Ich weiß, dass er daran gearbeitet hat, mehr auch nicht.“
„Und privat kannten Sie ihn auch nicht genauer?“, versuchte es Beate.
„Nein, tut mir leid, wir hatten privat nichts miteinander zu tun. Sie entschuldigen mich jetzt.“ Eilig verließ Wolters den Raum.
„Tja, weg ist er“, kommentierte von Bramstedt, „ich habe noch einige Telefonate zu erledigen. Vielleicht wollen Sie sich noch umsehen. Da drüben sitzt auch Herr Beauchamps, wenn Sie mit jemand reden möchten.“
Der Vorsitzende verabschiedete sich und ließ Beate alleine.
In der Bibliothek standen einige Tische, aber auch bequeme Sessel. In einem saß ein fünfzigjähriger, schlanker Mann mit randloser Brille. Er trug Jeans und ein weißes Baumwollhemd mit hochgekrempelten Armen. Am Hals trug er eine hellbraune Halskrause. Neben ihm lehnten zwei Krücken. Er hatte die Szene beobachtet und lächelte amüsiert. Beate fand ihn sympathisch. Sie ging auf ihn zu.
„Guten Tag, ich bin Beate Lehndorf.“
„Von der Mordkommission. Danke.“
„Wofür danke?“
„Dass Sie mir Ihren Namen verraten. Sie hätten ja auch amtlich bleiben können: 'Hauptkommissarin Lehndorrf vom Landeskrriminalamt und werrr sind Sie?'“, schnarrte der Mann satirisch.
„Und wer sind Sie?“, gab Beate zurück und dachte, dass dies heute der erste Mann sei, der Humor hatte.
„René Beauchamps“, sagte der Mann, „und bevor Sie sich wundern, ich bin kein Franzose, sondern ein Spross Berliner Hugenotten.“
Beate blickte zu den Krücken und wunderte sich über ihre Direktheit: „Und die hier? Krankheit oder Unfall?“
„Verkehrsunfall, ein betrunkener Autofahrer hat mich vor zwei Monaten gerammt. Neues Hüftgelenk, Beine gebrochen, Schleudertrauma. Deshalb habe ich noch Zeit, um mich einem Hobby zu widmen.“
„Sie sind also kein Literaturwissenschaftler?“
„Nein, nein. Ich bin Psychiater. Es dauert noch etwas, bis die Schmerzen wieder erträglich sind und ich voll arbeiten kann. Kleist interessiert mich seit meiner Jugend.“
Beate hatte sich in den benachbarten Sessel gesetzt, ohne an die Privatheit dieser Geste zu denken. „Und gibt es etwas, womit Sie sich im Augenblick besonders beschäftigen?“
„Doch, ja. Wissen Sie, Kleist war Anfang des 19. Jahrhunderts zweimal in der Schweiz – in Thun. Das erste Mal wollte er am liebsten in der Schweiz bleiben und Bauer werden: Ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen. Er war in allen drei Dingen recht unbegabt. Aber es war eine interessante Zeit. Er wohnte auf einer Insel in der Aare am Ende des Thuner Sees. Ich bin sicher, er hat damals angefangen, sich mit Robert Guiskard zu beschäftigen.“
„Ach, Sie wissen, dass das der Schwerpunkt von Richard Dehmel war?“
„Natürlich, das weiß jeder. Er ist doch überall hingefahren und hat recherchiert. Wo immer Kleist auch sich mit Guiskard beschäftigt hat: Thun, Weimar, Dresden, Paris.“
„In Dresden auch?“
„Ja, Sie kommen aus Dresden?“
„Hört man das immer noch?“
„Ein bisschen, aber es könnte auch Leipzig sein oder Halle.“
„Wie gut kannten Sie Richard Dehmel?“
„Zurück zum Dienst, Frau Hauptkommissarin. In Ordnung.“ René setzte sich aufrecht.
Beate errötete.
