Ingrid Neufeld

Verfangen


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klebte ein Pflaster über die Wunde, was es auch nicht besser machte. Das auch noch! Und in einer Stunde musste er zu einer wichtigen Besprechung! Er seufzte. Zum Glück war er wenigstens keine Frau, die würden sich wegen einer solchen Verletzung bestimmt krankschreiben lassen.

      Mareike schüttelte nur den Kopf, als sie Paul mit dem Pflaster sah. „Wie siehst du denn aus?“, murmelte sie ungnädig und ohne sich liebevoll um seine Wunde zu kümmern. Zu einem größeren Kommentar fand sie keine Zeit mehr. Eigentlich war Paul froh, dass sie weder Zeit noch Lust hatte, sich mit seiner Schnittwunde zu beschäftigen. Er hätte ihre Fürsorge jetzt nicht ertragen können.

      Mareike drängte sich an ihm vorbei ins Bad, um ihre Frisur mit Haarspray in Form zu bringen und sich Make-up aufzulegen. Ungeschminkt traute sie sich nicht vor ihre Klasse, mit siebenundzwanzig Pubertierenden.

      Mareike wunderte sich über Pauls Unausgeglichenheit. Seit Wochen ging er ihr aus dem Weg. Bisher dachte sie eigentlich, dass sie eine gute Ehe führten. Sie hatten viel gemeinsamen Gesprächsstoff. Sie konnten stundenlang miteinander diskutieren und lachen. Ab und zu verbrachten sie einen gemeinsamen Abend im Kino, oder auch mal im Theater. Sie besuchten zusammen ihre, oder seine Eltern. Es gab wenig Streitpunkte und ihre Ehe hatte eine gemeinsame Basis.

      Doch in letzter Zeit hatte Paul Geheimnisse vor ihr. Sie spürte es ganz deutlich. Er brach Gespräche plötzlich ab, so wie neulich, als sie ihm von ihrer Entscheidung erzählt hatte, im Fall von Kevin die sozialpädagogische Familienhilfe einzuschalten. „Meinst du, es war richtig?“, fragte sie ihn.

      Paul starrte durch sie hindurch, als wäre sie überhaupt nicht vorhanden. „Ja natürlich.“, gab er abwesend zur Antwort. Er hatte ihr überhaupt nicht zugehört. Stattdessen stand er auf einmal auf, um ganz plötzlich zu telefonieren.

      Sie verstand ihn nicht. Oft war er gereizt und fuhr wegen einer Kleinigkeit aus der Haut. Einen gemeinsamen Abend hatten sie auch schon länger nicht miteinander verbracht. Selbst der Sex kam Mareike wie eingeübt vor, ohne inneren Bezug.

      Sie wusste nicht, was dahinter steckte, fühlte aber, dass etwas nicht stimmte. Natürlich dachte sie, da ihr Mann nicht darüber sprach, dass es etwas mit ihrer Beziehung zu tun hatte. Vielleicht hatte er eine andere? Mareike konnte es sich zwar nicht vorstellen, aber es sind schon so viele Männer fremdgegangen, von denen man es niemals gedacht hätte.

      Sie spielte mit dem Gedanken, ihn ganz offen danach zu fragen. Aber im letzten Moment zuckte sie immer wieder davor zurück. Was, wenn er wirklich eine Geliebte hätte? Was wäre die Konsequenz? Scheidung? Plötzlich stand ein Begriff im Raum, von dem sie niemals gedacht hätte, dass der in ihrem Leben einmal eine Rolle spielen könnte. Er tauchte auf wie ein Gespenst, genauso unheimlich und voller Bedrohung. Nein, sie würde ihn nicht danach fragen. Vielleicht war’s ja die Midlife-Crisis, von der doch so viele Männer bedroht waren. Möglich, dass Paul einfach früher in diese Jahre kam, als andere.

      Mareike seufzte tief auf. Ja, so musste es sein. Eine Krise - die sich bald wieder in Luft auflösen würde.

      *

      Ein paar Tage später. Mareike kochte vor Wut.

      „Es ist mein Geld. Du hast es für mich nur angelegt. Es gehört dir nicht. Meiner Erinnerung nach müsste der Vertrag jetzt auslaufen und der Betrag wieder frei werden. Ich will doch nichts anderes, als dass das Geld jetzt auf mein Konto kommt.“

      Paul versuchte alles, um die Wogen zu glätten. „Aber du bekommst es ja. Nur nicht jetzt. Du erinnerst dich falsch. Die Anlage ist noch nicht fällig.“

      „Warum habe ich die ganze Zeit das Gefühl, dass du mich anlügst?“

      Mareike stemmte die Hände in die Hüften und stand in kämpferischer Pose vor ihrem Mann.

      Der schaute sie hilflos an. Er wusste ja, dass sie Recht hatte. Aber verdammt noch mal. Das brauchte sie nun wirklich nicht zu wissen.

