Ingrid Neufeld

Verfangen


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hat deine Lehrerin also gelogen, oder was?“

      Kevin kaute nachdenklich auf seinem Kaugummi. „Und wenn schon. Die Alte hat doch sowieso nen Knall.“

      „Und dann darf man einfach die Schule schwänzen?“, versuchte es seine Mutter wieder. Sie lief ihm hinterher in die Küche und stand jetzt direkt hinter ihm. Flehend schaute sie ihn an. „Das darf man doch nicht einfach.“

      Kevin schob sie zur Seite. „Ach lass mich doch in Ruh. Ist doch alles gequirlte Scheiße!“ Er zischte ab.

      Jasmin rief ihm hinterher. „ich bin noch nicht fertig. So einfach ist das nicht.“

      Kevin, der schon fast aus der Tür war, drehte sich noch einmal um und zeigte seiner Mutter den ausgestreckten Mittelfinger. „Fuck“. , hörte sie noch, ehe der Sohn in seinem Zimmer verschwand und dort die Tür lautstark zuschlug.

      Jasmin ließ sich auf den Klappstuhl vor dem Esstisch sinken. Sie fühlte sich hilflos und wusste nicht, was tun. Sollte sie ihm hinterherrennen? Ihn ohrfeigen? Ins Zimmer einschließen? Gedankenfetzen flogen durch ihren Kopf. Splitter aus ihrer Kindheit. Sie sah sich wieder als Fünfjährige. Bierflaschen überall, volle und leere, überquellende Aschenbecher. Der Vater ständig sturzbetrunken, der Kühlschrank gähnend leer, Schimmelränder, die Mutter nie zu Hause und wenn doch, dann hing auch sie an der Flasche. Sie erinnerte sich an Unordnung, Chaos, überall Wäsche dreckige und saubere, Geschirr, ungespült und unhygienisch, Ungeziefer, Müllberge, Streit, andauerndes lautes Gezeter, wütende Gesichter. Dann irgendwann kam jemand und nahm sie mit. Ins Heim, wo sie dann aufwuchs, inmitten von anderen Gestörten und früh vom Leben Gezeichneten. Sie lernte schlecht, hatte auch keine Lust, besuchte die Sonderschule und verließ die Schule dann irgendwann ohne Abschluss. Innerhalb weniger Sekunden zogen diese Bilder durch ihren Kopf. Und da fiel es ihr wie Schuppen vor die Augen: ihrem Kevin würde es nicht anders ergehen. Auch er würde die Schule ohne Abschluss verlassen. Auch er würde chancenlos in seinem Leben sein.

      Jasmin wollte ihren Sohn retten. Er sollte kein so armes Schwein werden wie sie selbst. Er sollte mal in einem eigenen Haus leben, eine nette Frau und hübsche Kinder haben, die alle studieren sollten. Jasmin dachte nach, wie sie ihm helfen könnte, dass er solche Ziele erreichen würde.

      Leider interessierte sich Kevin überhaupt nicht für solch ferne Ziele. Er wollte seine Mutter nicht sehen. Sie sollte ihn in Ruhe lassen. Hausaufgaben waren für ihn kein Thema. Sie existierten gar nicht. Jasmin kochte eine Suppe und rief ihren Sohn zum Essen. Doch der reagierte nicht.

      „Kevin, jetzt komm endlich. Die Suppe wird kalt!“, rief die Mutter durch die geschlossene Tür.

      „Kein Bock!“, kam endlich die Antwort.

      „Du musst doch was essen!“, flehte Jasmin.

      Da kam Kevin raus, doch nur um sich seine Jacke zu schnappen. „Scheiße verdammte. Kannst du mich nicht endlich in Ruh lassen?“

      Er warf die Tür zu und verschwand. Jasmin wusste, dass sie ihn so schnell nicht wieder zu Gesicht bekommen würde. Wohin er ging, sagte er nicht. Auch wann er wieder kam, verriet er mit keinem Wort. Wahrscheinlich aß er bei MC Donalds. Woher er das Geld dazu hatte, blieb im Dunkeln. Denn Taschengeld bekam er nur wenig.

      Jasmin fühlte sich als Versagerin. Sie war nicht oft zu Hause und sie kümmerte sich wenig um ihre Kinder. So war Anja auch jetzt im Kindergarten. Sie wurde von ihrer Mutter erst am Spätnachmittag abgeholt. Danach hatte sie meist keine Lust mehr, sich um ihre Tochter zu kümmern. Sie setzte sie vor den Fernseher und hoffte, möglichst nicht gestört zu werden. Oft musste sie aber auch abends noch arbeiten. Dann saß Anja mit ihrem Mann vor dem Fernseher. Ob der dann Kindersendungen schaute, war fraglich.

      Die Tür klackte. Hoffnungsvoll schaute Jasmin auf. War Kevin zurückgekommen?

