Harro Pischon

Die Toten am Kleistgrab


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weiß schon, die Herren schlafen länger als wir. Aber das macht nichts, ich helfe Ihnen gern Ihren Besitz hineinzutragen. Der Vater hat ja schon gesagt, dass ich Ihnen den Haushalt machen werde. Es soll Ihnen an nichts fehlen, Herr von Kleist.“

      „Wie heißt du eigentlich?“, fragte Kleist, „Herr Gatschet hat dich 'Mädeli' genannt.“ Sie lachte hellauf über die Aussprache Kleists. „Das stimmt schon. Mädeli ist mein Taufname im Berner Deutsch. In Ihrem Deutsch ist das 'Magdalena'.“

      „Oh, eine Jüngerin Jesu, die mit umherzog und die Jüngerschaft versorgte“, sagte Kleist, „für manche sogar die Gefährtin Jesu. Ein passender Name - Mädeli.“

      9 Mittwoch

      „Nächste Station – Nikolassee“. Rechts schimmerte der Schlachtensee durch die Bäume, links Villen und Gärten. Scheck kam selten nach Zehlendorf, schon gar nicht in die Villenviertel Schlachtensee, Nikolassee oder Wannsee. Er wohnte im Wedding, im afrikanischen Viertel, das zwar nicht von Afrikanern, aber zunehmend von Arabern und Türken bewohnt wurde. Am Bahnhof verließ Scheck die S-Bahn und ging zum Ausgang Hohenzollernplatz. Draußen sah er sich um, blickte zurück auf das pseudogotische Empfangsgebäude des S-Bahnhofs vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Es sah nach allem aus, nur nicht nach einem Bahnhof. Vielleicht wollten die damaligen Bewohner der reichen Gartenstadt Nikolassee nicht einen profanen Bahnhof sehen, wenn sie schon mit der Bahn fuhren, sondern eher einen Sakralbau, dachte sich Scheck, der junge Kriminalkommissar in Beate Lehndorfs Team. In Wirklichkeit hieß er Stefan Wondraschek.

      Sie hatte ihm den Auftrag gegeben, den Verleger von Richard Dehmel aufzusuchen, um mehr über dessen Arbeit herauszufinden. „Du musst stark sein, Scheck“, hatte sie gesagt. „Da wohnen nur reiche Leute in todschicken Villen. Keine klassenkämpferische Attitüde, bitte. Du sollst mit Regensburger sprechen und etwas über Dehmel herausfinden.“ Scheck wusste, dass Beate spottete, er errötete trotzdem. Sie war so verteufelt selbstsicher.

      Nun lief er zur Rehwiese. Hier lag das Haus von Philipp Regensburger, dem Geschäftsführer des Cramer Verlags, in dem Dehmel bisher seine Bücher veröffentlicht hatte. Er ging die Normannenstraße hinunter und bog in die Straße An der Rehwiese ein. Wirklich lagen hier imposante Villen und blickten majestätisch auf die Rehwiese hinunter, ungestört von Verkehr oder Spielplätzen. Als er vor der richtigen Hausnummer angekommen war, staunte er, denn Regensburgers Haus war recht bescheiden, zumindest von der Straße aus. Er klingelte am Tor, drückte es auf, als es summte, und stieg zur Eingangstür hinauf. Es dauerte etwas, bis sie sich öffnete und in der Tür stand ein Mann zwischen 45 und 50 Jahren im Trainingsanzug, ein Handtuch um den Hals gelegt, schwarze Haare mit schon ergrauten Schläfen, schwarze Hornbrille. Scheck zückte seinen roten Polizeiausweis und stellte sich vor. Regensburger entschuldigte sich, er komme gerade vom Laufen. Er ging voraus und führte Scheck in sein Arbeitszimmer. Scheck registrierte, dass Regensburger ihn nicht vor seinem wuchtigen Schreibtisch platzierte, sondern in einem von zwei Sesseln um einen kleinen Tisch.

      „Eine schreckliche Sache, der rätselhafte Tod von Richard Dehmel“, sagte Regensburger, „ich habe keine Erklärung dafür. Und dann diese junge Schauspielerin..., mir ist das alles ein Rätsel.“

      „Sie kannten Frau Czerny also nicht?“, fragte Scheck.

