Peter Axel Knipp

Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht


Скачать книгу

zu sprechen.

      Später ging er nach draussen auf die Terrasse hinaus. Auf den Parkplätzen kamen immer noch Autos an. Er fragte sich, wo all diese Leute unterkamen. So gross konnte Madulan gar nicht sein. Von hier oben aus waren die Grenzen des Ortes anhand der Lichter gut auszumachen. Der richtigen Ansturm würde erst morgen früh einsetzen. Er wusste gar nicht, wie viele Teilnehmer es sein würden. Bestimmt über zehntausend. Da würde es schon im Startgelände, das sich in der Dunkelheit nur erahnen liess, recht eng werden. Irgendwo in der Menge würde die Frau sein. Es kam darauf an, welche Startnummer sie hatte. Seine eigene musste er am Morgen holen.

      Er lief ein paar Mal auf der Terrasse auf und ab und plötzlich roch er den Schnee. Nicht den, der am Boden lag, sondern den, der in weniger als vierundzwanzig Stunden vom Himmel fallen würde. Robert Kissinger, Naturmensch von Geburt, hatte ein ausgeprägtes Gespür für Wetterumschläge. Noch war der Himmel über Madulan und weiter östlich, wohin der Lauf führte, sternenklar. Am westlichen Ende des Tals jedoch war er wie abgeschnitten. Himmel und Berge gingen dort bereits konturenlos ineinander über. Es war noch immer ungewöhnlich milde. Bei einem bevorstehenden Niederschlag konnte man fast mit Regen rechnen, doch Kissinger wusste, dass es ein nasser, schwerer Schnee sein würde. Grosse Flocken, wie er sie als Kind mit der Zunge aufgefangen hatte. Wenn sie Glück hatten, blieb der Schnee ein paar Stunden hinter ihnen. Wehe aber, wenn er sie überholte. Dann würden sie mit ihren Brettern wie durch einen Sumpf stampfen müssen. Er hatte das schon erlebt.

      Lange blickte er gen Westen, wo sich die Vorhut der Wetterfront in das Tal zu wälzen begann. Es war allen Teilnehmern des Laufs empfohlen worden, den stündlichen Wetterbericht des Lokalradios zu hören. Demnach, hatten die jungen Leute am Tisch gesagt, müsse man am nächsten Tag möglicherweise mit tiefhängenden Wolken rechnen, aber es werde bis zum Abend trocken bleiben. Mir kann das einerlei sein, dachte er. Ich werde ziemlich weit vorne laufen, mittags in St.Montis sein, mich dort ein wenig umschauen, mit dem Bus nach Madulan zurückfahren, noch einmal bei Leo übernachten und mich am Sonntag auf den Weg zu den Domen machen.

      Es war kurz nach elf, als er nach oben ging. In den Waschräumen und Toiletten herrschte Hochbetrieb. Er putzte sich die Zähne, wechselte aus der Reisekleidung in einen Trainingsanzug und kroch auf seinem Lager in einen Daunenschlafsack, in dem er schon wesentlich niedrigere Temperaturen überstanden hatte. Die Plätze rechts von ihm waren noch frei, links richtete sich gerade ein Mann seines Alters ein, der sich als Paolo vorstellte, Pater und Pfarrer von ein paar Berggemeinden an der Grenze zu Italien. Sie kamen ins Gespräch, der Mann, der etwas von Gottes Wort, und der, der etwas von Gotteshäusern verstand. Sie redeten leise über Menschen und Kirchen, über die Schwierigkeiten zur Rettung der einen das richtige Wort, zur Rettung der anderen das wichtige Geld zu finden. Sie politisierten vorsichtig, waren sich aber schnell einig, dass die meisten Demokratien verkappte Oligarchien und oder Plutokratien waren. Pater Paolo erzählte von der Einsamkeit in seinem Pfarrhaus, in dem seit einem halben Jahrhundert dieselbe Wirtschafterin hantierte, Robert erzählte von der Einsamkeit in seinem Waldhaus, in dem keine seiner Exfrauen es länger als ein paar Jahre ausgehalten hatte. Sie lachten leise wie zwei Verschworene, nicht wie Sportkameraden des grossen Ereignisses am nächsten Tag, das sie mit keinem Wort erwähnten. Sie kamen sich eher wie zwei Gefangene vor, die in einem tristen Verliess zueinander gefunden hatten. Aus dem Restaurant drangen Lärm und Gesang herauf, als sei der Lauf bereits zuende, und als würde eine Menge guter Platzierungen gefeiert. Dann kamen die rechten Nachbarn von Robert Kissinger, stark angeheitert, ungeniert furzend und rülpsend, was in Massenlagern zum guten Ton gehört. Es dauerte eine Weile, bis sie alle ihre Matratzen gefunden hatten und zur Ruhe kamen. Was nicht hiess, dass es nun still war im Haus. In der Gaststube ging es munter weiter, neue Gruppen polterten in den Schafsaal, und die Toilettenspülung schien jedes Mal das ganze Gebäude mitreissen zu wollen. Zur psychischen Vorbereitung auf einen Fünfzig-Kilometer-Skilanglauf war Leos Massenlager wenig geeignet. Und doch war es Leo selbst, der ihnen allen noch ein paar Stunden Schlaf verschaffte, derweil es gegen zwei Uhr morgens oder so nach seinem donnernden Ruf „von jetzt an herrscht Ruhe“ totenstill im Haus wurde.

