Peter Axel Knipp

Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht


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der Freund nach fast einem halben Jahrhundert herausgefunden hatte, warum dieser Hund ihm bis ins Ziel gefolgt war. Georg war oft durch seltsame Ausrüstungsgegenstände aufgefallen.

      „Nur einmal hat es während eines Laufes geschneit“, sagte der Politiker. „Als wir die Frauen dabei hatten.“

      „Sie haben den Schnee angezogen“, meinte Ludwig. Erst dann fiel ihm ein, dass die Witwe ja auch von der Partie gewesen war, und er fügte hinzu: „Weil sie selbst so weich wie Schneeflocken sind.“

      Immer neue Vorfälle kamen ihnen in den Sinn, als habe ihr ganzes Leben nur aus Kuriosa rund um Volksläufe bestanden. Sie verstrickten sich in diese drittklassigen Erinnerungen, die plötzlich alles überstrahlten, konnten sich nicht losreissen von ihnen, von dem roten Wein und dem Rauch der Havannas, in dem die geduldige Witwe immer begehrenswerter wurde.

      Einzig Ludwig scherte ein paar Mal aus. Gerade er, der seinen Beruf als Bestattungsunternehmer immer sehr diskret behandelt hatte, sprach vom Tod, von Gräbern und Feuer, von Friedhöfen und Krematorien. Sie verstanden das nicht, wollten das nicht hören. Sie waren jung und stark wie damals, als all diese Dinge passiert waren, die sie über den Salontisch hinweg glorifizierten. Hätte die Witwe sie zu fortgeschrittener Stunde nicht daran erinnert, dass sie schon bald in die Loipe hinaus mussten, die fünfzig Kilometer ein letztes Mal als gestandene Männer bewältigen wollten, wären sie vielleicht in den tiefen Sesseln sitzen geblieben und hätten dem Heer der Volksläufer nicht einmal von der Terrasse aus ihre Referenz erwiesen.

      Das wäre sicher besser gewesen. Aber sie rafften sich nun auf, streckten die Glieder, dass es vielfach krachte, drückten nacheinander die Witwe an sich, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Es fiel ihnen schwer, sich aus ihrer herzlichen Nähe zu entfernen.

      Sie hatte ihnen versprochen, dem vorbeiziehenden Feld mit einem grellroten Tuch zuzuwinken. Doch keiner von ihnen sollte dieses Tuch je sehen.

      6

       Das Volk

       Und was machte das Volk, das dem Lauf seinen Namen gab? Diese gesichtslose Masse, die sich in ein paar Stunden durch das Tal wälzen würde? Dieses bunt gekleidete, mit Stöcken und Brettern bewaffnete Heer?

      Tausende der wackeren Kämpferinnen und Kämpfer, viele von ihnen mit Familien, Freunden oder Fans waren bereits in die ansonsten stille, verträumte Landschaft eingefallen. Wie gierige Heuschreckenschwärme frassen und tranken sie die Restaurants leer, bescherten dem Supermarkt in Madulan und zwei, drei anderen im Tal in wenigen Stunden Umsätze, die weit über einem Monatsdurchschnitt lagen, und legten kleinere Bars buchstäblich trocken. Nur wenige konnten es sich, wie Hilmar X. Bronner, leisten, mit Geliebten in Blauen Suiten zu nächtigen, nur wenige, wie Robert Kissinger, begnügten sich mit einem Massenlager. Die meisten hatte, oft Jahre im voraus, erschwingliche Hotelzimmer, Ferienwohnungen oder Privatunterkünfte gebucht. Die Vermieter stellten ihre letzten Schlafgelegenheiten zur Verfügung und verbrachten selbst die Nacht in der Badewanne oder zusammengekauert auf Stühlen hockend. Nach einer flauen Wintersaison war der Vier-Seen-Lauf die letzte Möglichkeit, die Finanzen ins Gleichgewicht zu bringen. Hotellerie, Gastronomie und ein paar Nebengewerbe, vertrauten darauf wie die Inder auf den Monsun. Was den Termin anbetraf waren die Inder im Nachteil, weil der Monsun nicht so zuverlässig kam wie der Vier-Seen-Lauf. Auch war ungewiss, was dieser an Geld und jener an Regen bringen würde. In Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs mussten gewisse Gewerbe trotz steigender Teilnehmerzahlen mit weniger Einnahmen rechnen. Allein die ständige Erhöhung des Startgelds liess den Leuten weniger Mittel für Nebenausgaben. In diesem Jahr jedoch schienen sie alle noch einmal auf den Putz hauen zu wollen, öffneten sich die Monsunwolken zu einem fruchtbaren Geldregen.

      Es gibt so viele Gründe an einem Volkslauf teilzunehmen, wie es Teilnehmerinnen und Teilnehmer gibt. So gesehen gibt es gar keine Masse. Nur eine Ansammlung von Individuen, die von einem Punkt aus alle einem anderen Punkt zustreben. Die bestenfalls einen Wunsch gemeinsam haben: Dort anzukommen. So wie sie aber alle verschiedene Fingerabdrücke haben, sind auch ihre Gedanken, mit denen sie an den Start gehen, die sie während des Laufs beschäftigen, und die ihnen auf der Ziellinie durch den Kopf schiessen, verschieden. Nicht eine oder einer von ihnen denkt dasselbe. Sie lassen sich allenfalls in ein paar grosse Gruppen mit einem Grundgedanken zusammenfassen.