      „Nein, zumindest nicht im Zusammenhang mit Richard. Ich habe sie natürlich auf der Bühne gesehen.“

      „Sie waren mit Richard Dehmel befreundet?“

      „Das wäre vielleicht zuviel gesagt, aber – wir kannten uns gut und duzten uns auch.“ Scheck wagte einen Vorstoß: „Was können Sie über die Ehe der Dehmels sagen?“

      „Ja, was soll ich sagen, Melanie Mattwey-Dehmel ist eine sehr selbstbewusste Frau, durchaus bestimmend...“

      „Was meinen Sie damit?“

      „Nun, ich hatte den Eindruck, dass Richard sie oft zu fordernd fand und sich...na ja, dass er sich gerne auch mal entzog.“

      „Wie darf ich das verstehen?“ -

      „Zum einen durch die wissenschaftliche Arbeit und das Schreiben..“

      Scheck fand die Andeutungen mühsam und musste unterdrücken, sich zu ärgern. Er sah die hochgezogenen Augenbrauen seiner Hauptkommissarin vor sich. Er atmete aus und fragte weiter: „Und zum anderen?“

      „Richard hatte schon ein Faible für junge Frauen und flirtete gerne bei Vorträgen oder Konferenzen.“

      „Aber Genaueres können Sie mir nicht sagen?“

      „Nein, tut mir leid.“

      „Aber über seine Arbeit können Sie mir mehr mitteilen“, wechselte Scheck das Thema, „ ich würde vor allem gerne wissen, woran er zuletzt gearbeitet, was er veröffentlichen wollte.“ Regensburger dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: „Ich würde gerne einen Kaffee trinken, wollen Sie auch einen?“ Scheck bejahte, wünschte sich einen schwarzen Kaffee und Regensburger verschwand in die Küche. Scheck hörte das Mahlen und Zischen des Automaten. Kurz darauf kam Regensburger mit zwei Tassen zurück.

      „Also, das Spezialgebiet von Richard waren die Dramen Kleists. Ich will Ihnen Details ersparen, aber er hat sich von hinten nach vorne durch das Werk Kleists gearbeitet. Begonnen hat er mit den historischen Dramen, dem „Prinzen von Homburg“ und der „Hermannsschlacht“, danach hat er sich die Komödien vorgenommen und zuletzt vertiefte er sich in die Tragödien und die Tragödientheorie Kleists.“

      „Und gab es da etwas Besonderes oder Bemerkenswertes?“

      „Ich weiß nur, dass er vor Kurzem aufgeregt mitteilte, er habe eine Sensation in petto.“

      „Eine Sensation?“

      „Ja, er wollte nicht mit der Sprache herausrücken, aber es muss mit einer Tragödie zu tun haben, denn darüber arbeitete und schrieb er zuletzt.“

      „Welcher, wissen Sie nicht?“

      „Nein, was sollte Sensationelles zu finden sein zur „Penthesilea“, zur „Familie Schroffenstein“ oder zum „Robert Guiskard“? Regensburger dachte einen Augenblick nach. „Am ehesten wird es noch mit den beiden letzteren zu tun haben, denn ich weiß, dass er jüngst auch in die Schweiz gefahren ist.“

      Scheck fragte nach dem Hintergrund der Reise in die Schweiz.

      „Kleist lebte um 1802 einige Monate in der Schweiz, in Thun, und schrieb dort am „Guiskard“ und an den „Schroffensteins“.“

      Scheck merkte, dass er nicht mehr herausfinden würde, dankte für das Gespräch und verabschiedete sich. Immerhin hatte er etwas herausgefunden, was seine Chefin und das Team interessieren konnte – die rätselhafte Sensation, die Dehmel entdeckt zu haben glaubte.

      10 Donnerstag

      Beate stand am Fenster des Besprechungsraums für die Lage im Präsidium. Mit leiser Sehnsucht blickte sie auf das Parkcafé gegenüber, wo am Vormittag schon Menschen bei einem späten Frühstück saßen, Zeitung lasen, plauderten. Der Blick wanderte weiter zum U-Bahnhof. Der rote Eingangspavillon sah aus wie eine Popartplastik. Er war ein Fremdkörper innerhalb der grauen Bürogebäude rings um den Platz.

      Sie war absichtlich die erste des Teams in der Rolle des Platzhirschs, vor allem gegen Menzel, dessen Ehrgeiz keine Frau über sich duldete. Wenigstens empfing sie ihre Leute im Besprechungsraum. Sie seufzte. Keine Rede war bisher von einem Ermittlungserfolg in den ersten 48 Stunden, den angeblich wichtigsten. Mal sehen, was die beiden Männer herausgefunden hatten. Sie selbst würde von einem Besuch im Hause Dehmel in der Klopstockstraße berichten und von einem weiteren Gespräch mit der Frau des Opfers, die immer noch als verdächtig galt, da vorerst noch kein Motiv außer Eifersucht bekannt war.

      Beate dachte zurück: Vom Bahnhof Krumme