Peter Axel Knipp

Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht


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die Sängerin noch Herrin über ihr Gefolge.

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      Das SexTett

      Auch das SexTett weilte schon seit einigen Tagen in der Höhe, um sich auf die grosse Prüfung vorzubereiten, vor allem, um sich zu akklimatisieren. Dass zwei von ihnen kurz vor dieser historischen Zusammenkunft verschieden waren, bedrückte die übrig gebliebenen. Den Clubnamen „SexTett“ hatten sie aber nicht infrage gestellt.

      Wie immer hatte sie sich im Chalet Louise einquartiert, das auf halbem Weg zwischen Madulan und St.Montis liegt, im Südhang, mit herrlichem Blick auf das Tal. Von kaum einer Stelle aus konnte man den Vier-See-Lauf besser verfolgen. Man sieht die ersten Läufer schon in grosser Entfernung auftauchen, dann das Vorbeiziehen des schier endlosen Feldes, dann die Nachzügler, die letzten, die allerletzten und dahinter noch ein paar, bis man das Gefühl hat, es sind schon wieder die ersten.

      Das Beobachten ist eine Sache. Eine andere ist es, selbst in diesem Feld mitzulaufen. Das hatte das Sextett schon getan, als der Lauf vor fünfundvierzig Jahren zum ersten Mal augetragen worden war. Damals waren sie nur ein paar hundert Teilnehmer gewesen, die sich über das spärlich gespurte Gelände von Madulan nach St.Montis gekämpft hatten, im guten, alten, klassischen Stil und mit einer Ausrüstung, die man heute nur noch im Museum fand. Schon damals hatten sie alle im alten Chalet Louise gewohnt, das den Eltern eines der kürzlich Verstorbenen gehört hatte. Sie waren jung gewesen, Schulfreunde, die in den Tagen vor dem Lauf mehr gefeiert als trainiert hatten. Hinter dem Ziel waren sie sich schwärmerisch in die Arme gefallen und hatten sich geschworen, alle paar Jahre an dem Lauf teilzunehmen, solange sie Arme und Beine bewegen konnten. Die ersten Male hatte das geklappt. Dann war einer von ihnen auf die Idee gekommen, ihre Frauen mitzunehmen, und es war nicht mehr das gleiche gewesen. Die Vier-Seen-Treffen waren eingeschlafen. Vor zehn Jahren jedoch, drei von ihnen waren inzwischen geschieden, einer hatte sowieso nie geheiratet, und die zwei restlichen nahmen keine Rücksicht mehr auf ihre Frauen, hatten sie wieder zusammen gefunden und den Lauf, dessen Teilnehmerzahl sich der Zehntausendergrenze näherte, noch einmal erfolgreich absolviert. Wieder waren sie sich nach dem Ziel in die Arme gefallen und hatte, diesmal mit Altersinbrunst, geschworen, in zehn Jahren, wenn sie alle auf die Siebzig zugingen, ein letztes Mal teilzunehmen.

      Und da waren sie nun. Leider nicht mehr vollzählig. Vier alte Herren, die es noch einmal wissen wollten. Die nicht mehr unter die ersten Tausend laufen wollten, nicht aus PR-Gründen liefen, oder weil ihnen dieser Lauf in ihrer Sammlung fehlte, sondern die einfach Abschied nehmen wollten von einem zur Institution gewordenen Ereignis, das sie damals mit aus der Taufe gehoben hatten. Sie hätten wahrlich besseres verdient gehabt als das, was ihnen am nächsten Tag zuteil wurde.

      Das Chalet Louise war inzwischen zweimal total renoviert worden und gehörte der Witwe eines der kürzlich verstorbenen Kameraden, eine gut erhaltene Endfünfzigerin, mit der sie alle vier, keiner war mehr in festen Händen, eindeutig herumschäkerten. Jeder für sich nährte die Altmännerhoffnung, die Frau und das Chalet gewinnen zu können, sorglos dort zu leben und noch mit hundert den Vier_Seen_Lauf vorbeiziehen zu sehen.

      Während der letzten Tage hatten sie eifrig trainiert. An den Abenden hatten sie bei Glühwein und Apfelstrudel um die Gunst der Witwe gebuhlt. Das war ihnen leichter gefallen als das Training. Beim Training hatte jeder krampfhaft versucht, die Schwächen zu verdecken, mit denen er zu kämpfen hatte. Und jeder hatte argwöhnisch die anderen beobachtet, um an ihnen die gleichen Schwächen auszumachen. Sie hatten sich betont forsch gegeben, einander scherzhafte Ermunterungen zugerufen und sich mit kilometerleistungen gebrüstet, die jeder für sich während der letzten zehn Jahre erbracht haben wollte.

      Man sah ihnen an, dass sie etwas vom Skilanglauf verstanden, zumindest vom klassischen Stil, den sie alle vier bevorzugten. Ihre Lauftechnik zeichnete sich durch eine ruhige Oberkörperhaltung und bewegungsrationelle Arm- und Beinführung aus. Der Schwung jedoch, der diesen Bewegungen Leichtigkeit verleihen sollte, die fliessende Eleganz, mit der sie ablaufen sollten, waren bei allen erlahmt. Von der scheinbaren Mühelosigkeit des Dahingleitens, mit der sie noch vor zehn Jahren geglänzt hatten, war einiges abhanden gekommen. Sie wollten das nicht zugeben, wollten die Leichtigkeit des Laufs erzwingen. Was die Mängel umso augenfälliger machte.