      Um diese Zeit träumte Robert Kissinger längst von einem Gestöber grosser Schneeflocken, aus dem ihm die Frau aus dem Zug zulächelte.

      4

      Lydia Lindt und ihr Gefolge

      Anders als Hilmar X. Bronner, Katinka Blank und Robert Kissinger reiste Lydia Lindt nicht am Vorabend des Laufes an. Sie war bereits seit einigen Tagen in St.Montis und residierte in der „Villa Musica“, Die ihr der Tenor Ernesto Carpado, den sie etwas vermessen als guten Freund bezeichnete, zur Verfügung gestellt hatte. Der Maestro stellte seine Villa allen möglichen Leuten zur Verfügung, allein um das Personal zu beschäftigen. Er selbst kam nur sehr selten nach St.Montis und schon gar nicht, wenn Lydia Lindt da war.

      Auch Lydia Lindt war Sängerin, jedoch eine der sehr leichten Muse, des anspruchlosen Schlagers. Vor zwanzig, dreissig Jahren waren sie und der Slogan „Leise Lieder von Lydia Lindt“ recht bekannt gewesen. Ihre Stimme war der von Nana Mouskouri nicht unähnlich gewesen, doch hatte sie es nie zu deren internationaler Berühmtheit gebracht.

      Schliesslich war es still um sie geworden. Die leisen Lieder waren immer leiser geworden. Sie hatte sich, gelegentlich Werbeweisen für sanfte Weisen trällernd, in ihr Häuschen in den Bergen, nicht im teuren St:Montis , zurückgezogen. Dort hatte sie Stimme und Gitarrenspiel mit täglichen Übungen und ihren Körper mit Skilanglauf für ein erhofftes Revival in Form gehalten. Nun schien es endlich soweit zu sein. Sie war kürzlich zu einer bekannten Musiksendung im Fernsehen eingeladen worden, in der ein Komponist geehrt wurde, dessen Melodien auch zu ihrem Repertoire gehörten. Völlig unerwartet hatte sie grossen Erfolg gehabt. Es schien, dass leise Lieder in den Zeiten von Techno, Punk und Heavy Metal wieder gefragt waren. Ein neues Management bemächtigte sich ihrer, PR-Gags waren angesagt.

      Sie selbst, in der Loipe inzwischen versiert, hatte die Idee gehabt am Vier-Seen-Lauf teilzunehmen und eine Fotoreportage davon machen zu lassen. Angefangen bei ihren gymnastischen Vorbereitungen bis zum festlichen Abschluss im Grand Palace von St.Montis, wo sie vielleicht noch ein leises Lied singen würde. Eine Boulevard-Illustrierte war darauf eingestiegen. Das Projekt wurde unter dem Titel „Mit Lydia Lindt am Vier-Seen-Lauf“ in Angriff genommen. Fotoreporter war ein ehemals renommierter Langläufer, Bodo F. Er war am Morgen in der Villa Musica eingetroffen und hatte Lydia Lindt beim Beweglichkeitstraining und beim Stretching im Schnee von der Dehnung der vorderen Schienbeinmuskulatur bis zu der des Deltamuskels abgelichtet. Und er hatte der Fünfundfünfzigjährigen mehr als ein Kompliment wegen ihrer guten körperlichen Verfassung machen müssen.

      Bodo F. würde jedoch nicht der einzige Gefolgsmann von Lydia Lindt während des Laufs sein. Als Leibwächter sozusagen oder als Rammböcke, die sie im Gedränge beschützen und Platz für einwandfreie Fotos schaffen sollten, hatte sie Olaf, ihren stämmigen Skilehrer nordischer Herkunft mitgebracht und erwartete um diese Stunde Enzo, einen Macho aus südlichen Gefilden, mit dem sie ein Verhältnis hatte. Da sie früher auch mit Olaf mehr als nur ihre Skier verbunden hatte, konnte es sein, dass die beiden Leibwächter sich nicht besonders verstanden. Eine Buhlerei der beiden, vielleicht sogar eine Handgreiflichkeit wegen ihr, der wieder entdeckten Sängerin, konnte ihrer Publicity indes nicht schaden. Was Enzo anbetraf machte sie sich allerdings Sorgen, ob der den Lauf überhaupt durchhielt. Sie glaubte nicht, dass er in der Loipe so gut war wie im Bett. Auf ein paar kürzeren Touren mit ihm hatte sie festgestellt, dass ihm in der Loipe vor allem die technischen Fähigkeiten fehlten. Einen so langen Lauf würde er kaum mit purer Kraft bewältigen können. Wie dem auch sei, er hatte sich ihr zur Verfügung gestellt, und wenn er schlapp machte, musste er aussteigen. Er würde nicht der einzige sein. Wichtig war, dass Bodo F. und seine Kamera nicht abhanden kamen.

      Sie spielte auf Carpados Flügel ein paar Leichte Melodien, ihr Klavierspiel war bescheiden, und überlegte, ob sie später zum Essen ins Grand Palace fahren solle und wenn ja, mit wem. Oder ob es besser sei, mit ihrem Gefolge in der Villa zu speisen. Doch dann fiel ihr ein, wie werbewirksam es wäre, wenn sie wenigstens am Vorabend des Volkslaufs die Nähe des Volkes suchte und zusammen mit ihren drei Sportkameraden in eines der urwüchsigen Bergrestaurants ginge, von denen es einige in der Umgebung gab. Das waren Plätze, an denen