Peter Axel Knipp

Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht


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sportlich, wie es schien. Aber er wirkte nicht so fanatisch wie Sven, so verbohrt und unerreichbar. Sein Blick war wärmer, sinnlicher.

      Sie lächelte zurück und schloss dann wieder die Augen.

      Sven war schon gestern zu diesem internationalen Handballturnier nach Schweden gereist. Er würde erst in einer Woche zurückkommen und dann sollte er staunen. Wie hatte sie nur einen Mann heiraten können, der nie zu Hause war? Der als zweifellos tüchtiger Sportjournalist ständig unterwegs war. Und der, wenn er wirklich einmal Zeit gehabt hätte selbst Sport betrieb. Von allem etwas. Nichts mit Erfolg. Ein Besessener, der vom Sport infiziert war, von ihm aufgefressen wurde. Der voller Bestzeiten, Längen, Höhen, Tordifferenzen und Rekorden steckte. Sie fragte sich, wann sie zuletzt mit ihm geschlafen hatte. Das musste schon eine Zeitlang her sein. Unten, in seinem kleinen Fitnessraum im Keller, als er auf dieser Trainingsbank gelegen und Gewichte gestemmt hatte. Da hatte sie ihm die Hose ausgezogen, hatte ihn angemacht und sich einfach auf ihn gesetzt. Trotzdem hatte er das Gewicht noch ein paar Mal gestemmt und es erst abgelegt, als sie all seine Kraft an einer einzigen Stelle beansprucht hatte.

      Wieder öffnete sie erschreckt die Augen, als werde sie von allen angestarrt, als habe jedermann ihre Gedanken gelesen. Doch die Leute um sie herum hatten alle Besseres zu tun, sprachen wie Sven alle vom Sport oder was damit zusammenhing. Von Schneebeschaffenheit, Aussentemperaturen, Windrichtungen, von Wachstechniken, Körperhaltungen und Trainingseinheiten. Nur der Mann schräg gegenüber, der an den Gesprächen nicht teilnahm, lächelte ihr wieder zu. Sie stellte fest, dass er nicht gerade modisch gekleidet war. Eine etwas abgeschabte Kordhose, ein verwaschener Pullover und klobige Schuhe. Nichts von den modernen, farbigen Outfits, die ansonsten den Zug füllten. Aber er hatte sehr feine, sensible Hände, und sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn er sie damit berührte. Sie konnte sich eines

      plötzlichen Zittern nicht erwehren und zog ihre Jacke, die sie hinter sich aufgehängt hatte, wie schützend um sich. Er hat es gemerkt, dachte sie, er hat es gemerkt. Aber es war ihr nicht einmal peinlich, und sie lächelte ihm wieder zu. Eingehüllt in die warme Jacke glaubte sie, die Berührung seiner Hände zu spüren und nickte ein.

      In Madulan wurde der Zug fast leer. Katinka erwachte durch den Lärm und die Bewegung um sie herum. Der Mann zog gerade einen einfachen schwarzen Anorak an.

      Sie schaute aus dem Fenster, sah aber nur eine Menge Menschen. „Ist das hier Madulan?“

      „Ja“, nickte er.

      „Da muss ich ja raus.“ Sie zog die Schleife ihres Rossschwanzes zurecht, schlüpfte in die flauschige, bunte Jacke und griff nach ihrer Sporttasche in der Gepäckablage.

      „Darf ich?“ Er nahm die Tasche herunter. „ich werde sie nach draussen tragen“, sagte er.

      Sie hatte eine zweite kleinere Tasche und ihre Skier im Vorraum.

      „ich muss meine auch noch holen“, sagte er, als sie auf den Bahnsteig trat. Sie wartete, bis er zurück kam. Er sprach ein Deutsch, wie sie es noch nie gehört hatte. Wahrscheinlich einer aus den neuen Ländern, dachte sie.

      „Nehmen Sie morgen auch an dem Lauf teil? „ fragte er.

      „Ja. Ich hoffe ich erreiche das Ziel.“

      „Bestimmt. Vielleicht sehen wir uns.“

      „Das ist sehr unwahrscheinlich unter den tausenden von Leuten“, sagte sie.

      „Man kann nie wissen“, meinte er. „Darf ich Ihnen die Tasche noch irgendwohin tragen?“

      „Danke. Meine Freundin holt mich ab. Hals- und Beinbruch für morgen.“

      „Ihnen auch.“ Er ging davon und schaute sich noch einmal um.

      Spontan hob sie ihre freie Hand. Schade.

      Es dauerte ein paar Minuten, bis die Menge sich verlief und Betty sie entdeckte. „Ich habe die Kinder schon ins Bett gesteckt“, sagte sie. „Die waren den ganzen Tag draussen Es war herrlich heute.“ Betty war auch Lehrerin im Unterland gewesen, bevor sie einen Arzt geheiratet hatte, der im Regionalkrankenhaus von Madulan einen Ruf als Knochenflicker erworben hatte.

