Peter Axel Knipp

Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht


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beim Vier-Seen-Lauf, da würde er sich voll reinhängen, wie sein Sohn zu sagen pflegte. Da lohnte es sich. Da gab es einen Start und ein klares Ziel, und auf den fünfzig Kilometern, die dazwischen lagen, wusste er, wofür er sich abmühte. Wenn er wirklich unter die ersten tausend kam wollte er das genauso hoch einschätzen wie seine Nummer eins bei der SSL. Vorher kam noch Olivia. Er durfte sich nur nicht von ihr überfordern lassen. Im letzten Jahr war das der Fall gewesen. Die exzessive Liebesnacht hatte ihn mindestens fünfhundert Plätze gekostet.

      Sie flogen jetzt über das flache Land, in dem selbst aus der Höhe erste Spuren des nahenden Frühlings zu erkennen waren. Der Co-Pilot, der bei diesen diskreten Flügen als Steward fungierte, brachte ihm einen Whisky on the Rocks. Bronner unterhielt sich kurz mit ihm. Er mochte diese etwas unbeholfen und hölzern wirkenden Männer. Sie dachten noch nach über das, was sie sagten. Und sie schwiegen, wo es nötig war.

      Nach dem Whisky löste sich seine Beklemmung über die dreizehn-, fünfzehn- oder zwanzigtausend abzubauenden Stellen endgültig. Das Gedankengeflecht von Bündnissen für Arbeit, für Aufschwung, für Ausbildung, von Ausstiegen aus defizitären Unternehmensteilen, und Förderung von Kernbereichen, von Wirtschaftsausschüssen, Technologievorsprüngen und Subventionsverschiebungen löste sich auf. Ja es war ihm, als fiele es stückweise auf die Erde hinunter. Wo es ihn beizeiten wieder einholen würde.

      Körperlich fühlte er sich ausgesprochen fit. Seinen Trainingsplan hatte er trotz überdurchschnittlicher beruflicher Belastung mehr oder weniger eingehalten. Sommertraining mit Joggen, Radfahren und Rollskilaufen, Krafttraining und Schwimmen im eigenen Haus, Schneetraining bei Kurzausflügen in die Berge, auf den Loipen von St. Moritz und Davos, von Kitzbühel und Oberstdorf und an ein paar verlängerten Wochenenden in Schweden und Finnland. Die Zeit hatte er sich genommen. Mit zweiundfünfzig fühlte er sich keineswegs zu alt für eine solche Prüfung. Sibylle hatte versucht, ihn zum Tennisspielen oder Golf zu bewegen. Aber er hatte überhaupt kein Ballgefühl. Er liebte Ausdauer und Kraft. Das einzige, was ihm Sorgen machte, war sein Nervenkostüm. Noch waren die Risse darin so fein, das andere sie kaum bemerkten. Doch er selbst kam sich immer häufiger wie in einem abgeschabten Anzug darin vor.

      Die Berge tauchten auf. Verdächtig klar und konturenscharf. Das deutete auf einen Wetterumschlag hin. In den letzten Tagen war es überall sehr schön gewesen. Kuster hatte bei seinem ersten Anruf aus St.Montis von traumhaften Bedingungen gesprochen. Doch ganz in der Ferne, im Südwesten, schien sich etwas zusammenzubrauen. Der Co-Pilot, nach dem er klingelte, bestätigte das. „In St.Montis müsste es morgen an sich noch schön sein“, sagte er. „Aber Sie wissen ja, wie das in den Bergen ist, Herr Bronner.“

      Oh ja, das wusste er. Hoffentlich würde ihn diesmal nicht das Wetter ein paar hundert Plätze kosten. Die höheren Lagen der Berge, er schätzte so ab tausend Metern, waren noch schneebedeckt. Vor fünfzehn Jahren, als er den Unternehmensbereich in München geleitet hatte, war er regelmässig zum Wandern und Skilaufen in die Alpen gefahren. Die boomenden Achtziger hatten vor ihnen gelegen, und trotz ein paar kleinerer Rezessionen hatten sie alle geglaubt, es gehe immer so weiter. Auch er. Obwohl es an Warnungen nicht gefehlt hatte. Und der grosse Schlamassel stand noch bevor.

      Langsam sinkend flogen sie in einer weiten Schleife in das Hochtal hinein. Für einen Augenblick konnte er das Tal in seiner vollen Länge sehen, bis zu jenem fernen Punkt, an dem sie morgen früh starten würden. Die riesigen, ebenen Flächen der zugefrorenen und verschneiten Seen waren gut zu erkennen. Sie liessen das Tal recht breit erscheinen. Zwischen ihnen jedoch war es gleichsam eingeschnürt. In den Verengungen, die jeweils ein paar Kilometer lang waren, erstreckten sich auf leicht gewelltem Land lockere Wälder. In diesen ‚bottlenecks’ würden sie nur langsam voran kommen, oft sogar zum Stillstand. Besonders in den hinteren Regionen des Feldes, wo viel unerfahrenes Volk mitlief, das mit den leichten Aufstiegen und Abfahrten nicht zurecht kam. Genau wie im Leben. Er musste früh versuchen, möglichst weit nach vorne zu gelangen, wo man zügig voran kam, wo einem nicht ständig jemand im Weg lag. Er freute sich auf diese Herausforderung und auf Olivia, die er gleich in den Armen halten würde. Wenn das Wetter so bliebe, so klar und heiter, würde er es diesmal schaffen. Doch es war ihm nicht entgangen, dass weit hinten , wo das Tal in den Horizont mündete, ein tückisches Gemisch aus Dunst und Wolken hing, das nur darauf zu warten schien, Unheil zu stiften.

