Peter Axel Knipp

Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht


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aber bleiben so verschieden wie ihre Fingerabdrücke.

      Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Leichtigkeit all diese Individuen zur Masse werden, wie sie sich zu einer Art Lemmingzug formieren, um über das Eis der Seen davonzuziehen. Sind ihren Gedanken und ihre Identität zweierlei? Nehmen sie die einen mit und lassen die anderen zurück? Stopfen sie am Start in den Kleidersack, den sie erst am Ziel wieder in Empfang nehmen? Oder ist es, weil sie eine Startnummer bekommen? Weil sie während des Laufs nur eine Nummer sind? Wir wollen uns hier nicht philosophisch über die Masse verbreiten, obwohl sie, im Gegensatz zum Sieger des Laufs, während der nächsten Stunden eine wesentliche Rolle spielt. Das Tun und Handeln einer Masse ist noch nie rationell erklärbar gewesen. Es lässt sich bestenfalls beschreiben. Und wenn wir uns darauf beschränken haben wir genug zu tun.

      Kehren wir zum Vorabend des Ereignisses zurück. Noch waren viele von denen, die am Vier-Seen-Lauf, an unserem Zug der Lemminge teilnahmen, weit vom Ort des Geschehens entfernt. Sie würden sich erst in den frühen Morgenstunden auf den Weg nach Madulan machen. Zogen es vor, in ihren eigenen Betten zu übernachten. Wollten kein Geld für fremde Lagerstätten ausgeben oder hatten ganz einfach keine mehr bekommen.

      Die meisten von ihnen, waren sie nun schon in der Nähe oder noch zu Hause, schliefen schlecht in dieser Nacht. Die fünfzig Kilometer beschäftigten sie seit Tagen. Debütanten fragten sich bis zur letzten Minute, ob sie einer solchen Herausforderung überhaupt gewachsen waren. Hatten sie im Sommertraining genügend für ihre Kondition getan? Für Kraft und Ausdauer? Hatten sie den zuende gehenden Winter, der im Unterland kaum Schnee gebracht hatte, optimal genutzt? Hatten sie genügend Dehn- und Beweglichkeitsübungen gemacht? Aduktoren, Rumpf, Rücken, Hüfte, all diese Muskeln im Bein? Beherrschten sie ihre Technik? War es nun das weit modernere, dem Schlittschuhlauf nicht unähnliche Skaten oder die alte Klassische Technik mit ihrem Diagonalschritt? Würden sie bei Richtungsänderungen, Aufstiegen und Abfahrten die richtigen Schrittkombinationen finden? Die richtige Körperhaltung einnehmen? Lag ihre Ausrüstung vollständig bereit? Hatten sie in ihrem Wachskoffer nichts vergessen? Für alle Fälle Paraffin dabei, wenn es mal gar nicht weitergehen sollte? Sollte man nicht doch lieber eine Stunde früher aufbrechen? Schon auf der Autobahn und bestimmt nach Madulan hinauf würde es Staus geben. Unvorstellbar, wenn man den Start verpasste, das Feld in der Ferne verschwinden sah, mit einer passablen Startnummer hinterher laufen musste. Ein Alptraum!

      Selbst alte Hasen, die schon zwanzig Mal oder öfter teilgenommen hatten, fanden keinen erholsamen Schlaf. Bei ihnen war es nicht die Sorge um Können und Ausrüstung, um Bewegungsabläufe oder den Inhalt von Wachsboxen, sondern die Euphorie, dass es wieder soweit war, das Ambiente des Laufs, das sie schon Tage vorher gefangen nahm und ihnen den Schlaf raubte. Wenn sie nur die Augen schlossen , sahen sie sich in diesem breiten Strom von Körpern treiben, hörten das Gleiten von tausenden von Skiern auf dem Schnee, spürten den tausendfachen Atem um sich herum, das Keuchen, Japsen, Hecheln, Schnauben. Mit geschlossenen Augen sahen sie den strahlend blauen Himmel über sich, denn das Wetter meinte es beim Vier-Seen-Lauf fast immer gut, sahen links und rechts des breiten Tals die nicht allzu steil ansteigenden Berge mit bräunlich winterlichen Lärchen und immergrünen Arvenwäldern, die sich hier und dort in Felsrippen in die Höhe schoben. Und sie waren stolz, ein winziger Punkt dieses grandiosen Bildes zu sein, das Bücher, Kalender und Postkarten zierte, von dem das Fernsehen in Sondersendungen berichtete, mit fliegenden, fahrenden und stehenden Kameras. Wenn man Glück hatte, sah einen das ganze Land, wie man im eleganten Schlittschuhschritt dahin stob, sofern man Platz hatte, oder wie man sich mit kräftigem Grätenschritt eine Steigung hinauf kämpfte. Und endlich das Ziel. Das Ziel! Was machte es schon, dass es wie eine Mautstelle auf der Autobahn aussah und man ein letztes Mal anstehen musste. Es war geschafft. Selig, erschöpft, weinend, lachend. Wie konnte man vor so einem Tag schlafen?

      Es würde wirklich ein ganz besonderer Tag werden. Doch das wusste in dieser Nacht noch niemand von ihnen.

