbar. Die Scheinfirma, die er angemeldet hatte, kassierte die Überweisungsbeträge auf Waren, die nie geliefert wurden. Es waren zumeist kleinere Beträge, so dass niemand Verdacht schöpfte. Sein Plan ging auf. Er überwies und kassierte. Allerdings waren die Beträge so klein, dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis er das Geld, das er von Mareikes Erbe verspekuliert hatte, wieder zusammen hätte.
Darum fühlte sich Paul elend. Mareike fragte immer wieder nach ihrem Geld. Bisher ließ sie sich mit einer Ausrede abspeisen. Doch wie lange noch? Paul wusste, dass er sich auf sehr dünnem Eis bewegte. Er flüchtete sich in seiner Not wieder ins Gebet. Aber konnte ihn Gott überhaupt noch hören, jetzt da er mit voller Absicht einen falschen Weg eingeschlagen hatte? Er flehte zu Gott: „Herr zeige mir eine Lösung!“
Er dachte an seine Frau. Mit Mareike zu reden, ihr das eigene Versagen einzugestehen, erschien ihm als zu einfach. Das konnte er jetzt nicht mehr. So konnte er ihr nicht kommen. Unruhig lief er im Raum hin und her, wie ein Tiger in einem zu engen Käfig.
Er musste ihr das Geld zurückgeben können. Er brauchte also Geld. Unbedingt. Um jeden Preis. Egal was es kostete. Und wenn er seine Seele dem Teufel verkaufen müsste! – Hatte er das gerade eben wirklich gedacht?
Paul entsetzte sich über sich selbst. So tief war er schon gefallen! Dass Geld ihm alles bedeutete? Dass er seine eigenen Überzeugungen dafür aufgeben würde? Das war doch nicht er?
Paul war der Sohn eines angesehenen Landarztes mit gut gehender Praxis. Seine Mutter half bis heute in der Praxis mit. Sie hielt den Betrieb am laufen und war die gute Seele auch für die Patienten. Von Anfang an erhielt Paul die bestmögliche Förderung. Er konnte Klavier spielen, mehrere Sprachen sprechen und war natürlich aufs Gymnasium übergetreten. Im Sport zeigte er nicht gerade überragende Leistungen, betätigte sich aber trotzdem im Fußballverein und spielte gelegentlich Tennis. Paul hatte BWL studiert und jetzt einen guten Job in einem Pharmaunternehmen. Im Gegensatz zu ihm hatte sich sein jüngerer Bruder Simon schon früh für medizinische Themen interessiert. Simon studierte wie erwartet Medizin und würde später die Praxis seines Vaters übernehmen.
Pauls Eltern waren zu Recht stolz auf ihn. Sie hatten ihm auch den Glauben vorgelebt. Schon der Vater saß seit Jahren im Kirchenvorstand. Auch jetzt gehörte es in seiner Familie zu einem gelungenen Sonntag, dass man den Gottesdienst besuchte.
Seine Eltern waren für Paul sehr wichtig. Sie zu enttäuschen wäre ihm furchtbar gewesen.
Allein deshalb musste er eine gute Lösung für sein Problem finden. Es konnte nicht sein, dass er zum Betrüger wurde.
An dieser Stelle fiel Paul ein, dass er ja schon betrogen hatte. Sein Betrug war ja bereits im vollen Gange. Wie gerne hätte er das jetzt verdrängt. „Du bist ein Betrüger! Du bist ein Betrüger!“, hämmerte es in seinem Kopf. Wieder und immer wieder. Er legte sich abends ins Bett und konnte nicht einschlafen, weil er nichts als diese dürren Worte in seinem Kopf vernahm. Gleichzeitig lag dieser Zentnerstein auf seiner Brust. Er fühlte sich in einer unendlichen Zwickmühle.
Am nächsten Tag wachte er auf und der Blick in den Spiegel brachte ihm seine ganze Misere wieder zu Bewusstsein. Ein müder alter Mann mit glanzlosen Augen und Drei-Tage-Bart schaute ihm mürrisch und finster entgegen. Sein Gewissenskampf war ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.
„Paul beeil dich, ich muss noch mal ins Bad!“, Mareike klopfte an die Badtür.
Dass Frauen aber auch immer so ewig brauchen müssen. Sie hatte sich doch schon fertig gemacht. Wieso musste sie jetzt noch mal rein.
Die Gedanken über die Widersprüchlichkeiten von Frauen lenkten Paul zumindest vorübergehend von seinen Problemen ab. Trotzdem lasteten seine Sorgen so schwer auf ihm, dass er den Rasierapparat falsch ansetzte und sich tief ins Fleisch schnitt. Jetzt sah er aus, als sei er einem Messerwerfer in die