      Die beiden Freundinnen fuhren in Bettys kleinem Geländewagen zum Ärztehaus hinüber. Madulan, das etwas westlich des ersten Sees in unmittelbarer Nähe des Startgeländes liegt, glich an diesem Abend dem Bethlehem bei der Geburt Christi. Im Ort selbst und in seiner weiteren Umgebung war keine einzige Schlafgelegenheit mehr zu bekommen. In Madulan ging es nüchtern zu. Die Eleganz von St.Montis, das mondäne Publikum, vornehme Hotels und schicke Geschäfte suchte man hier vergebens. Es gab preiswerte Unterkünfte aller Art, Gasthöfe und Restaurants, in denen das Volk Schulter an Schulter sass. Der Geruch von Käsefondue und Raclette drang in die Strassen hinaus.

      Das Ärztehaus lag am Ortsrand hinter dem Krankenhaus. Zwei der Ärzte hatten dort Wohnung genommen, eine Psychotherapeutin und der einzige Zahnarzt weit und breit betrieben ihre Praxen dort.

      Die Freundinnen besuchten sich regelmässig. Betty liebte es, von Zeit zu Zeit in die Stadt hinunter zu kommen, Katinka war in diesem Winter öfter als sonst in Madulan gewesen, um sich auf den grossen Lauf vorzubereiten.

      Die Kinder schliefen schon, und Ralf, der Chirurg und Knochenspezialist wurde erst spät erwartet. Das Krankenhaus musste auf den morgigen Grosskampftag optimal vorbereitet werden.

      Betty und Katinka kochten in der rustikalen Küche die obligaten Spaghetti und plauderten über dies und jenes. Sie waren zusammen auf dem Lehrerseminar gewesen, hatten fast gleichzeitig ihre Männer kennengelernt und hätten gern gleichzeitig Kinder gehabt. Doch Sven, Katinkas sportbesessener Mann, wollte keine. Nur Betty wusste, wie sehr die Freundin darunter litt und hatte ihr kürzlich geraten, sich scheiden zu lassen.

      An diesem Abend sprachen sie nicht darüber. Dieser Abend wurde nur von der Frage beherrscht, ob Katinka die fünfzig Kilometer schaffen würde oder nicht. Sie war eine recht gute Skilangläuferin, doch fünfzig Kilometer inmitten eines riesigen Teilnehmerfeldes waren etwas anderes als gemütliche Fünf- oder Zehn-Kilometer-Schleifen, auf denen man fast allein war. Katinka hatte alle Teilstücke des Laufs absolviert, nie jedoch die fünfzig Kilometer in einem Stück, unter wettkampfmässigen Bedingungen. Es gab nur einen einzigen Grund, aus dem sie es schaffen wollte: Weil Sven es nicht geschafft hatte. Sven, der grosse Sportler, der Läufer, Springer, Schwimmer, Ski- und Radfahrer, Kraft-, Leicht- und Ballathlet, der Allrounder hatte den Lauf vor zwei Jahren so nebenbei durchziehen wollen und war knapp nach der Hälfte kläglich gescheitert. Vollkommen fertig hatte er nachmittags stundenlang auf der Couch in Ralfs Arbeitszimmer gelegen und schwer atmend nach Entschuldigungen gesucht. Und da war sie auf den Gedanken gekommen, es ihm zu zeigen. Sie würde ihre Teilnehmerplakette und den Ausdruck ihres Einlaufergebnisses auf sein Kopfkissen legen und keinen Ton dazu sagen. Entweder gewann sie ihn für sich zurück, und er hatte den Respekt vor ihr, den er vor jeder x-beliebigen Weltrekordlerin oder Olympiasiegerin hatte, oder sie würde ihre Konsequenzen ziehen. Es gab genügend Männer, die sie auch ohne sportlichen Glorienschein attraktiv fanden und sich nach ihr umdrehten. Ralf, Bettys Mann, war sicher einer von ihnen, obwohl er nie etwas getan hätte, das Betty kränken könnte. Das fand sie so grossartig an ihm.

      „Sieh da, unsere Vier-Seen-Königin“, sagte er, als er spät aus dem Krankenhaus herüber kam. Er nahm sie freundschaftlich in den Arm und küsste sie auf die Wangen „Bist du in Form?“

      „ich glaube schon. Wenn ich nicht daran denke, dass mein Auto auf dem Herweg seinen Geist aufgegeben hat.“

      „Das muss kein schlechtes Zeichen sein“, meinte er. „Wichtig ist, dass DU bis nach St.Montis durchhältst, und davon bin ich überzeugt.“ Er sprach und dachte immer positiv. Wie hätte er sonst auch Knochen zusammen flicken können, die zersplittert waren wie abgebrochene Äste. Unter Alpinskifahrern, Snowboardern und ähnlichen Bruchpiloten galt er als Meister seines Fachs. Auch er hatte feine, sensible Hände wie der Mann im Zug.

      „Wird sich das Wetter halten?“ fragte Betty. „dann könnte ich morgen mit den Kindern an die Zenser Steigung fahren und den Lauf anschauen. Vielleicht sehen wir Katinka.“