      Ludwig, der Bestattungsunternehmer, der sein Geschäft noch selbst führte, war bei ersten Training sogar zweimal ohne ersichtlichen Grund gestürzt. „Die neuen Skier“, hatte er kopfschüttelnd gesagt. Doch das konnte es nicht sein. Sie waren alle mit dem Neusten und Besten ausgerüstet, bis auf Georg den Lebenskünstler und Hans Dampf in allen Gassen, der verarmt war und sich keine teuren Ausrüstungen mehr leisten konnte.

      Herbert, der älteste von ihnen, hatte beim Atmen ein paar Mal pfeifende Geräusche von sich gegeben, die sie während keinem der vorherigen Läufe von ihm gehört hatten. Sie hatten taktvoll geschwiegen, hatten aber umso erschrockener auf ihre eigenen Atemgeräusche gelauscht. Herbert war Politiker, keiner mit Leibwächter, eher eine graue Eminenz, die gerade dabei war, ihrer aus dem Tritt gekommenen Partei trotz des eigenen pfeifenden Atems neues Leben einzuhauchen..

      Bliebe als vierter noch Paul zu erwähnen, der Bankdirektor im Ruhestand, dessen Laufstil immer sehr korrekt gewesen war, und der nun ausgesprochen steif wirkte.

      Bis auf Georg trugen sie alle Herzfrequenz-Messgeräte am Handgelenk, die sie immer wieder verstohlen überprüften. Es gab jedoch so viele Einflussfaktoren auf die Herzfrequenz, von der Höhenlage bis auf die Bekleidung, dass sie alle Mühe hatten, ihre Messwerte nützlich zu interpretieren. Nur Herbert war sicher, dass bei ihm etwas nicht stimmen konnte. Selbst während der heftigsten Parlamentsdebatten waren seine Werte nicht so extrem, wenn solche Vergleiche überhaupt erlaubt waren.

      Vielleicht hätten sie abends auch nicht soviel trinken sollen. Doch es war, wie sie entschuldigend feststellten, wohl immer mehr der Wusch nach Geselligkeit als die sportliche Betätigung gewesen, der sie am Vier-Seen-Lauf vereint hatte.

      Auch an diesem letzten Abend vor ihrem letzten Lauf assen und tranken sie zuviel und rauchten teure Havannas, die der Bankdirektor seinerzeit für eine Transaktion bekommen hatte, die im Gegensatz zu seinem korrekten Laufstil gestanden hatte. Inmitten der Rauchschwaden gedachten sie der beiden toten Freunde, auf die sie mehrmals das Glas erhoben. Es war auch eine letzte Gelegenheit, die Witwe zu beeindrucken, deren Kochkünste sie über die Massen lobten. Insgeheim hatte sich jeder von ihnen vorgenommen, vor der Abreise nachzufragen, ob er nicht als einzelner Feriengast einmal im Chalet Louise willkommen sei. Die Dame hatte bisher keinen von Ihnen sichtbar bevorzugt.

      Zu fortgeschrittener Stunde, als ernsthafte Teilnehmer des Vier-Seen-Laufs längst im Bett lagen, wurde das SexTett melancholisch. Die Erinnerung an die vergangenen Läufe übermannte sie. Belanglose Episoden kamen ihnen in den Sinn und wurden zu spektakulären Erlebnissen aufgebauscht.

      „Damals“, sagte Ludwig der Bestatter, der da gerade ins väterliche Unternehmen eingetreten war, „damals entsorgte man noch keine Abfälle in den Särgen, die für die Feuerbestattung bestimmt waren.“

      Niemand wusste, wie er darauf kam. Vielleicht weil soviel Rauch im Zimmer war. Mit dem Skilanglauf hatte das jedenfalls gar nichts zu tun.

      „Und das macht man heute?“ fragte der Politiker belustigt.

      „Ich könnte euch noch ganz andere Sachen erzählen“, sagte Ludwig.

      Doch sie entschieden, dass sie nicht von Bestattungen hören, sondern in die Loipen von damals zurückkehren wollten.

      „Wisst ihr noch“, fragte Georg der Lebenskünstler, „wie dieser grosse Hund hinter mir her war? Beim allerersten Lauf kurz vor dem Ziel?“

      Sie erinnerten sich.

      „Er kam aus dem Wald“, sagte der Bankdirektor i.R. und zeigte mit seiner Havanna vage in Richtung St.Montis. „Wir dachten, es sei ein Wolf.“

      Doch der letzte Wolf steht, wie wir wissen, ausgestopft in der „Gletscherspalte“ oberhalb von Campost.

      „Ich weiss jetzt auch, warum er hinter mir her war“, sagte Georg. „Weil ich damals meine Schuhe mit Schweinefett