      „In einem Monat bekommst du dein Geld.“, behauptete Paul, drehte sich um und knallte die Tür zu. Draußen drückte er auf seinen Auto-Fernbedienungs-Schlüssel und das Auto signalisierte mit einem Blinken, seine Fahrbereitschaft, wie ein Hund, der seinem Herrn mit dem Schwanz entgegenwedelt. Er hüpfte ins Auto und düste davon.

      Mareike trieb indessen ihre Tochter zur Eile an. „Erst Stress mit dem Mann“, seufzte sie. „Dann trödelt auch noch die Kleine.“

      Natürlich konnte Lisa ihre Schuhe längst selbst binden. Doch heute hatte Mareike keinen Nerv dafür. Rasch half sie ihr dabei.

      „Aber ich kann doch selber…“, klagte Lisa und schob trotzig ihre Unterlippe vor. Was war ihre Mutter heute aber auch gar so hektisch!

      „Heute nicht Lisa“, erklärte ihr Mareike, der alles viel zu lange dauerte. „Wir sind zu spät dran.“ Sie schob Lisa durch die Tür, rannte mit ihr rüber zu ihrem VW und öffnete die hintere Tür. Gleich darauf schnallte sie die Tochter auf dem Kindersitz fest und zwängte sich auf den Fahrersitz.

      Sie war stocksauer. Als emanzipierte Frau hatte sie einen Mann geheiratet, mit dem sie eine gleichberechtigte Ehe führen wollte. Und jetzt behandelte sie eben dieser Mann wie eine unmündige Dreijährige. Als wäre sie nicht selbst imstande, ihr Geld zu verwalten. Als müsste sie ihn erst um Erlaubnis bitten. Entwürdigend empfand sie das. Hätte sie ihm doch nie das Erbe ihrer Großmutter anvertraut!

      „Das passiert mir nicht noch einmal!“, dachte sie voller Wut.

      Nach dem sie Lisa im Kindergarten abgeliefert hatte, sprang sie gleich wieder in ihr Auto und fuhr zur Arbeit in ihre Schule.

      Heute hatte sie nur vier Stunden. Denn nach der vierten Stunde sollte eine Konferenz stattfinden.

      Sie fand das gut. Gerade heute hatte sie wenig Nerven und die paar, die ihr noch übrig blieben, wollte sie ungern in der Schule verschleißen.

      Manchmal wünschte sie sich ein dickes Nervenkostüm, umwickelt mit Drahtseilen.

      Ihre Klasse mit lauter Vierzehnjährigen war meistens nicht gerade einfach zu handhaben. Die Kinder steckten mitten in der Pubertät und einige von ihnen kamen aus schwierigen Verhältnissen. Das zeigte sich dann auch in ihrem Verhalten. Sie sahen sich selbst als arme Opfer und die Lehrer als die natürlichen Feinde der Schüler.

      Die Kids zeigten sich selten motiviert und ganz bestimmt nicht, sobald am Ende der Schulgong ertönte.

      Tom stand an der Tafel. Als es klingelte, warf er die Kreide auf die Ablage, rannte zurück zu seinem Platz und schnappte sich die Schultasche. Alle anderen sprangen von ihren Stühlen auf und stürmten zur Tür. Mareike konnte ihre Schüler gar nicht schnell genug entlassen. Wenn sie am Anfang des Schultages meist noch zu müde und langsam waren, so übertrafen sie sich jetzt beim Starten in den Nachmittag.

      Sie drängten und schubsten, stolperten übereinander und schoben sich unter viel Gekreische, Gejohle und Geschrei nach Draußen. Wenn eine Klasse Vierzehnjähriger die Treppe hinunterpolterte, hörte sich das an wie eine Herde Zirkuselefanten auf der Flucht.

      Mareike schaute ihnen hinterher und fühlte sich für den Augenblick wie befreit. Bis zum nächsten Morgen um acht Uhr hatten ihre Nerven Zeit sich zu erholen. Sie seufzte aus Herzensgrund.

      Die Lehrerin zog einen kleinen Handspiegel aus ihrer Tasche, warf einen Blick hinein und strich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. Sie kontrollierte, ob ihre Wimperntusche nicht verschmierte. Alles in Ordnung. Dann also ab zur Lehrerkonferenz.

      Schnell eilte sie den Gang entlang und schlüpfte durch die Tür ins Lehrerzimmer. Die meisten ihrer Kollegen waren schon versammelt. Sie zwängte sich neben Irene, einer älteren und gutmütigen Kollegin. Von ihr hatte sie schon so manchen Tipp bekommen, wie sie die Klasse behandeln musste. Irene teilte ihre Erfahrungen gerne mit jüngeren Kollegen, dabei war sie nicht überheblich, oder von oben herab. Ihre Tipps kamen ganz natürlich und unaufdringlich.

      Zwei Minuten später erschien Karsten Schneider, der Schulleiter. In seiner Begleitung befand sich ein neuer Kollege, wie es schien.

      Karsten