„Also, ich kannte ihn nicht privat. Bis auf unser gemeinsames Interesse für Kleist leben wir in verschiedenen Welten. Ich habe ihn ein paarmal im Theater gesehen, zuletzt auch mit der Czerny. Es schien, als laufe da etwas. Ansonsten fand ich ihn sehr ehrgeizig und vor allem in maßloser Konkurrenz zu Wolters, den Sie gerade noch gesehen haben.“
„Konkurrenz?“
Er beugte sich vor und sagte in verschwörerischem Ton: „Ich halte Wolters für einen Neidhammel erster Güte. Ich kann mir gut vorstellen, dass er Dehmel das entstehende Buch über Kleists „Guiskard“ nicht gönnte, dass er es selbst hätte schreiben wollen. Er ist der typische Brutus.“
„Der mit dem Dolch im Gewande.“
„Ja, obwohl diese Formulierung aus der „Bürgschaft“ von Schiller ist.“
„Aber das reicht noch nicht aus, um einen Mord zu begehen, oder?“
„Für Mordmotive sind Sie die Spezialistin, angeblich werden ja Menschen aus geringfügigen Anlässen ins Jenseits befördert. Aber ich verstehe vor allem die Inszenierung am Kleistgrab nicht, wenn Neid und Konkurrenz die Motive sein sollten. Da winkt jemand mit dem Zaunpfahl der Eifersucht. Ich beneide Sie nicht um Ihre Aufgabe.“
Beate mühte sich aus dem Sessel.
„Gut, dass Sie mich daran erinnern. Ich habe einen Arbeitsplatz.“
Sie zog eine Visitenkarte aus der Tasche und bevor Sie noch etwas sagen konnte, lachte René: „Und jetzt kommt der Klassiker: 'Sie können mich gerne anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfällt.'“
Beate lachte mit und sagte beim Gehen: „Aber noch nicht jederzeit. Vielen Dank für das Gespräch. Ich habe einiges erfahren.“
„Auf Wiedersehen, Frau Lehndorf“, sagte René ernst.
Auf dem Weg zum Bahnhof dachte Beate, dass sie sich lange nicht mehr in einem Gespräch so wohl gefühlt hatte.
8 Mittwoch
Menzel fuhr auf der Greifswalder Straße nach Weißensee. In der Wohnung der Czerny war auch ein Bruno Weninger gemeldet, offenbar ein Freund oder Lebensgefährte des Opfers. Telefonisch hatte Menzel einen Termin vereinbart, an dem er den Mann in der Wohnung antreffen konnte.
Es passte ihm gar nicht, dass er sich um den Umkreis der Czerny kümmern musste, hatte ihn doch der Charme der Schauspielerin auch nicht gleichgültig gelassen. In ihrem Privatleben herumzustöbern erschien ihm fast anstößig. Und Beate mit ihrem leicht proletarischen Auftreten konnte sich mit den Herren der Kleistgesellschaft amüsieren, wo er doch viel besser hinpasste.
Menzel parkte den Dienstwagen, er hatte den neuen A 4 ergattert, vor dem Haus an der Ecke Bizet- und Mahlerstraße. Die Eckbalkone erinnerten ihn an den Film „Sommer vorm Balkon“.
Die Wohnung lag im dritten Stock. Nachdem er geklingelt hatte, dauerte es eine Weile, bis sich die Tür öffnete. Vor Menzel stand ein knapp fünfzigjähriger Mann, gekleidet mit betont lässiger Eleganz und mit einem Seidenschal um den Hals. „Weninger – und Se san der Herr Kommissär“, sagte der Mann in der Tür und streckte die Hand zum Gruß aus. „Menzel“, sagte der Kommissar und stöhnte innerlich. Er konnte die gedehnte, verschleppte und vernuschelte Sprechweise der Wiener nicht ausstehen.
„Darf ich hereinkommen?“
„Aber natürlich, entschuldigen'S, dass ich Sie so lang stehen lass, bittschön!“ Weninger führte Menzel in die Wohnung, die karg, aber sehr geschmackvoll eingerichtet war. Menzel sah sich anerkennend um. „Sie sind Innenarchitekt?“
„Danke für das Kompliment, aber nein. Ich bin Kunsthändler und Galerist. Das wollten Sie doch wissen. Setzen Sie sich doch, darf ich Ihnen was zu trinken anbieten? Kaffee? Oder gehören Sie zur Grünteefraktion?“ Weninger steuerte auf einen Eichenholztisch zu, Menzel bat um ein Mineralwasser.
„Schrecklich, die G'schicht mit Kathi. Ich kann's immer noch nicht fassen. Wissen Sie denn schon etwas?“
Menzel verneinte und bezähmte seinen Unmut über den ungeliebten Dialekt.
„Sie haben mit Frau Czerny hier zusammengelebt?“
„Ja, eh. Im