Schmerzen bereitete. Um die Schmerzen nicht chronisch werden zu lassen, hatte er inzwischen in begrenztem Umfang seine Arbeit wieder aufgenommen und behandelte einige Patienten.
Seine Schuldgefühle konnte er notdürftig beiseite schieben. Ab und zu sprach er mit Friedrich, seinem alten Lehranalytiker, darüber. Der beschimpfte ihn, was er sich einbilde, dass seine Gedanken oder Wünsche etwas mit dem Tod von Anita zu tun hätten. „Dein Kummer hat etwas mit deinem Versäumnis zu tun, dich zu behaupten, dich gegebenenfalls zu lösen“, hatte er gemeint. Außerdem habe er, René, ja wohl Anita auch geliebt, sonst hätte die Beziehung nicht so lange gehalten. Er solle trauern, verarbeiten und weiter leben, statt sich einem narzisstischen Wahn hinzugeben. Und wenn er sich schon etwas wünsche, dann etwas, vor dessen Eintreten er keine Angst zu haben brauche.
Nein, es gab zurzeit nichts, was er sich wünschte, außer die Schmerzen loszuwerden, wieder beweglich zu sein, zu laufen, zu wandern, Fahrrad zu fahren, wieder ins Kino oder ins Theater gehen zu können und das längere Sitzen auszuhalten.
Die Kleistgesellschaft kam ihm da nur gelegen. Der seltsame Tod von Richard Dehmel lenkte seine Gedanken ab. Was für eine merkwürdige Inszenierung, ihn mit einer jungen Schauspielerin ans Kleistgrab zu legen, was für ein theatralischer Aufwand. Sicher hatte Melanie Mattwey-Dehmel hinreichend Grund, sich für die Affären ihres Mannes zu rächen, aber würde sie einen solchen Aufwand betreiben? Und wer hätte ihr dabei geholfen? Das gleiche galt ja für eine von Richards Liebschaften, die auf die Czerny hätte eifersüchtig sein können.
Das Thema Kleist schien etwas mit dem Tod Dehmels zu tun zu haben. Weshalb sonst das Kleistgrab? Und es war möglich, dass es etwas mit dem Projekt Kleist und Guiskard zu tun hatte. Denn Dehmel hatte daran gearbeitet. Was hatte Dehmel entdeckt, war er auf einer Spur? Und wer hatte von einer solchen Entdeckung erfahren? Ein Kollege? Thorsten Wolters? René hätte zu gerne gewusst, ob die Polizei etwas in Dehmels Unterlagen oder Aufzeichnungen entdeckt hatte. Vielleicht kam ja die Frau Hauptkommissarin noch einmal auf ihn zu. „Eine nette, offene Person“, dachte René, „mit Sinn für Humor, aber auch mit einem traurigen Einschlag. Woran sie wohl zu tragen hatte?
Musst du schon wieder in anderer Leute Privatleben herumschnüffeln?“, schalt er sich. „Was geht dich eine Berliner Polizistin an?“
Nun lass mal gut sein, widersprach er seiner inneren Stimme. Man wird sich ja wohl noch für eine Frau interessieren können.
„Ach nein, der Herr Witwer hebt schon wieder den Kopf und sieht sich um. Schäm dich!“ Er schämte sich nicht und wünschte sich ein Treffen. Nur des Falles wegen, versteht sich.
März 1802
Kleist saß im Obergeschoss des Hauses über Büchern, einer Ausgabe von Schillers „Horen“ von 1797 sowie den „Denkwürdigkeiten aus dem Leben des griechischen Kaisers Alexius Komnenes“, ebenfalls von Schiller ediert. Außerdem hatte er eine deutsche Übersetzung von Tragödien des Sophokles aufgeschlagen. Er wollte ein neues Drama schreiben, eine wirkliche Tragödie, nicht so eine elende Scharteke wie die Schroffensteiner. Jüngst hatte er, dem Rat Ludwig Wielands folgend, das Drama noch geändert, die spanische Familie Ghonorez in die schwäbische Familie Schroffenstein. Mal sehen, wie die Freunde darauf reagierten, bald würden Sie nach Thun kommen, ihn zu besuchen. Er blickte aus dem Fenster und dachte an die heiteren Treffen in Bern mit Zschokke, Wieland und Gessner. Er fühlte sich allein, die Aufgabe drückte ihn nieder, schreiben, nicht nur schreiben, sondern berühmt werden, berühmter als die Dramenschreiber seiner Zeit, ach was, aller Zeiten. Hatte er in den Schroffensteinern sich noch an Shakespeare orientiert, wollte er nun sich an den Griechen messen, sie erreichen, übertreffen. Er atmete tief aus und ein, hyperventilierte fast, sah vor seinen Augen den stillen , weiten See, die schneebedeckten, abweisenden Berge, so hoch, so unbezwingbar. Er ging im Zimmer umher, im Gehen entstanden Verse, seine Arme schwangen dabei, schnellten nach vorne, verschränkten sich, Finger zeigten, durchbohrten. Er sah die Szenerie vor sich, nicht ans Theater denkend, wirklich war sie. Er fing an zu schreiben, saß dabei nicht, stand gebeugt, lief wieder umher, blieb stehen. Irgendwann hielt es ihn nicht mehr im Zimmer, er ging die Treppe hinunter, auf die Terrasse, rief seine Verse in den See, kehrte um und lief durch den Garten.
Das Mädeli kniete in den Beeten. Sie säte Kresse, Möhren, Petersilie, Zwiebeln, Spinat. Je mehr sie aus dem Garten holen konnte, desto weniger musste sie auf dem Thuner Markt einkaufen. Verwundert betrachtete sie Kleist, der in seinem braunen Rock durch den Garten lief, heftig gestikulierend, bis er plötzlich stehenblieb und nur noch mit einer Hand einen imaginären Takt schlug, als ob er memorierte. Er wirkte unzufrieden.
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