      7

      OK Präsident Peters

      Selbst das Organisationskomitee wusste es nicht. Das Organisationskomitee des Vier-Seen-Laufs, kurz OK genannt, nicht zu verwechseln mit dem englischen o.k., oder dem OK, das neuerdings für Organisierte Kriminalität steht, dieses OK also hatte sein Hauptquartier erstmalig in der Mehrzweckhalle des neuen Sportzentrums von St.Montis aufgeschlagen. Die alten Räumlichkeiten im Verkehrsverein hatten ausgedient. Das neue Sportzentrum mit Eishalle, Curling-Bahnen, Indoor-Tennis, Schiessständen, Krafträumen und anderen Körperertüchtigungs-Lokalitäten lag am Ortsrand etwas oberhalb der Strasse, die das Tal durchläuft. Verkehrstechnisch gesehen ein idealer Platz. Durch die talseitige Glaswand der Mehrzweckhalle liessen sich das ganze Zielgelände und die letzten Kilometer der Loipe überblicken. Doch das OK fühlte sich in dem neuen Zentrum, mit dem die Gemeinde sich übrigens hoch verschuldet hatte, noch nicht so recht heimisch. Waren die Räumlichkeiten vorher zu eng gewesen, kam sich das OK jetzt wie von der Halle verschluckt vor. Denn das OK selbst war nur eine vergleichsweise kleine Schar von Dirigenten, die das Zusammenspiel eines riesigen Orchesters, bestehend aus über Tausend Funktionären und Helfern draussen an der Loipe sicherstellen musste. Anders gesehen: Beim OK liefen alle Fäden zusammen, und das sind bei einem solchen Grossereignis nicht wenige.

      Peters, Gründer des Vier-Seen-Laufs und seit viereinhalb Jahrzehnten unangefochtener Präsident des Organisationskomitees, mittlerweile in die Jahre gekommen, hatte in diesen Tagen zum ersten Mal von Rücktritt gesprochen. Er hatte ein Ziel erreicht, an das er schon nicht mehr geglaubt hatte: Die magische Teilnehmerzahl von dreizehntausend Läuferinnen und Läufern. Mehr, hatte eine umfassende Studie ergeben, durften und würden es an diesem Lauf nie sein. Genau dreizehntausendunddreizehn Meldungen waren eingegangen. Sie hatten bei Anmeldeschluss vor einigen Wochen darauf angestossen.

      „Dreizehntausend“, hatte er gesagt. Stellt euch das vor: drei – zehn – tausend.“

      „Eine Unglückszahl“, hatte jemand gesagt.

      Im Gegensatz zu Bronner hatte Peters NICHT geantwortet ‚es ist ein Unglück’, sondern hatte fast unter Tränen gesagt: „Dass ich das noch erleben durfte.“

      Der Zeitpunkt zum Rücktritt nach diesem Lauf war wirklich günstig. Er würde mit Ehrungen überhäuft werden. Vielleicht würde er sogar Ehrenbürger von St.Montis werden, Ehrenmitglied des nationalen Skiverbands des Internationalen, des..., was gab es sonst noch?

      Es gab noch einen anderen Grund, dieses Ehrenamt niederzulegen. Immer mehr übernahmen Computer die Organisation des Geschehens. Alle Auskünfte, die Peters brauchte, schienen nur noch auf Bildschirmen erhältlich zu sein. Für ihn, ein Mann des gesprochenen Worts, des Handschlags, des derben Scherzes, war das kalt und seelenlos. Eines Tages, sagte er sich, wird es den Lauf in dieser Form nicht mehr geben. Alle Teilnehmer haben einen Computer zu Hause und beginnen auf ein Startzeichen hin, ihren Lauf darauf zu simulieren. Wir sammeln hier in St.Montis nur noch die Daten. Theoretisch können wir den Lauf dann auch im Sommer durchführen. Auf jeden Fall brauchen wir keine Schneeräumung mehr, keinen Streckenunterhalt, keine Parkplätze, keine Kleidersäcke und was sonst noch. Und es können sogar zweihunderttausend Leute oder mehr teilnehmen.

      Doch zunächst einmal waren es die dreizehntausend, die ihn beschäftigten. Das waren noch einmal siebenhundert mehr als im Jahr zuvor. Schon das war ein Rekordjahr gewesen, und die Organisation war hier und da ins Schwimmen gekommen. In diesem Jahr würde es noch kritischer werden. Es standen ihm weniger freiwillige Helfer und Funktionäre zur Verfügung als bei den letzten Läufen. Viele der jüngeren Leute, die in der Gegend keine Dauerbeschäftigung mehr fanden, waren in die Städte im Unterland abgewandert. Sein grösstes Bedenken aber war der bevorstehende markante Wetterumschlag. Ausgerechnet jetzt, nachdem sie zehn Traumtage hintereinander gehabt hatten. Er stand ständig mit der meteorologischen Landesanstalt, die für die Region des Vier-Seen-Laufs einen speziellen Wettervorhersagedienst eingerichtet hatte, in Verbindung. Von Westen her näherte sich schnell eine Schlechtwetterfront. Bereits in den Bergen angekommen, liess sich ihre Aktivität nicht genau auf Punkt und Stunde voraussagen. Es wurde jedoch in der Frühe mit sehr tief hängenden Wolken gerechnet, die wie Nebelschwaden ins Tal gedrückt würden. Sie konnten zwischen fünf und zehn so dicht sein, dass beim vorgesehenen Start um neun mit Schwierigkeiten