(Basedowsche Erkrankung; Thyreotoxikose) ausgelöstes Koma und musste intensiv behandelt werden, um nicht daran zu sterben. Mir wurde sie vorgestellt, weil sie - offenkundig wegen seelischer Probleme - mit den Konsequenzen ihrer Erkrankung nicht zurecht kam und nach anfänglicher erfolgreicher Intensivbehandlung kaum mehr medikamentös einstellbar war, sobald ihre eigene Mitarbeit erforderlich wurde.
Abb. 2.5: Schilddrüsenüberfunktion (1996)
Aus der Familiengeschichte, die im Genogramm (vgl. Abb. 2.5) schematisch zur Darstellung kommt, geht hervor:
- dass ihr Vater im Alter von 53 Jahren an Pneumonie verstorben ist;
- dass der Großvater mütterlicherseits mit 29 Jahren gefallen ist;
- dass der Vater eine jüngere Schwester hatte, die nur zehn Tage alt geworden ist.
Alle diese früh Gestorbenen hatten aber nicht an Schilddrüsenüberfunktion gelitten. Überhaupt war in der Familie die Schilddrüsenerkrankung bislang nicht in Erscheinung getreten. Wenn ich hier die frühen Todesfälle erwähne, so möchte ich die Aufmerksamkeit wiederum auf eine Dynamik lenken, die allerdings hier erst auf Umwegen deutlicher werden kann.
Die Zahlen, die als Altersangaben, Geburts- und Sterbedaten im Stammbaum auftauchen, erscheinen zunächst ganz unauffällig. Setzen wir sie allerdings zueinander in Beziehung und nehmen dabei Bezug auf die schmerzlichsten Verluste, die es in den beiden Zweigen der Familie gegeben hat, so finden sich einige Merkwürdigkeiten. Es zeigt sich:
Der Großvater väterlicherseits. war 29 Jahre alt, als seine (zweite) Tochter starb. 29 Jahre war auch das Alter des Großvaters mütterlicherseits, als dieser starb. Das mag bereits seltsam erscheinen, lässt sich aber vielleicht noch als „zufälliges“ Zusammentreffen abtun.
Anders wird die Situation allerdings, wenn man erkennt, dass der Bruder der Patientin ebenfalls 29 Jahre alt war, als der Vater starb. Und nun scheint es vollkommen verrückt: Fragt man sich, was denn geschah, als die Pat. 29 Jahre alt war, so findet man, dass damals ihr Neffe, der Sohn des Bruders, geboren wurde. Und wenn man einen Schritt weiter geht und fragt, was denn geschehen ist, als sie so alt war wie ihr Bruder bei des Geburt des Neffen, dann gelangt man schließlich zu dem Punkt, weswegen ich überhaupt so weit ausgeholt habe: Das ist genau die Zeit, in der sie ins Koma fiel und ohne ärztliche Hilfe gestorben wäre..
Als die Patientin so alt war wie die schwangere Großmutter mütterlicherseits. beim Tod des Großvaters, trennte sich übrigens die schwangere Freundin vom Bruder: zwei Monate vor der Geburt des Neffen, d.h. ähnlich, nur merkwürdig umgekehrt im Vergleich zu der Situation der mit der Mutter schwangeren Großmutter.
2.5. Zwölf grundlegende Thesen zur Familienbiografik
Derartige Berechnungen von Altersrelationen und Stellvertretungen lassen sich beliebig in allen Familien weiter anstellen. Immer findet man gleichermaßen erstaunliche biografische Zusammenhänge zwischen den Generationen, die sämtlich zum Verständnis unbewusst wirkender Lebensbezüge herangezogen werden können. Auf den ersten Blick wirken sie allerdings schockierend. Denn sie erscheinen über weite Strecken wie eine monströse Aneinanderreihung von Bösem, von Übeln, Verlusten und Unheil. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, den Schiller in die Worte kleidete: „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, nur neues Unheil kann gebären.“ Oder man wird an Shakespeares Worte erinnert, die er Hamlet in den Mund legt: „Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode!“
Ich jedenfalls bin versucht, an die Erfahrungen Hiobs mit dem Unrecht und dem Bösen zu denken. Denn es drängt sich die Vermutung auf, dass die Patientin an Thyreotoxikose erkrankt, „weil“ ihr Vater gestorben ist, als ihr Bruder 29 Jahre alt war, und dass dies geschehen ist, „weil“ der Großvater väterlicherseits mit 29 Jahren eine Tochter verloren hat oder „weil“ die Großmutter mütterlicherseits als schwangere Frau mit 29 Jahren ihren Ehemann verloren hat. Unter dieser Vorstellung möchte man vielleicht, diesmal gewissermaßen als ein besserer Mensch im Vergleich zu den falschen Freunden Hiobs, mit der Patientin in eine nicht-enden-wollende Anklage gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals ausbrechen. Das aber ist gerade nicht die Absicht meiner Ausführungen. Ich verfolge vielmehr einen entgegen gesetzten Zweck: Ich will den grundlegenden Unterschied zwischen der blinden Verantwortlichkeit des Kindes einerseits und der wahrhaften Verantwortung des Erwachsenen in aller Schärfe heraus arbeiten, um die Aufgaben von uns Erwachsenen und die Aufgaben einer humanen Medizin zu verdeutlichen.