      Sie flogen jetzt sehr tief. Rechterhand, auf der Nordseite des Tals, schlängelte sich die Strasse entlang. Linkerhand bog ein breites Seitental nach Süden ab. An dieser Stelle, an der das Ziel des grossen Laufs lag, war die Landschaft offen. Die ersten Häuser von St.Montis tauchten auf. Der Ort zog sich vom Talboden wie auf breiten Terrassen den Südhang hinauf. Über allem thronte das Grand Palace mit seinen malerischen Türmen. Sicher stand Olivia dort am Fenster und sah den kleinen weissen Learjet hereinschweben. Übermütig band Hilmar X. Bronner seine Krawatte ab und steckte sie in die Jackentasche.

      Kuster erwartete ihn in dem bungalowartigen Flugplatzgebäude. In der kleinen Halle, in der sonst selten jemand anzutreffen war, hantierte eine Menge Leute mit grossen, bunten Sporttaschen und Skisäcken.

      „Es sind kurz hintereinander fünf Flugzeuge gelandet“, sagte Kuster. „Wie immer schon ziemlich viel Betrieb überall. Ihre Startnummer habe ich bereits geholt. Demoiselle ist schon am frühen Nachmittag eingetroffen.“

      Demoiselle war Olivia.

      “Klappt ja alles wieder ausgezeichnet”, sagte Bronner, und seine Stimme klang so ganz anders als ein paar Stunden zuvor in der unseligen Stellenabbaukonferenz.

      Kuster war vor zwei Tagen mit dem Gepäck nach St.Montis gefahren. Ein kleiner, untersetzter Mann, sehr wendig, sehr aufmerksam. In St.Montis, wohin Hilmar X. Bronner stets ohne Sicherheitsbeamten reiste, war Kuster nicht nur Chauffeur und Mädchen für alles, sondern auch Bodyguard. Obwohl ein Anschlag auf Bronner in dieser heilen Welt als höchst unwahrscheinlich eingestuft wurde, nahm Kuster seine Aufgabe sehr ernst. Nur beim Skilauf konnte er seinen Herrn nicht begleiten, weil er diesen Sport nicht beherrschte.

      In einem unauffälligen Wagen, den Kuster sich der Camouflage wegen geliehen hatte, fuhren sie zum Grand Palace hinauf. Dafür, dass sie sich auf gut fünfzehnhundert Metern Höhe befanden und der Abend nahte, war es milde. Der Winter war nie richtig kalt gewesen. Im Ort lag kaum noch Schnee. Die Strassen waren überaus belebt, standen schon ganz im Zeichen des morgigen Grossereignisses und des allabendlichen Après-Ski-Rummels. Die Anti-Pelz-Bewegung ‚lieber nackt als Pelze tragen’, die in den Grossstädten gern herumpöbelte, wäre hier oben von einer Flut edlen Pelzwerks erstickt worden. Wer sich nicht in Pelze hüllte, tummelte sich in anderen noblen Outfits. In St.Montis war das Zur-Schau-Stellen von Reichtum ‚in’. Es wurde erwartet. Für die Teilnehmer am Volkslauf, die hier nächtigten, traf die Bezeichnung Volk eigentlich nicht zu. Während des Laufs selbst aber gab es keine Klassenunterschiede. Es sei den solche der sportlichen Fähigkeit. Hilmar X. Bronner wollte sowohl als auch dazu gehören.

      Kuster steuerte den Lieferanteneingang des Hotels an, wo der Direktor des Grand Palace seinen Gast wie zufällig empfing. Bronner und er waren im Lauf der Jahre Duzfreunde geworden, der Spitzenmanager und der Spitzenhotelier. Während Kuster dezent abtauchte, fuhren die beiden Herren mit einem Personallift nach oben. Unter dem Namen seines Chauffeurs, unter dem er auch an den Start des Volkslaufs gehen würde, bewohnte Hilmar X. Bronner die Blaue Suite im Westturm. Für einen Augenblick verharrten die beiden Herren in einer lauschigen Nische und tauschten Neuigkeiten aus. Dann konnte Bronner das sinnliche Verlangen, das ihn jedes Mal kurz vor einer Begegnung mit Olivia Pellier überkam, nicht mehr zügeln. Die letzten Schritte taten ihm körperlich weh.

      Sie öffnete auf das vertraute Kurzkurz-Langlang-Klingeln. „Ksaviè“, hauchte sie, als er sie an sich zog. „Oh, Ksaviè.“

      Sie war die einzige, die aus dem X. in seinem Namen etwas machte. Alle anderen benutzten es nur für Schmähungen und alberne Sprüche. Er hatte ernsthaft erwogen, sich nur noch Hilmar zu nennen, was distinguiert genug klang. Doch Olivia hatte dieses X, dieses Xaver, sie sagte Ksaviè, zum Kosenamen erkoren. Also hatte er es nicht gestrichen, und die Strasse skandierte weiter ‚bei Hilmar X. geht nix. Doch die Strasse hatte ihn noch nie bei einer Umarmung mit Olivia Pellier gesehen. Da ging durchaus etwas. Sie schafften es nicht einmal bis ins Schlafzimmer.