      Da schlurfte ihr Mann in die Küche. Das heißt genau genommen schwankte er. Seine Alkoholausdünstungen füllten den kleinen Raum. Jasmin zog die Luft scharf ein. Obwohl sie diesen Zustand gewöhnt war, hielt sie den Atem an, als wäre die Luft mit gefährlichem Reizgas versetzt.

      „Warst du beim Arbeitsamt?“, fragte Jasmin, obwohl sie genau sah, dass er bestimmt nicht direkt vom Amt kam. Vorsichtig atmete sie dabei aus und mit offenem Mund wieder ein.

      „Klar, war ich“, behauptete Sven und konnte sich kaum mehr richtig artikulieren. „Sind alles Schweine dort drinnen. Alles Schweine…“

      Er plumpste auf den nächsten Stuhl und strich sich mit der Hand übern Kopf. Die Augen fielen ihm zu. Er riss sie gleich darauf wieder auf. „War auf dem Amt“, wiederholte er. „Aber … sind alles Schweine…“

      „Was istn los?“, wollte Jasmin wissen.

      „Haben keine Arbeit für mich… Sagen sie… Aber… die tun nichts…. Die sitzen dort nur rum…. Kümmern sich gar nicht um einen.“

      Jasmin schüttelte den Kopf. „Laber keinen Quatsch. Die können dir nichts vermitteln, wenn keiner einen einstellt.“

      Doch Sven war viel zu betrunken, um noch logisch denken zu können. Ganz offensichtlich hatte er nach dem Besuch beim Arbeitsamt noch tüchtig gebechert. Es war doch danach, oder? Jasmin schoss dieser Gedanke wie ein elektrischer Stromstoß durch den Körper. Er wird doch nicht schon besoffen dort aufgetaucht sein? Kein Wunder, dass die dann keine Arbeit hatten. Für einen betrunkenen Fahrer!

      „Du bist doch nicht besoffen auf dem Amt gewesen?“ Sie schaute ihren Mann eindringlich an.

      „Was ist los?“, lallte der.

      Jasmin begriff, dass sie aus dem nichts mehr herausbringen würde. Sie packte ihn und schleppte ihn ins Schlafzimmer. Dort hievte sie ihn samt Klamotten aufs Bett. Sollte er erst mal seinen Rausch ausschlafen.

       Die Botschaft

      Johannes Wohlleben lebte auf einem stillgelegten Bauernhof, vom nächsten Dorf etwa zwei Kilometer entfernt. Der Witwer bestritt seinen Lebensunterhalt durch die Kunstmalerei. Den früheren Stall hatte er zum lichtdurchfluteten Atelier umgebaut. Die einstige Wohnküche, in der früher Knechte und Mägde gemeinsam mit Bauer und Bäuerin um einen großen Holztisch saßen, diente als Ausstellungsraum.

      Johannes Wohlleben sah durchschnittlich aus, hatte zu kleine, eng stehende Augen und eine zu große Nase. Die Haare wollte er schon seit Jahren zu einem Pilzkopf schneiden lassen, so wie die legendären Beatles. Aber nie fand er eine Friseurin, die das hinbekam. Wahrscheinlich waren die Damen alle viel zu jung und kannten die Beatles nicht mehr. Jedenfalls schnitten sie ihm in der Regel zu viel ab. Nie trafen sie die richtige Länge. Die einen behaupteten, sein Haar sei zu voll, die anderen, er hätte zu viele Wirbel. Wie auch immer, jedenfalls trug er sein dunkles Haar nicht ganz so lang wie seinerzeit die Beatles.

      Das Haus kaufte der Kunstmaler, als seine Frau und sein Sohn durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen waren. Er zog sich damals aufs Land zurück und lebte seither sehr zurückgezogen.

      Für manche war Johannes Wohlleben ein komischer Kauz. Er passte in kein Schema. Er suchte keinen Kontakt zu anderen Menschen und fühlte sich wohl dort in seiner Abgeschiedenheit.

      Es war eine schlimme Zeit, als seine Familie durch einen Flugzeugabsturz so jäh aus dem Leben gerissen wurde. Seine Frau Susanne und sein Sohn Alex waren ohne ihn unterwegs gewesen. Lange hatten sie sich schon auf den Urlaub gefreut. Sie hatten geplant und gepackt und der Reise entgegengefiebert. Doch dann wurde dieser Auktionstermin verschoben. Damals handelte er noch mit Kunstgegenständen und er musste auf eine wichtige Auktion, die eigentlich schon eine Woche vorher angesetzt war. Dann wurde sie kurzfristig abgesagt und genau am Abflugtag neu angesetzt. Da die Plätze im Flugzeug schon gebucht waren, schickte er seine Familie vor, ließ nur seinen eigenen Flug umbuchen.

      Deshalb saßen Susanne und Alex alleine in dieser Unglücksmaschine. Er wollte mit dem nächsten Flieger nachkommen. Doch die Maschine kam nie an, sie stürzte ab. Es dauerte Wochen bis