Meine Untersuchungen betreffen Familienbiografien nicht nur Kranke, sondern auch Gesunde Personen, unter den Kranken allerdings sowohl körperlich als auch seelisch Beeinträchtigte. Anfangs ist es für mich eine große Erschütterung gewesen, feststellen zu müssen, dass die auf den ersten Blick so grundsätzlich erscheinende Trennung zwischen körperlichen und seelischen Erkrankungen aus biografischer Sicht von untergeordneter Bedeutung ist. Die Problematiken waren sämtlich in ähnlicher Weise aufzuklären, auch wenn hier bereits Unterschiede zu erkennen sind, auf die ich aber an dieser Stelle nicht eingehen möchte. Dass sich bei der Behandlung gravierende Unterschiede ergeben, ist nicht erwähnenswert.
Aus diesen Erfahrungen ergeben sich allgemeingültige Einsichten in die Gesetzmäßigkeit der Bindungen zwischen Eltern und Kindern. Da es sich dabei um lehrbares Wissen handelt und da sich dies Wissen auf die Gesetzmäßigkeiten von Lebensläufen bezieht, da es also ein Wissen um Lebensgesetze ist, erscheint es angebracht, dafür einen eigenen Begriff zu entwickeln. Ich sehe mich hier in Einklang mit Ideen Viktor von Weizsäckers, der in seinem „Entwurf einer speziellen Krankheitslehre“ mit programmatischer Absicht den Begriff „Biografik“ prägte (1967, 241 ff). Da die Methode, mit deren Hilfe sich die biografischen Gesetze erkennen lassen, phänomenologisch ist, ziehe ich es vor, von „phänomenologischer Biografik“ zu sprechen. Diese ist mir nicht nur aus therapeutischer Arbeit erwachsen, sondern ich habe auch den Eindruck, dass sie die für therapeutische Zielsetzungen einzig geeignete ist. Jedenfalls hat mein Buch den Zweck, die therapeutische Bedeutung dieser phänomenologischen Biografik darzulegen. Ich werde sie nunmehr thesenhaft formulieren:
1. Für das Verständnis dessen, was im Leben eines Menschen an auf den ersten Blick Unverständlichem geschieht, ist nicht die Betrachtung seiner Kindheit entscheidend, sondern die Betrachtung seiner Kindschaft. Unter „Kindheit“ wird ja üblicherweise eine bestimmte, vorübergehende Lebensphase verstanden, in der ein Mensch noch nicht auf eigenen Füßen stehen kann, sondern die Voraussetzungen seiner Selbständigkeit noch erwerben muss und darum von seinen Eltern oder anderen Erwachsenen mehr oder weniger vollständig abhängig ist. Unter „Kindschaft“ aber ist die unabänderliche Tatsache zu verstehen, dass ein jeder Mensch, ob klein oder groß, das leibliche Kind seiner Eltern ist. Denn jeder Mensch entstammt der Verbindung seiner Eltern und verkörpert allein darum die Ziele der Liebe seiner Eltern. Das bedeutet: Es steht unmittelbar mit Leib und Leben ein für die Erfüllung der in der Paarbeziehung seiner Eltern leibhaftig eingegangenen Verbindlichkeiten. Das Kind hat den Eltern zu bieten, was die Eltern durch ihre Paarbindung anstreben, wozu sie einander unwissentlich benutzen bzw. durch Ehevertrag unwillentlich verpflichten. Der wesentliche Zweck des Kindes besteht darin, dass es das Leben, das die Eltern von den Großeltern erhalten haben, fortsetzt. Bei dieser Fortsetzung handelt sich aber nicht etwa um die Einlösung eines Blankoschecks auf das Leben schlechthin, sondern um die Einlösung von nicht ausgehandelten, primär wirksamen Bedingungen, die allesamt als Ausgleichsbewegungen im Dienst der Eltern bezeichnet werden können.
2. Dem der Kindschaft eines Menschen innewohnenden leibhaftigen Debet, der unverhandelbaren Verpflichtung, die mit der Tatsache seines Entstehens aus der innigsten Verbundenheit der Eltern gegeben ist, entspricht der Hauptaspekt seiner lebenslangen Abhängigkeit. Sie macht es ihm nämlich letztlich unmöglich, sich durch Leistung aus dem Bann der elterlichen Leibeigenschaft zu befreien. Es bleibt immer ein uneinlösbarer Rest seiner kindlichen „Schuld“ - darum uneinlösbar und nicht abgeltbar, weil er in der Vergangenheit hätte erfüllt werden müssen. Das Kind kommt jedoch als Funktionsträger des seinen Eltern Entgangenen, als Stellvertreter der seinen Eltern Vergangenen