      Die Harmlosesten und wahrscheinlich Redlichsten unter ihnen sind die, die einfach einmal mitmachen, aus reinem Vergnügen, gemischt mit ein wenig Neugier und Vorwitz. Sie wollen weder sich noch andere beeindrucken, betrachten den Rummel mit kindlichem Erstaunen, wirken etwas naiv und ahnungslos, suchen zutraulich das Gespräch mit jedem, nehmen während des Laufs sogar etwas von der Landschaft wahr und sind grundsätzlich bereit zu helfen, wenn jemand stürzt, kurzatmig wird oder Krämpfe bekommt. Sie laufen, sofern sie nicht überraschend talentiert sind, gewöhnlich im hinteren Drittel des Feldes. Es liegt ihnen nicht sich vorzudrängen, andere beiseite zu schieben, selbst wenn ihnen Kraft und Technik dazu gegeben sind. Ihre Persönlichkeit verändert sich im Sog des Feldes kaum, ist aber auch nicht stark genug, um irgendeinen Einfluss auf das Feld zu nehmen.

      In der nächsten Gruppe finden wir die, die zumindest sich selbst etwas beweisen wollen. Sie sind nicht mehr ganz so harmlos. Stark mit sich selbst beschäftigt, registrieren sie ihre Umgebung nur vage, erkennen aber stets die Grenzen zur Rücksichtslosigkeit und richten nur geringen Schaden an. Sie suchen nicht treuherzig den Zugang zu anderen, sind aber hilfsbereit, weil das Teil ihrer Philosophie ist. Die Gefahr, dass sich ihre Persönlichkeit im Sog des Feldes verändert, ist bereits etwas grösser. Es kann sein, dass sie aufgestachelt werden, sich selbst überschätzen, und dann werden sie unberechenbar.

      Eine weitere Spur gefährlicher sind die, die anderen etwas beweisen wollen. Sie lassen sich in Zweikämpfe mit sichtbaren oder imaginären Gegnern wie Uhren oder Platzierungen ein, zeigen ihrer Umgebung gegenüber wenig bis keine Nachsicht, freuen sich, so sie auf gute Plätze aus sind, über jede und jeden, der am Wegrand liegen bleibt, setzen sich ständig das Ziel, bestimmte Läufer vor sich zu überholen und triumphieren nicht selten mit einem hämischen Grinsen, wenn sie es geschafft haben. Sie sind in allen Teilen des Feldes zu finden, sogar in der Nachhut. Denn die Tatsache, dass sie anderen etwas beweisen wollen, beruht nicht immer auf einer angemessenen, sportlichen Qualifikation. Sie können im Sog des Feldes recht unangenehm werden, zum Beispiel wenn es ihnen nicht gelingt, anvisierte Nahziele wie die Frau mit dem dicken Hintern oder den gebrechlich wirkenden Alten vor sich zu überholen.

      Weit schlimmer als die, die wenigstens noch Beweise ins Feld führen, sind die Fanatiker, die Angefressenen, die Vergifteten. Sie kennen kein Pardon. Rabiat und kaltschnäutzig zerteilen sie das Getümmel, stossen unbarmherzig in die kleinsten Freiräume vor, bedrängen ihre Vorderleute durch hautnahes Auflaufen, wechseln rücksichtslos die Spur, schneiden Wege ab und setzen ihre Stöcke gelegentlich zu unsportlichen Manövern ein. Sie sind die Autofahrer der Volksläufe. Es ist schwer zu sagen, wie sie sich verhielten, wären sie allein in der Loipe. Vermutlich wären einige von ihnen die friedlichsten Menschen. Doch zu viele ihresgleichen um sie herum treiben sie an den Rand des Wahnsinns.

      Neben all diesen gibt es noch ein paar kleinere Gruppen. Die echten Sportler, die sich der Sache verschrieben haben und, sofern sie offiziell eingeladen werden, dem Geld, das es damit zu verdienen gibt. Ihr Laufstil ist professionell, ihre Ausrüstung optimal. Die meisten von ihnen tragen Etiketten von Sponsoren auf dem Stirnband, am Hosenrand oder auf den Ärmeln. Für Skier, Schuhe, Brille, Handschuhe, Unterwäsche und anderes besitzen sie Verträge. Das grosse Feld beachten sie kaum. Sie werden Elite genannt und verhalten sich den Amateuren gegenüber wohlwollend fair, was ihnen umso leichter fällt, als sie, gewöhnlich weit vor der Menge herlaufend, allen Platz der Welt haben und bereits im Ziel sind, wenn die letzten noch nicht einmal ihren Rhythmus gefunden haben. Vergessen wir diese Gruppe. Es gibt genügend andere, die sich um sie kümmert. Nicht zuletzt das Fernsehen. Denn der Sieger des Laufs kommt immer aus dieser Gruppe. Doch der Sieger spielt in dieser Geschichte überhaupt keine Rolle.

      Bleiben noch Renommisten, Spinner und Ausdauer-Freaks. Randgruppen, die in so einem Wettbewerb kaum verstanden werden, wenn sie auch nicht selten für eine gewisse Heiterkeit sorgen.

      Das ist eine sehr grobe Einteilung